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Ungewohntes wird zur Routine

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Das eher vergleichsweise kleine Krankenhaus hatte einen großen Vorteil: Die Atmosphäre war – zumindest für einen Klinikalltag – relativ persönlich. Vor allem mit den Krankenschwestern und Krankenpflegern verstand sich meine Mutter gut. Als ein Krankenpfleger Geburtstag hatte, gratulierte sie ihm und erkundigte sich, ob seine Freundin ihm auch schon gratuliert habe. Als er zögerte, fragte sie: »Oder Ihr Freund?« Als er nickte, schob sie hinterher: »Hab ich mir gedacht … Mein Sohn hat auch einen Freund.« Von diesem Moment an hatte ich das Gefühl, dass er sich noch fürsorglicher um meine Mutter kümmerte. An einem Abend suchte er auf der Station ein weicheres Kopfkissen, damit sie besser einschlafen konnte. Als sie mir später beiläufig am Telefon erzählte, rührte mich das sehr. Doch es gab auch andere Situationen: Ein anderes Mal erzählte mir meine Mutter, dass eine noch sehr junge Krankenschwester zu ihr gesagt hatte: »Mit sechzig hat man doch sein Leben gelebt, da kann man doch mit schweren Krankheiten entspannter umgehen.« Ich überlegte kurz, mich über diese Äußerung zu beschweren, aber dann verwarf ich meinen Vorsatz wieder. Vermutlich hat sie das nicht so gemeint, dachte ich.

Wenn ich auf dem Weg von Hamburg nach Wolfsburg war, sah ich häufig aus dem Zugfenster und dachte dabei sehr über das Verhältnis zu meiner Mutter nach. Ich erinnerte mich, dass mich als Kind oder Jugendlicher die Mütter meiner Freunde häufig sehr beeindruckt hatten. Die waren oft schick angezogen, manchmal sogar etwas geschminkt, als ich zu Besuch kam, und manchmal fast schon übertrieben freundlich zu mir. Meine Mutter dagegen hatte, wenn ich Freunde zu Besuch hatte, wie sonst auch ihren bequemen Kapuzenpullover und ihre ausgewaschene Jeans an. Ihre Kommunikation beschränkte sich auf das Mindestmaß, das gerade noch angemessen war, um nicht als wortkarg zu gelten. Viele Jahre später merkte ich, dass dies auch damit zu tun hatte, dass sie sich nicht verstellen konnte und vielleicht auch nicht wollte – was ich übrigens auch nicht gut kann. Sie mochte im Fernsehen keine Galas, Veranstaltungen mit rotem Teppich oder Preisverleihungen sehen, sondern schaute stattdessen lieber die Sportschau.

Ich war vielleicht 16, 17 Jahre alt und mit ihr in ihrem VW Polo unterwegs, als sie für mich sehr unvermittelt sagte: »Übrigens, wenn du schwul sein solltest … ich habe damit kein Problem.« Das war Ende der 80er und Deutschland noch nicht so liberal wie heute. Entrüstet wies ich diese Vermutung von mir und schwärmte offensiv für Eva Herman, wenn wir zusammen vor dem Fernseher saßen und die Tagesschau sahen, obwohl ich das Gefühl hatte, dass meine Mutter mir das nicht abnahm.

Mit Anfang 20 zog ich nach Hamburg. Mir wurde langsam bewusst, dass meine Mutter mit ihrer Vermutung recht hatte. Der Kontakt zu ihr wurde loser, ich begann mich zu lösen. – Ein normaler und auch wichtiger Prozess, den auch ich durchlebte. Von meinen aufregenden Touren ins Hamburger Nachtleben erzählte ich ihr nur rudimentär. Ich verschwieg ihr auch einen spontanen Ausflug mitten in der Nacht in einem VW Bulli an die Ostsee: Am späten Abend kam ein Mann in den Klub, in dem ich mit meinen Freunden gerade war, und fragte uns, ob wir nicht Lust hätten, mit ihm auf eine Privatparty an der Ostsee zu fahren. Ich hatte weder diesen Mann je zuvor gesehen noch kannte ich den oder die Gastgeber. Meine Freunde und ich stiegen trotzdem in seinen Bulli und fuhren hin. Es sind diese selten unbeschwerten Momente der Jugend, in denen das Leben so unglaublich herrlich leicht ist, obwohl ich damals als Aushilfe in einer Bäckerei am Bahnhof Altona jobbte, ein echter Knochenjob, oder Ähnliches. Heute würde ich den Fahrer wahrscheinlich fragen, ob er schon etwas getrunken hatte, aber damals wäre mir so eine Frage nicht mal ansatzweise in den Sinn gekommen. Die Party war zwar sehr langweilig, aber an diesen spontanen Ausflug können wir uns alle noch heute erinnern. Mehr als 20 Jahr später, bei einem meiner Krankenhausbesuche, erzählte ich ihr nun endlich die Geschichte. »Zum Glück habe ich davon nichts gewusst«, sagte sie und lachte. Sie war alles andere als eine Helikopter-Mutter, trotzdem gab sie mir immer das Gefühl, dass es ihr wichtig war, dass es mir gut ging.

Dass ich mich für Medien interessierte, merkte meine Mutter schon sehr früh. Sie fuhr mit mir zum ZDF nach Mainz und auch zum NDR nach Hannover und Hamburg, damit ich mir dort die Studios anschauen konnte – das waren für mich damals unglaublich aufregende Erlebnisse. Mit 14 Jahren bekam ich einen Praktikumsplatz beim NDR in Hamburg, darum hatte ich mich selbst bemüht. Doch die Schule machte mir einen Strich durch die Rechnung: Hamburg war zu weit weg. Meine Mutter kämpfte bis zur Bezirksregierung, der Schulaufsichtsbehörde, um mir meinen Traum zu erfüllen, aber ohne Erfolg. 20 Jahre später bekam ich genau dort einen Job. Irgendwann, als meine Mutter mal zu Besuch in Hamburg war, fuhren wir gemeinsam zur Arbeit. An der Pforte verabschiedeten wir uns und sie winkte mir noch kurz hinterher. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, dass sie stolz darauf war, dass ich beruflich das mache, wovon ich schon als Kind immer geträumt hatte. Auch wenn diese Situation viele Jahre her ist, erinnere ich mich noch heute mit einem Lächeln daran, sehe meine Mutter beim Pförtner stehen, wie sie mir an einem traumhaften Sommertag kurz und natürlich sehr unauffällig hinterherwinkt, nachdem ich mich nach wenigen Schritten noch mal kurz umgedreht hatte.

Loslassen

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