Читать книгу Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts - Marcel Köppli - Страница 25

2.5.1 Zürcher Kirche

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Wie der Bundesstaat so war auch der Protestantismus föderalistisch organisiert und die einzelnen Kantonalkirchen deshalb nur lose miteinander verbunden. Auch das Verhältnis von Kirche und Staat war in den einzelnen Kantonen unterschiedlich ausgestaltet. Dies hatte zur Folge, dass in den verschiedenen Kantonalkirchen viele unterschiedliche Interpretationsmuster und Lösungsansätze zur sozialen Frage nebeneinander existierten. Aus diesem Grund kam es weder zu einer gesamtschweizerischen Polarisierung noch lassen sich einheitliche Konfliktlinien erkennen. So ergab sich auch keine schweizweite Front mit der Staatsmacht, den Unternehmern und den Kirchen auf der einen und den Arbeitern auf der anderen Seite. Beispielhaft soll nun im Folgenden anhand der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Zürich die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage auf der Grundlage von Synodeprotokollen analysiert werden.71 Die Zürcher Kirche bietet sich als Untersuchungsgegenstand an, weil ihre Beratungen in den Synodeprotokollen gut zugänglich sind und ausserdem bereits eine gründliche Untersuchung vorliegt.72 Zudem ist der Kanton Zürich besonders interessant, weil er aussergewöhnlich stark durch die wachsende Industrialisierung geprägt war und Zürcher Unternehmer bei der Industrialisierung der Schweiz eine zentrale Rolle spielten.73

Mitte des 19. Jahrhunderts liess sich in der Pfarrerschaft des Kantons Zürich eine erhöhte Sensibilität für die mit der sozialen Frage einhergehenden |35| Krisenphänomene beobachten. Zahlreiche Publikationen über den vermeintlich bedrohlichen sittlichen und religiösen Zustand geben davon Zeugnis. Im Januar 1848 thematisierte die Synode ein erstes Mal die um sich greifende Verarmung der Gesellschaft.74 Ein erstes Referat zum «Pauperismus»75 – wie damals die mit der sozialen Frage einhergehende Krisenphänomene genannt wurden – hielt der Zürcher Theologieprofessor Johann Peter Lange (1802–1884)76. Lange deutete den Pauperismus als eine Folge der Sünde, als eine zeichenhafte und prophetische Erscheinung, die, ebenso wie die Kometenerscheinungen, die Menschen zu «heilsam[er] Zucht des sündigen Lebens» rufe. Er forderte die Kirche zu einer intensiven Auseinandersetzung mit diesem Thema auf, denn die «Kirche ist zuvörderst ebenso stark verpflichtet, den Pauperismus zu studieren, als ihm abzuhelfen».77 Um dem Pauperismus «abzuhelfen», schlug Lange zehn Massnahmen vor. So machte er sich beispielsweise für eine Stärkung der Eigentumsrechte, die er bedroht fand, stark, schlug die Auswanderung grosser Bevölkerungsgruppen vor und verwies darauf, dass das Problem erst im Jenseits wirklich gelöst werde. Im Anschluss an Lange hielt Hans Rudolf Waser (1790–1878)78 von Bäretswil, der Dekan des Kapitels von Hinwil im Zürcher Oberland, das Korreferat. Er kritisierte seinen Vorredner scharf und betonte, dass es bei diesem Thema keinen Raum für wissenschaftlich abstrakte Studien gebe. Er propagierte dann aber denselben Lösungsansatz wie Lange. Nach Wasers Vorstellung sollte die Kirche den Feind namens Pauperismus durch einen steten Kampf eindämmen, denn «so – Hand in Hand – mit dem Hause, der Schule und dem Staate, und sie alle durchdringend mit dem Geiste von oben, dem Geiste des Christenthums, wirkt die Kirche dem Pauperismus entgegen».79 Zusätzlich zu diesem Kampf sollten die Geistlichen den Pauperismus durch ihr Vorbild eliminieren: «Wir, wir seien zunächst die Stadt, die auf dem Berge liegt [Mt 5,14], auf die jeder Vorübergehende freudig hinaufblicken darf; bei uns, in unseren Haushaltungen, |36| an uns selbst sollen sie Vorbilder finden jeder häuslichen, jeder bürgerlichen Tugend.»80 Mit der Rede von «wir» und «ihnen» machte Waser deutlich, dass die Kirche aus der Perspektive der Besitzenden und Privilegierten sprach. Dem Kommunismus und Sozialismus erteilte Waser eine entschiedene Absage. Im sozialpatriarchalen Sinn empfahl er zur Überwindung des Pauperismus Ehrlichkeit und Sparsamkeit des Arbeiters und väterliche Fürsorge des Arbeitgebers.

