Читать книгу Apostasie - Marie Albes - Страница 18
Gentile
ОглавлениеDie Familie Gentile war nicht besonders freundlich in ihrem Verhalten oder zumindest waren es nicht alle Familienmitglieder.
Die Ehefrau Carla neigte dazu, sich der Arroganz des Ehemanns zu fügen. Dies hielt sie nicht davon ab, dieses und jenes zu kritisieren, einen Beinamen für ihn zu finden oder den Überschwang der Tochter zu verurteilen.
„ Elena, das solltest du nicht tun!“, schimpfte sie mit einer Ohrfeige, die als Kind einen Käfig mit Schnecken öffnete, um ihnen ihre Freiheit zurück zu geben.“
„ Elena, das Kleid ist viel zu kurz!“, schalt sie als Elena mit dreizehn Jahren ein knielanges Kleid getragen hatte, das Michele ihr auf dem Dorffest gekauft hatte.
„ Elena? Was? Hast du dich geschminkt?“, donnerte sie empört an Elenas 15. Geburtstag als diese sich zum ersten Mal Lippenstift aufgetragen hatte. Dann war sie ins Zimmer des Mädchens gelaufen und suchte aufgebracht nach dem Instrument der Sünde, um es sofort wegzuschmeißen.
„ Ich bin nicht die Mutter einer Hure!“, herrschte sie Elena verachtend an. „Wehe dir, wenn du dich noch einmal in dieser Art zeigst!“
Elena war in Tränen aus dem Haus gerannt und versteckte sich in der nahen Scheune.
Sie hatte keine Lust mehr, zu feiern oder an diesem Abend ins Kino zu gehen, um vorzutäuschen, in einer glücklichen Familie zu leben. Sie wollte daheim bleiben und weinen.
„ Elena?“, hörte sie nach einer guten halben Stunde fragen. „Elena, bist du hier?“
Elena antwortete nicht, aber Michele hörte das Schluchzen aus einer Ecke, somit ging er wortlos zu ihr. Dann streichelte er den Kopf seiner Schwester, kniete sich vor sie und hob sanft ihr Gesicht.
„ Ein hübsches Mädchen wie du sollte an seinem 15. Geburtstag nicht hier hocken und alleine weinen.“
„ Mama ... „
„ Ich weiß alles“, unterbrach ihr Bruder sie und streichelte ihr das Haar. „Aber heute ist dein Geburtstag und ich werde dich nicht wegen dieser blöden Menschen hier weinen lassen.“
„ Meinst du, dass Mama ... „
„ Oh, das tue ich. Sie ist blöd. Auch wenn sie unsere Mutter ist, heißt das nicht, dass sie ohne Fehler ist. Mach schon, steh auf!“, forderte er sie auf und half ihr sich aufzurichten. „Geh schnell dein verweintes Gesicht waschen: Du und ich haben einen Geburtstag zu feiern.“
„ Ich weiß nicht, ob sie mich ausgehen lassen ... „
„ Ich habe mit ihnen gesprochen, mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung.“
Ein weiteres Mal hatte Michele ein Lächeln auf die Lippen seiner Schwester gezaubert, die sich bei ihm geschützt fühlte wie bei niemand anderem auf der Welt.
An diesem Abend gingen die beiden alleine in das alte Dorfkino und aßen später ein Eis. Michele kaufte ihr erneut einen Lippenstift, den gleichen, den ihre Mutter weggeworfen hatte.
„ Aber denk daran“, gab er zu Bedenken und gab ihr die Papiertüte mit dem kleinen Geschenk, „Mama darf nichts davon wissen.“
„ Verleitest du mich zum Verstoß von Mamas Vorschriften?“, kommentierte Elena kichernd.
„ Ich? Sehr unwahrscheinlich!“
„ Das ist wahr, du bist eine alte Bibliotheks- und Kirchenmaus.“
„ Hey Lena, kritisiere nicht meine sozialen Dienste oder ich nehme den Lippenstift zurück.“
„ Willst du diesen dann auch auftragen?“ Elena lachte als sie sich ihren Bruder mit rotem Lippenstift vorstellte. „Ich kritisiere unsere Eltern nicht, sondern bewundere sie. Aber das befreit dich nicht von dem Titel Bibliotheks- und Kirchenratte!“
„ Du bist unverbesserlich.“
Seit jenem Abend nahm sich Elena Gentile vor, dass sie nie wieder wegen böser Worte von ihrer Mutter weinen werde. Sie hatte beschlossen, eine bessere und stärkere Frau zu werden. Sie nahm sich vor, ihrem Bruder zu helfen, wenn er Hilfe benötigte, genau wie er es für sie tat.
Zurück zu Ernesto Gentile, dem Familienvater: Der gesamte Ort wusste, was hinter den Mauern des Hauses geschah und über überhebliches Verhalten hinausging. Niemand hatte gewagt, etwas zu sagen, weil ‚es-sie-nichts-anging‘.
Dennoch wuchsen die beiden Kinder gut auf und vor allem mit mehr guten Eigenschaften als Carla und Ernesto zusammen hergaben.
Michele Gentile war das, was jeder einen „Engelsjungen“ nannte: Er war ein zurückhaltender Typ. Meistens trug er ein Buch unter dem Arm und eine Lesebrille auf dem Kopf, um sie griffbereit zu haben, wenn er sie benötigte. In der Tat verbrachte er mehrere Stunden damit, in schweren Bänden zu blättern.
Er war zwei Frühjahre älter als seine Schwester und war bereits im Alter von zehn Jahren in der Kirchengemeinde aktiv. Den Rest seiner Freizeit verbrachte er damit, um Hilfsbedürftigen zu helfen. Er war überzeugt davon, dass es eine Pflicht war, Menschen, die weniger Glück hatten als er, zu helfen.
Elena Gentile war hingegen ein Schmetterling.
Trotz der nächtlichen Ausgänge mit ihrem Bruder als sie 16 und er 18 war, hatte sie noch nicht die Liebe getroffen, die ihr Leben verwandelte. Ihr Aussehen glich weniger einem Kokon, sondern eher einem Schmetterling mit bunten Flügeln.
Elena war selbstbewusst, ohne überheblich zu sein, wie es ihr Vater war. Sie war herzensgut zu ihrem Nächsten, ließ sich aber von niemandem einschüchtern. Vor allem war sie ein kleiner Stern, der vor Leben und Lebensfreude strahlte.
Wenn Michele und Elena gemeinsam durch die Straßen des Dorfes spazierten, grüßten die Leute gerne und waren von ihnen beeindruckt, nicht nur von ihrem Aussehen, sondern von ihrem Gemüt. Sie fragten sich, wie sie die Kinder von Carla und Ernesto sein konnten, derart unterschieden sie sich von ihnen. Wahrscheinlich, wenn es nicht aufgrund der Gesichtszüge gewesen wäre, die sie mit den Eltern teilten, hätten die Menschen gedacht, dass die zwei Seelen adoptiert seien.
Auf jeden Fall macht Minus und Minus Plus und es lässt sich zumindest mathematisch erklären, wie zwei außerordentlich hübsche Menschen von zwei außerordentlich hässlichen Menschen abstammen konnten.