Читать книгу Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts - Marcel Köppli - Страница 33

2.7 Fazit

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Mit der sozialen Frage werden die mit der Herausbildung der Industriegesellschaft einhergehenden Bewältigungsstrategien und Krisendiagnosen bezeichnet. Die Kirchen waren durch die soziale Frage grösstenteils überfordert, auch wenn es beispielsweise gerade in der Inneren Mission vielfältige Ansätze gab, innovativ auf die soziale Frage zu reagieren. Sozialpolitisch ­lassen sich im Protestantismus vier verschiedene idealtypische Haltungen – Sozial­­patriarchalismus, Sozialdiakonie, Sozialkonservatismus und Sozialliberalismus – beobachten, wobei der Sozialpatriarchalismus die vorherrschende Haltung war. Die soziale Frage kam in der Schweiz aufgrund besonderer Voraussetzungen anders zum Ausdruck als in Deutschland. So verhinderten beispielsweise die dezentrale Industrialisierung und das früh demokratisierte Staatswesen die Bildung eines Massenproletariats.

Die Auseinandersetzung des schweizerischen Protestantismus mit der sozialen Frage verlief je nach Institution und theologischer Richtung unterschiedlich. Während die Zürcher Kirche mit ihrer sozialpatriarchalen Haltung die soziale Frage als Bedrohung empfand und lediglich den dürftigen Gottesdienstbesuch der Arbeiter bemängelte, versuchte die schweizerische Predigergesellschaft die soziale Frage theologisch zu beleuchten und engagierte sich auch in sozialkonservativer Weise, indem sie die Einführung eines Fabrikgesetzes auf eidgenössischer Ebene debattierte. Die SGG wiederum versuchte, die soziale Frage sozialstatistisch zu begreifen und diskutierte betriebliche und staatliche Wohlfahrtsbestrebungen, worin sich sowohl sozialpatriarchale, sozialkonservative wie auch sozialdiakonische Ansätze erkennen lassen. In |58| der SGG zeigt sich jedoch auch, dass seit den 1870er Jahren der sozialpolitische Konsens zunehmend erodierte und sich verschiedene, teilweise gegensätzliche sozialpolitische Haltungen zu etablieren begannen. Die theologischen Richtungen ihrerseits analysierten die soziale Frage wiederum anders. Die Reformer betrachteten diese primär als eine negative Begleiterscheinung der industriellen Revolution, die Vermittler als eine Konsequenz der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich und die Bekenntnistreuen als eine Folge der sittlich-moralischen Verrohung der Unternehmer und Arbeiter. Als Lösung plädierten die Reformer sozialkonservativ für staatliche Interventionen, während die Vermittler und die Bekenntnistreuen sozialpatriarchal eine Lösung durch betriebliche Wohlfahrtsbestrebungen der Unternehmer und Fleiss und Strebsamkeit der Arbeiter anstrebten. Stärker noch als die Vermittler betonten die Bekenntnistreuen, dass die soziale Frage letztlich nur durch göttliches Eingreifen gelöst werden könne. Eine Möglichkeit für dieses göttliche Eingreifen sahen sowohl die Vermittler wie auch die Bekenntnistreuen in patriarchalen, christlichen Unternehmern, welche die soziale Frage innerhalb ihres Betriebes, also patriarchal, im christlichen Geist mit betrieblicher Wohlfahrt lösten.

Ob, und wenn ja inwiefern, der schweizerische Protestantismus bezüglich der sozialen Frage versagt habe, ist in der Forschung umstritten.186 Es lassen sich zwei verschiedene Einschätzungen beobachten: Auf der einen Seite beklagen Autoren, meist religiös-sozialer Herkunft, die Entwicklung des sozialen Denkens habe den Kirchen abgerungen werden müssen, der schweizerische Protestantismus habe die soziale Frage zu wenig ernst genommen sowie deren Tragweite viel zu spät erkannt. Markus Mattmüller schreibt: «Die reformierten Christen der Schweiz haben sich, soviel man weiss, nur sehr langsam an die Bewältigung […] [der sozialen Frage] gemacht.»187 Auf der anderen, tendenziell eher konservativen Seite steht eine würdigende und apologetische Einschätzung der Leistungen des schweizerischen Protestantismus, wie sie beispielsweise von Albert Hauser formuliert wurde: «Kann man angesichts aller dieser Worte und namentlich auch Taten noch behaupten, unsere Kirche habe auf sozialem Gebiet versagt? Darf man weiterhin von einer ‹Schuld der Kirche› sprechen? Wäre es nicht richtig und der Wahrheit entsprechend, endlich einmal unmissverständlich zu sagen, dass die Vertreter der protestantischen Kirche zu denen gehörten, die, auf die Stimme des Evangeliums horchend, ausserordentlich früh, nämlich schon zu Beginn der industriellen Revolution, sich |59| der sozialen Frage annahmen?»188 Die Untersuchung der verschiedenen Quellen hat bestätigt, dass Mattmüller die Situation treffender beurteilt als Hauser. Tatsächlich ist es erstaunlich, mit welch apologetischem Interesse sich beispielsweise die Zürcher Kirche mit der sozialen Frage befasste und dabei nur die sozialpatriarchale Haltung propagierte und weder sozialdiakonische noch sozialkonservative Ideen diskutierte. Dennoch lassen sich in der schweizerischen Predigergesellschaft, bei den Reformern und vor allem in der SGG auch Ansätze erkennen, die deutlich über den Sozialpatriarchalismus hinausgehen.

Die folgenden Erkenntnisse dienen nun der weiteren Untersuchung der protestantischen, christlichen Unternehmer, insbesondere des SABBK: Erstens erhielten die christlichen Unternehmer am meisten Rückhalt von konservativer Seite, die aber auch die grössten Hoffnungen auf ihre sozialpatriarchalen Bestrebungen setzten. Zweitens wird die Erkenntnis festgehalten, dass sechs Mitglieder des SABBK bereits im Jahr 1868 miteinander in einer Kommission der SGG über die soziale Frage debattierten.

Im nächsten Kapitel soll nun aber vorerst danach gefragt werden, was unter einem christlichen Unternehmer verstanden werden kann und was für Forschung zu diesem Thema bereits existiert.

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Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts

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