Um das Problem der Verarmung besser verstehen zu können und um «häusliche und bürgerliche Tugenden zu stärken»81, wurde 1852 eine «Synodalkommission für innere Mission» ins Leben gerufen, die anhand eines von den Pfarrern beantworteten Frageschemas die «Nothstände unseres Volks­lebens»82 in einem Bericht zusammenstellen sollte und dem Regierungsrat Empfehlungen zur Linderung der «Nothstände» vorzuschlagen hatte. Dieser Bericht der Synodalkommission beanspruchte für sich, einen differenzierten Umgang mit der durch die Fabrikarbeit ausgelösten sozialen Frage zu pflegen: «Wir müssen uns hüten das Fabrikwesen für an sich und absolut schädlich zu betrachten; auch ist es ein Material, aus dem der fromme und gute Mensch Gutes und der böse Böses sich bildet […].»83 Als Ursache der Notstände bezeichnete der Bericht aber schliesslich nicht mehr nur die Moral der Arbeiter,84 sondern auch die Fabrikarbeit als solche.85 Zur Lösung der sozialen Frage wurden die Unternehmer in sozialpatriarchaler Tradition in die Pflicht genommen: «Die Fabrikherren könnten auf die Arbeiter sehr wohltätig wirken, wenn sie nicht bloss ihre Arbeit oder den Gewinn, den sie ihnen bringt, sondern auch das sittliche Wohl ihrer Untergebenen ins Auge fassten.»86 Das |37| Fabrikwesen wurde in den Vorschlägen der Synodalkommission nicht grundsätzlich kritisiert und es wurden auch keine grundsätzlichen Veränderungen gefordert. Um die «Nothstände unseres Volkslebens» zu beseitigen, unterbreitete der Kirchenrat dem Regierungsrat lediglich Vorschläge, welche die Moral betrafen. Diese Vorschläge reichten von Verminderung der Wirtschaften über Verhinderung leichtsinniger Eheschliessungen bis zu strikterer Handhabung des Sonntagspolizeigesetzes.87 Zwei Jahre später wurde an der Synode wiederum die fehlende Frömmigkeit der Arbeiter bemängelt, die Industrialisierung jedoch nicht als Grund der sozialen Frage angesehen: «Daher verhalten sich die Armen, allerdings mit einzelnen rühmlichen Ausnahmen, passiv gegen die Kirche und besuchen den Gottesdienst selten oder nie, ausser wo sie etwa als Bewohner eines Armenhauses dazu angehalten werden.»88

Nach dieser ersten Auseinandersetzung der Synode mit der sozialen Frage wurde das Thema erst wieder 1868 aufgegriffen. Johann Ulrich Oschwald (1814–1886)89 trug eine Synodalproposition – eine Art Grundsatzrede vor der Synode – mit dem Titel «Das Christenthum und die soziale Frage» vor. Nach einem Schnelldurchgang durch die Weltgeschichte folgte ein sorgfältiges Abwägen der Vor- und Nachteile der «Grossindustrie». Die Nachteile der Industrialisierung, insbesondere diejenige des sozialen Ungleichgewichts, wollte Oschwald durch die drei Strategien Selbsthilfe, Staatshilfe und Mithilfe der Unternehmer lösen. Von den Unternehmern erhoffte er sich dabei am meisten, denn ein «grosser Theil dessen, was auf wirthschaftlichem Wege zur allmäligen Lösung des sozialen Problems zu thun ist, liegt sodann in den Händen der Arbeitgeber».90 Das anschliessende Korreferat hielt Heinrich Knus (1832–1897)91. Selbstkritisch ging er mit der Kirche ins Gericht und warnte vor einer Vereinnahmung der Kirche durch die Unternehmer: «Es herrscht bei den unteren Klassen der Verdacht, dass die Kirche in stillschweigendem Einverständnis mit der Klasse der Besitzenden das Werkzeug sei, die Massen zu zügeln, in Gehorsam, Botmässigkeit und Unterthänigkeit zu erhalten. Wenn wir als Diener der Kirche keineswegs gewillt sind, dieser Anschauung Vorschub zu leisten, im Gegentheil einmüthig und energisch dagegen protestieren, so dürfen wir nicht vergessen, dass bei der besitzenden Klasse die Neigung |38| vorhanden ist, der Kirche diese wenig beneidenswerthe Stellung eines Zuchtmeisters und Bändigers der Masse anzuweisen.»92 Die umsichtige Warnung Knus’ diskutierte die Synode jedoch nicht weiter.

