Читать книгу Psychische Störungen bei Säuglingen und Kleinkindern - Margarete Bolten - Страница 40
2.2 Verlauf und Folgen des Exzessiven Schreiens
ОглавлениеHemmi, Wolke und Schneider (2011) zeigten in einer Metaanalyse, dass Kinder mit persistierenden Schrei-, Schlaf- oder Fütterproblemen in der Kindheit häufiger Verhaltensprobleme haben. Die Metaanalyse stützt sich auf 22 Studien, die zwischen 1987 und 2006 durchgeführt wurden und bezog insgesamt ca. 17 000 Kinder in die Analyse ein. Die Autoren kommen zum Schluss, dass Babys mit Schrei-, Schlaf- oder Essproblemen, welche über die ersten drei Lebensmonate hinweg andauerten, ein deutlich höheres Risiko für spätere Verhaltensstörungen wie aggressives und destruktives Verhalten sowie Aufmerksamkeitsdefizite haben. Das Risiko war umso höher, je mehr Bereiche der Verhaltensregulation (Schreien, Schlafen, Füttern) betroffen waren. In einer prospektiven Studie mit 64 Säuglingen, die an exzessivem Schreien über den dritten Monat hinaus litten, entwickelten in den folgenden 8 Jahren 18,9 % starke und 45,3 % mäßige Hyperaktivitätssymptome mit sozialen Verhaltensstörungen (Wolke, Rizzo, & Woods, 2002). Die Eltern berichteten weiterhin, dass die persistierend schreienden Kinder in ihrer Emotionalität negativer, schwieriger und weniger anpassungsfähig waren. Auffallend sind auch die Parallelen zwischen der Möglichkeit, Kinder mit Regulationsstörungen durch Hyperstimulation zu beruhigen und der klinischen Beobachtung, dass ADHS Kinder oft stundenlang konzentriert am Computer spielen können, ohne dass sie als überstimuliert auffallen. Ob eine Kausalität besteht und wie sie sich entwickelt, bleibt jedoch unklar. Es kann aber angenommen werden, dass die Impuls-, Emotions- und Verhaltenskontrolle, welche eine zentrale Stellung bei den verschiedenen Störungen einnimmt, zu einem erheblichen Anteil durch die selbstregulatorischen Kompetenzen bestimmt wird. (Wolke, Schmid, Schreier, & Meyer, 2009) fanden außerdem, dass vermehrtes Schreien mit leichten kognitiven Entwicklungsdefiziten, erfasst mit der Columbia Mental Maturity Scale (CMMS), im Alter von 56 Monaten assoziiert waren. Diese Zusammenhänge waren besonders ausgeprägt, wenn mehrere regulative Bereiche (Schreien, Schlafen, Essen) betroffen waren. Dabei wurde sowohl das Ausmaß des Schreiens als auch die kognitive Leistungsfähigkeit durch die Gestationslänge, neonatale neurologische Komplikationen, beeinträchtige Eltern-Kind-Beziehungen und psychosoziale Probleme beeinflusst.
Dysregulierte kindliche Verhaltenszustände können auf Seiten der Eltern zu Erschöpfung, Schlafdeprivation, Ohnmachtsgefühlen und Versagensängsten führen. Auch Wut, Ablehnung, Selbstvorwürfe oder ängstliche Überfürsorglichkeit können die Folge sein. So fanden Vik et al. (2009) bei Müttern, deren Säuglinge im Alter von 2 Monaten exzessiv schrien nach weiteren 4 Monaten deutlich erhöhte mütterliche Depressionswerte. Chronische Unruhe und unstillbares Schreien wirken sich negativ auf die Beziehungsgestaltung zum Kind aus und gehen zunehmend auf Kosten entspannter Interaktionen zwischen Eltern und Säugling (Goodlin-Jones & Anders, 2001; Newnham, Milgrom, & Skouteris, 2009; Raiha, Lehtonen, Huhtala, Saleva, & Korvenranta, 2002). Belastungsfaktoren für die Eltern-Kind-Beziehung sind besonders dann kritisch, wenn infolge der überwiegenden negativen Interaktionen mit dem unstillbar schreienden Säugling und der erlebten Hilflosigkeit durch die Eltern, die intuitive elterliche Kompetenz beeinträchtigt wird und damit das Handeln der Eltern nicht mehr auf die kindlichen Bedürfnisse abgestimmt ist. Dies wiederum hat zur Folge, dass der Säugling zunehmend weniger ko-regulatorische Unterstützung durch seine Eltern erfährt. Es sind wiederholt dysfunktionale Interaktionen zwischen Eltern und Kind zu beobachten, die von einer hohen negativen Gegenseitigkeit geprägt sind, was wiederum zu einer tiefgreifenden Ablehnung, Vernachlässigung oder sogar Misshandlung des Kindes (»Shaken-Baby-Syndrome«) führen kann (Barr, Paterson, MacMartin, Lehtonen, & Young, 2005; Talvik, Alexander, & Talvik, 2008). Je länger eine solche dysfunktionale Wechselseitigkeit aufrechterhalten wird, umso mehr können sich bestimmte Interaktionsmuster verselbstständigen, rigide werden und die Entwicklung langfristig gefährden. Unstillbares Schreien und die daraus resultierende chronische Stressbelastung, kann sich aber auch negativ auf die Partnerschaft auswirken und damit Beziehungskonflikte hervorrufen (Meijer & van den Wittenboer, 2007; Papousek & von Hofacker, 1998; Wake et al., 2006).
Eine der gravierendsten bzw. für die Gesundheit des Kindes gefährlichsten Folgen des exzessiven Schreiens, ist das sogenannte Schütteltrauma (»Shaken-Baby-Syndrom«). Besonders Kinder, deren Eltern psychisch stark belastet sind oder Zwillinge sind, haben ein erhöhtes Risiko, geschüttelt zu werden (Talvik et al., 2008).