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3.1 Was ist ein «christlicher Unternehmer»?

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Der Titel dieser Untersuchung verspricht eine Erforschung «protestantischer Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts». Die Bezeichnung «protestantisch» hat ihren Grund darin, dass alle Unternehmer des SABBK – einzige Ausnahme ist der christkatholische Carl Franz Bally (1821–1899) – formal einer protestantischen Kirche der Schweiz angehörten. Ein zentrales Anliegen der vorliegenden Arbeit besteht nun darin zu zeigen, inwiefern diese protestantischen Unternehmer auch «christliche Unternehmer» waren.

Die vorliegende Untersuchung fokussiert also auf protestantische – und somit christliche – Unternehmer des 19. Jahrhunderts in der Schweiz. Dabei soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass es auch gegenwärtig in Deutschland |62| und der Schweiz Unternehmer gibt, die sich als «getaufte Christen und Glieder der Kirche […] in der Verantwortung für die Gesellschaft [sehen], in der sie leben und arbeiten. Sie engagieren sich in und für ihre Kirche und beteiligen sich am Dialog zwischen Kirche und Wirtschaft».189 Viele dieser Unternehmer haben sich in verschiedenen Organisationen zusammengeschlossen, beispielsweise im Arbeitskreis Evangelischer Unternehmer (AEM) oder im Bund Katholischer Unternehmer (BKU). Gerade in jüngster Vergangenheit lässt sich im Umkreis dieser Organisationen auch eine intensivierte Auseinandersetzung mit der Frage nach der Verantwortung des Unternehmers/der Unternehmerin für die Gesellschaft beobachten.190

Welche Definitionsversuche für «christliche Unternehmer» des 19. Jahrhunderts gibt es? In Monographien über «christliche Unternehmer» sind nur vereinzelte Versuche zu finden, diesen Begriff zu definieren.191 Lediglich ­Chris­toph Mehl hat in seiner Untersuchung zum christlichen Unternehmer |63| Ernest Mehl (1836–1912) versucht, den Begriff näher zu bestimmen: Christliche Unternehmer sind «diejenigen Einzelpersonen […], die im industriellen Kontext […] in verantwortungsvoller Führungsposition tätig waren […] und gesellschaftlich relevante soziale Leistungen in ihrem Beruf auf dem Hintergrund einer ausgeprägten christlichen Motivation vollbrachten. Diese Gruppe ist keine einheitliche Grösse, sondern umfasst im Einzelnen sehr unterschiedliche Biographien, wobei beim gegenwärtigen Forschungsstand angenommen werden kann, dass diesen Personen eine protestantisch geprägte patriarchale Grundhaltung gemeinsam war […].»192 Von dieser Definition soll im Folgenden ausgegangen werden, wobei die einzelnen Bestandteile der Mehlschen Definition diskutiert, wenn nötig präzisiert und um einige wesentliche Aspekte ergänzt werden sollen.193 Mehl versteht unter einem christlichen Unternehmer eine «Einzelperson», die wesentliche «soziale Leistungen» vollbracht hat. Eine genauere Betrachtung zeigt aber in vielen Fällen, dass im Konzept des christlichen Unternehmers nicht von einer «Einzelperson» ausgegangen werden kann, sondern beispielsweise erst durch die engagierte Zusammenarbeit eines Ehepaars, einer Familie oder einer klösterlichen Gemeinschaft das Konzept eines christlichen Unternehmers realisiert werden konnte. Mehls Definition muss also dahingehend ergänzt werden, dass das Konzept des christlichen Unternehmers nicht bloss aus einer «Einzelperson» besteht, sondern meist andere Personen mit einschliesst. Gerade der von Mehl als «soziale Leistungen» bezeichnete Aspekt wurde vielfach von der Ehefrau des Unternehmers geleistet.194 Die in Mehls Definition genannte «patriarchale Grundhaltung» der christlichen Unternehmer realisiert sich also meist erst durch die Zusammenarbeit eines Ehepaars und kaum durch eine «Einzelperson» allein.