1874 wurde Oschwalds Synodalproposition von einer gewissen Haager Gesellschaft zur Vertheidigung der christlichen Religion93 als gelungene apologetische Preisschrift gekrönt und erneut publiziert.94 Im Vergleich zu seinem Vortrag vor der Zürcher Synode verstärkte Oschwald in dieser überarbeiteten Schrift die zentrale Bedeutung der Unternehmer und verwies zustimmend auf die in der Zwischenzeit erfolgten Bestrebungen der Bonner Konferenz. Oschwald führte zwar nicht konkret aus, worin die Anstrengungen der Unternehmer bestehen sollten, betonte aber an verschiedenen Stellen, was «der Grund und Boden» sei, auf dem das soziale Ungleichgewicht ins Lot gebracht werden könne: «Es ist kein anderes als die wahrhaft universelle, welterlösende Macht des Christenthums.»95 Der Antistes (Vorsteher) der Zürcher Kirche Diethelm Georg Finsler (1819–1899)96, empfahl Oschwalds gekrönte Synodalproposition zur Lektüre und illustrierte die Qualität der Schrift damit, dass ein Industrieller gleich 30 Exemplare bestellt habe, um sie zu verteilen.97 Finsler brachte also die Solidarität der Zürcher Pfarrerschaft mit den Unternehmern zum Ausdruck und sprach ihnen bei der Lösung der sozialen Frage eine zentrale Rolle zu: «Ganz besonders begrüssen wir es, wenn die Arbeitgeber selber mit freiwilligen Leistungen vorgehen […].»98 Eine staatliche Intervention zur Lösung der sozialen Frage wurde in der Zürcher Kirche nicht diskutiert.

Während also die Zürcher Kirche anfänglich die soziale Frage lediglich moralisch als eine Folge der Sünde deutete,99 sah sie diese mit der Zeit zusehends als eine Folge der Industrialisierung. Sie sträubte sich hartnäckig gegen jegliche Vorstösse mit kommunistischem und sozialistischem Gedankengut |39| und propagierte eine sozialpatriarchale Lösung durch die moralisch-sittliche Erneuerung der Arbeiter sowie eine vermehrte Fürsorge durch die Unternehmer. Eine Sozialpolitik wurde jedoch nicht entwickelt. Zu Recht notiert Robert Barth kritisch, die Zürcher Kirche habe «weder ein eigentliches Sozialprogramm noch eine grundsätzliche Definition der kirchlichen Aufgaben in der industrialisierten Umwelt erlassen»100. Die Unternehmer – und nicht die Arbeiter! – wurden im Kampf um eine Lösung der sozialen Frage ganz selbstverständlich als Verbündete angesehen.101 Eine sozialpolitische Lösung, beispielsweise mittels eines Fabrikgesetzes, wurde im untersuchten Zeitraum in der Zürcher Kirche nicht besprochen, obwohl man damals in Zürich über ein kantonales Fabrikgesetz debattierte. Vielmehr macht es den Anschein, dass die Pfarrer jener Zeit mehr über das Fernbleiben der Arbeiter vom Sonntagsgottesdienst besorgt waren als über deren teilweise katastrophalen Arbeitsbedingungen in den Fabriken. Es muss deshalb der Schluss gezogen werden, dass sich die Zürcher Kirche nur aufgrund eines apologetischen Interesses um die soziale Frage kümmerte und erst dort ihre Stimme kritisch erhob, wo sie ihre eigene Existenz durch die Folgen der sozialen Frage bedroht sah. In Jähnichens Typologie kann das Verhalten der Zürcher Kirche lediglich der sozialpatriarchalen Haltung zugeordnet werden, auch sozialdiakonische Ansätze sind nicht zu beobachten.

Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts

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