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Hoffnung ist stärker als Verzweiflung
ОглавлениеMenschliche Beziehungen sind komplex, vor allem Beziehungen zwischen Kindern und Eltern. Mich macht es immer traurig, wenn ich höre, dass jemand in meinem Bekannten- oder Freundeskreis, aus welchem Grund auch immer, keinen Kontakt zu seinen Eltern hat. Mein Bruder und ich hatten zu unserer Mutter ein intensiveres Verhältnis als zu unserem Vater. Sie machte mit uns die Hausaufgaben, wenn wir nicht mehr weiterkamen, ging mit uns ins Schwimmbad und organisierte unsere Kindergeburtstage. All das trug ganz sicher auch zu der starken Bindung bei.
Bereits am nächsten Morgen wurde meine Mutter im städtischen Krankenhaus aufgenommen. Die Behandlung gegen die Leukämie musste sofort beginnen. Ich schickte ihr eine WhatsApp-Nachricht: Du hast schon so viele Kämpfe gewonnen. Ich dachte an die Scheidung von meinem Vater, an Probleme mit einigen Schülerinnen und Schülern in ihrem Beruf als Lehrerin und an viele andere Situationen, in denen sie sich nicht unterkriegen ließ. Sie lernte in den 70er-Jahren meinen Vater, einen italienischen Gastarbeiter, kennen und heiratete ihn. Eine binationale Ehe war damals alles andere als gewöhnlich – auch für ihre Familie, zumal ihr Bruder es gleich nachmachte: Er heiratete eine Italienerin, die aus demselben Ort kam wie mein Vater.
Ihre Antwort auf meine Nachricht kam nur wenige Minuten später: Danke, wird schon werden. – Sie war bereit zu kämpfen.
Diese Reaktion passte zu ihr, diese Entschlossenheit. Die hatte ich schon früh an ihr kennengelernt. Ich war vielleicht sieben, acht Jahre alt; mein Bruder und ich spielten in dem kleinen Dorf bei Wolfsburg mit den Nachbarkindern – Verstecken, Fangen … was man eben in den 80er-Jahren draußen in diesem Alter so gemacht hat. Stets beobachtet von einer alten Frau, die von morgens bis abends am Küchenfenster saß. Aus irgendeinem Grund gerieten wir Kinder untereinander in Streit. Da ging auf einmal das Küchenfenster auf und die alte Frau schrie: »Ihr Itaker, haut ab! Geht zu euch und lasst die anderen in Ruhe hier spielen, ihr Spaghettifresser.« Ich war wie erstarrt und überlegte noch kurz, ob für diese Bezeichnungen noch jemand anderes infrage käme, aber es gab keinen Zweifel – sie meinte uns. Es war das erste und bislang einzige Mal, dass ich in so offener Weise ausländerfeindliche Ressentiments gespürt hatte. Ich nahm meinen Bruder an die Hand und rannte schnell nach Hause. Dort erzählte ich meiner Mutter, was passiert war. Sie war offensichtlich genau so schockiert wie ich. Nun hätten sicherlich viele Mütter gesagt: Das hat die Frau bestimmt nicht so gemeint. Oder: Sicherlich hast du dich verhört! Oder noch schlimmer: Ihr habt bestimmt den Streit angezettelt und das kommt davon. Meine Mutter zog aber ihre Jacke an und sagte: »Ich kläre das!« Das fand ich schon damals sehr mutig von ihr. Nach einer halben Stunde war sie wieder da und schickte uns zu der alten Frau: »Sie will sich bei euch entschuldigen.« Sehr unwillig machte ich mich mit meinem Bruder auf dem Weg, klingelte bei der alten Dame und sie bat uns sehr aufrichtig um Entschuldigung und drückte uns dabei noch einen Geldschein und Schokolade in die Hand. Gelernt habe ich an diesem Nachmittag eins: Konflikte muss man offen und ehrlich klären – eine Lektion, die meine Mutter aber meist besser beherrschte als ich.