Ein weiterer zentraler, aber ergänzungsbedürftiger Aspekt in Mehls Definition ist die Aussage, dass christliche Unternehmer «gesellschaftlich relevante |64| soziale Leistungen in ihrem Beruf» erbrächten. Mehl führt zwar nicht aus, was er unter dem Begriff «Beruf» versteht, aus dem weiteren Zusammenhang kann aber geschlossen werden, dass er «Beruf» im Sinne der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in einem Betrieb oder einem Unternehmen auffasst. Dadurch wird aber der Wirkungsbereich eines christlichen Unternehmers unnötig auf die betriebliche Sozialpolitik reduziert. Das Engagement für eine betriebliche Sozialpolitik ist offensichtlich und unbestritten ein wesentlicher Aspekt eines christlichen Unternehmers, jedoch keineswegs der einzige. Es gibt viele Beispiele christlicher Unternehmer, zu deren Selbstverständnis es gehörte, sich nicht nur in ihrem eigenen Betrieb, sondern ebenso in Kirche, Politik und Gesellschaft zu engagieren.195

Mehl schreibt des Weiteren, dass ein christlicher Unternehmer «soziale Leistungen […] auf dem Hintergrund einer ausgeprägten christlichen Motivation» vollbringe. Der Aspekt einer «ausgeprägten christlichen Motivation» ist zweifellos eine naheliegende Möglichkeit, um einen christlichen Unternehmer zu definieren. Wie nun aber diese «ausgeprägte christliche Motivation» im Einzelfall beobachtet werden kann, und worin sie konkret besteht, bleibt in vielen Fällen eine offene Frage.196 Auf jeden Fall ist es eine unzulässige Verkürzung, |65| von einer «ausgeprägten» christlichen Motivation auszugehen. Die christlichen Kirchen und Traditionen waren im 19. Jahrhundert ein prägender Rahmen der von niemandem ignoriert werden konnte. Insofern kann jeder Unternehmer, der in jener Zeit gelebt hat – selbstverständlich mit Ausnahme Angehöriger anderer Religionen –, in irgendeiner Weise als christlicher Unternehmer angesehen werden. Deshalb ist es nicht unproblematisch, wenn nur derjenige als christlicher Unternehmer angesehen wird, der sich selbst auch als solcher verstand und bei dem eine «ausgeprägte» christliche Motivation explizit beobachtbar ist. Infolgedessen möchte auch ich nicht (einschränkend) definieren, wie das «christlich» zu verstehen ist. Dennoch werden in der vorliegenden Arbeit vornehmlich Unternehmer dargestellt, die versucht haben, das – wie auch immer verstandene – Christentum mit ihrer Rolle als Unternehmer in Beziehung zu setzen. Dass diese Beziehung sehr unterschiedlich gesehen und ausgestaltet wurde, soll die vorliegende Arbeit zeigen.

Mehl diskutiert in seiner Definition des christlichen Unternehmers den Begriff «Unternehmer» nicht. Aus diesem Grund wird dies im Folgenden für diese sehr vielfältige Bezeichnung ergänzend nachgeholt.197 Hierzu dient die hilfreiche Definition im «Lexikon der Wirtschaftsethik»; Franz Blome-Drees schreibt dort: «Mit dem Begriff ‹Unternehmer› werden Menschen bezeichnet, die sich durch bestimmte Eigenschaften auszeichnen. Sie reagieren nicht nur auf gegebene Verhältnisse, sondern ergreifen aktiv die Initiative. Sie zeichnen sich durch ihre Entscheidungskraft, kreative Aktivität und Leistungsmotivation aus, und sie sind bereit, in einer Welt voller Unsicherheit für sich und andere Risiken zu gestalten und zu übernehmen.»198 Im Zentrum dieser Definition steht also die Risikoübernahme des Unternehmers.199 Dabei wird davon ausgegangen, dass der Unternehmer auch zugleich der Eigentümer des Unternehmens |66| ist, was auch mit dem Ausdruck «Eigentümer-Unternehmer»200 bezeichnet wird. Selbstverständlich ist jedoch auch eine «Differenzierung in Unternehmer und Kapitalgeber»201 möglich. Interessant ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass die hier untersuchten Unternehmer für ihre patriarchal geprägte Lösung der sozialen Frage immer die Situation eines Eigentümer-Unternehmers voraussetzten.202

Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts

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