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2.5 Die soziale Frage und der schweizerische Protestantismus

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Die Auseinandersetzung des schweizerischen Protestantismus67 mit der sozialen Frage ist vielschichtig und uneinheitlich.68 Die Gründe hierfür liegen in den oben dargelegten Kennzeichen der sozialen Frage in der Schweiz sowie der organisatorischen, theologischen und personellen Vielfalt des schweizerischen Protestantismus. Organisatorisch war dieser ein Konglomerat aus unterschiedlich organisierten Kantonalkirchen, Vereinen und kirchlichen Gruppierungen. Theologisch charakterisierte den schweizerischen Protestantismus nach der Mitte des 19. Jahrhunderts zusehends der Kampf um das sich entfaltende sogenannte Richtungswesen. Je nach theologischer Richtung entwickelte |33| sich so eine unterschiedliche Diskussion und Deutung der sozialen Frage. Personell prägten einige Persönlichkeiten und Institutionen die Auseinandersetzung des schweizerischen Protestantismus mit der sozialen Frage. Ein Beispiel ist der bereits erwähnte Glarner Pfarrer Becker, der sich unermüdlich mit der sozialen Frage beschäftigte und mit zahlreichen Publikationen versuchte, eine christliche Antwort auf die soziale Frage zu geben. Ob, und wenn ja inwiefern der schweizerische Protestantismus angesichts der sozialen Frage versagt habe, wird in der Forschung kontrovers diskutiert; Albert Hauser schreibt zum Forschungsstand: «Diese Meinung, das heisst die Auffassung, dass die Kirche nicht oder jedenfalls mit grosser Verspätung sich der sozialen Frage und Umwälzungen angenommen habe, ist noch heute weit verbreitet, und sie wird immer wieder verkündet, wenn es gilt, die wirkliche oder angebliche religiöse oder kirchliche Passivität der Arbeitermassen zu ergründen und zu erklären.»69 Verbreitet ist die kritische Einschätzung wie sie beispielsweise Christine Nöthiger-Strahm äussert: «Lange Zeit hatte die offizielle Kirche die gewaltigen Umbrüche im Sozial- und Wirtschaftsleben des 19. Jahrhunderts nicht wahrgenommen, sie lehnte es ab, zu anderen als den bisher üblichen, nämlich karitativen Massnahmen zu greifen, um die soziale und wirtschaftliche Not grosser Bevölkerungsteile zu mildern.»70 Nach meiner Einschätzung hat im schweizerischen Protestantismus zwar tatsächlich – wie im Folgenden ausgeführt wird – eine frühe und intensive Debatte um die soziale Frage stattgefunden. Doch – und da spricht Nöthiger-Strahm einen zentralen Schwachpunkt an – in der Debatte bestanden die favorisierten Ansätze tatsächlich vielfach lediglich in «karitativen Massnahmen» und an Stelle eines reflektierten sozialpolitischen Handelns war die sozialpatriarchale Haltung vorherrschend. Diese karitativen Massnahmen und die sozialpatriarchale Haltung sollten jedoch nicht unterschätzt werden, denn häufig bereiteten sie indirekt eine sozialpolitische Lösung der sozialen Probleme vor.

Für eine differenzierte Darstellung und Klärung der Debatte des schweizerischen Protestantismus über die soziale Frage wird im Folgenden die Auseinandersetzung in ihrer organisatorischen und theologischen Heterogenität dargestellt. Dazu wird der Umgang zentraler kirchlicher Institutionen mit der sozialen Frage nachgezeichnet und den vier sozialpolitischen Haltungen zugeordnet. Konkret wird diskutiert, wie sich die Zürcher Kirche, die schweizerische Predigergesellschaft und die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft mit der sozialen Frage auseinandersetzten und welche sozialpolitischen Haltungen sie einnahmen. Wie bereits angesprochen, beschäftigte sich der |34| schweizerische Protestantismus seit Mitte des 19. Jahrhunderts leidenschaftlich mit theologischen Richtungskämpfen. Um die sich anbahnende theologische Heterogenität in der Wahrnehmung und Deutung der sozialen Frage ebenfalls zu beleuchten, soll deshalb auch die Debatte um die soziale Frage in den verschiedenen theologischen Richtungen (Reformer, Vermittler und Bekenntnistreue) dargestellt werden, wobei auch hier wieder nach den propagierten sozialpolitischen Haltungen gefragt wird.

Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts

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