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Abstand

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Der Tag, der verfluchte Tag war gekommen. Elena erhob sich ungern aus ihrem Bett, als würde sie an diesem Tag, dem 20. September, auf dem Dorfplatz am Galgen hingerichtet.

‚Ja, ich bin zu melodramatisch‘, dachte sie.

Dieser Tag war aber überaus abscheulich: Ihr Bruder würde von zu Hause weggehen und sie würde alleine zurückbleiben.

Sie stieg aus dem Bett und ging zur Küche im Erdgeschoss. Vor der Küchentür fiel ihr Augenmerk auf das Abbild, welches sich ihr im Spiegel bot - das einer jungen Frau im Morgenmantel.

Sie war erst sechzehn Jahre alt, in Kürze siebzehn, aber ihr Körper glich nicht im Geringsten dem eines kleinen Mädchens, sondern dem einer attraktiven Frau. Unter dem bescheidenen, keuschen Leinengewand zeichneten sich ihre weiblichen Formen ab, welche die Jungen im Dorf ihr nachschauen ließen: geschmeidig und weich im Kontrast zur Einfachheit des Gewebes.

Elenas Gewissen wurde von ihrer Mutter diktiert: „Wenn ich wie gewöhnlich im Morgenmantel zum Frühstück erscheine entfache ich sicherlich Mamas religiöse Empörung und Anti-Sünde.“ Überlegt drehte sich Elena um und zog sich ein weites, dunkles Kleid an, um eine übliche Polemik zu vermeiden.

Im Erdgeschoss warteten Michele und ihre Eltern mit einem letzten gemeinsamen Frühstück auf sie.

Während ihr Vater die Zeitung las, forderte ihre Mutter sie auf, ihr beim Servieren der Milch, dem Kaffee und dem Kuchen für die beiden Herren des Hauses behilflich zu sein.

Mechanisch erledigte Elena ihre Pflichten. Das Fehlen Micheles lag bereits mit einem bedrückenden Schweigen in der Luft. Michele beobachtete sie schuldbewusst und gestand sich ein, wie sehr ihm seine starke und zugleich zerbrechliche Schwester fehlen würde.

Bei einem Spaziergang am Nachmittag animierten sie die Erinnerungen der Orte zum Leben zurück, an denen sie gemeinsam aufgewachsen waren.

Elena schwieg: Sie war traurig und wütend zugleich. Wie konnte Michele sie zurücklassen? Sie -, die stärker war als jede andere Frau, wenn auch nur dank Michele.

Sei nicht so Elena!“, verlangte Michele, während er sich auf das Mäuerchen vom Brunnen des Dorfplatzes setzte.

Nun lass mich doch“, erwiderte sie widerspenstig.

Auf, komm schon!“ Er deutete ihr, sich neben ihn zu setzen. Elena aber kehrte ihm den Rücken zu. „Ich ziehe nicht in den Krieg, ich gehe studieren.“

Das ist das Gleiche, Lele.“

Jetzt male nicht den Teufel an die Wand. Lena, du kannst mich besuchen kommen und nach dem Studium kehre ich zurück.“

Wann soll das bitte sein?“, fragte sie patzig.

Lass mich nicht noch mehr schuldig fühlen als ich bereits bin.“

Elena konnte ihre Tränen nicht weiter unterdrücken. Mit einem herzzerreißenden und zugleich zornigem Schluchzen schmiss sie sich an Micheles Hals. Wortlos wischte er die Tränen aus Elenas Gesicht, wie er es häufig tat.

Mit dem Abend kam die Stunde der Trennung. Zu Hause zog sich jeder mutlos in sein Zimmer zurück.

Bei Sonnenuntergang befand sich die ganze Familie Gentile an der Haustür und verabschiedete sich vom Erstgeborenen. Michele begab sich alleine zum Bahnhof und wollte diesen Abschied schnellstmöglich hinter sich zu bringen.

Sein Vater schüttelte ihm die Hand, wie es ein wahrer Mann tut: keine Umarmung, kein Streicheln, ausschließlich eine Geste der Stärke.

Die Mutter weinte verzweifelte Tränen als ihr erstes Kind (ihr Liebstes) ausflog, um seinem großen Schicksal zu folgen.

Elena hatte aufgehört zu weinen. Aber der Blick, mit dem sie ihren Bruder anschaute, war vielsagender als alle Worte. Augen sind nicht in der Lage, Gefühle, Liebe und Schmerz zu verbergen.

Dann umarmten sie sich und Elena steckte ihm heimlich ein kleines Baumwolltaschentuch in seine Jackentasche, das ihre Initialen aufgestickt hatte. Vielleicht befürchtete ein Teil von ihr, dass Michele seine Schwester vergaß, die ihn innig liebte.

Als Michele verschwunden war und sich die Tür schloss, fühlte sich Elena elend. Ihr Vater bedachte sie mit einem finsteren Blick und sie verspürte zum ersten Mal Angst: Sie war ihm wehrlos ausgesetzt. Es gab niemanden mehr, der Fäuste zäumte, während er sie ohrfeigte.

Aber Michele musste gehen. Michele musste seinem Traum und seinem großen Herzen folgen. Er konnte nicht ewig bei ihr bleiben, um sie zu beschützen.

Während sich Elena langsam Mut machte, fühlte sich Michele verräterisch, weil er Elena zurückgelassen hatte, auch wenn sie jetzt keine kleine Schwester mehr war. Er hatte sie mit zwei Personen zurückgelassen, die nie begriffen haben, was für eine besondere Person sie war.

Aber er musste gehen: Vielleicht kann er mit seinen zukünftigen Taten Personen zum Nachdenken bringen, sie verbessern und ihnen helfen, eine vereinte Familie zu werden, wie diese Familie es nie gewesen ist.

Am Bahnhof angekommen, stellte er seinen Koffer auf dem Boden ab. Voller Zweifel richtete er seine Augen gen Himmel, während er seine Hände in die Taschen vergrub. Plötzlich spürte er mit der rechten Hand etwas Sanftes. Verwundert zog er ein weißes Taschentuch hervor, auf dem von Hand zwei kleine Buchstaben und eine lila Blume gestickt waren.

E. G.

Ein plötzlicher Schmerz durchfuhr sein Herz: Vielleicht hätte er zurückkehren und seine Zukunftsträume aufgeben sollen, um seine Schwester zu beschützen. Aber der Zug kam und er stieg ein, bevor er seine Meinung änderte.

In dieser Nacht konnte Elena nicht schlafen. Körper und Geist waren damit beschäftigt, ihr Alleinsein zu verarbeiten, die sie fortan erwartete. Sekunde um Sekunde saugte sie das Voranschreiten des Lebens auf, sowie das Ende dessen, was eine ihrer wunderbarsten Zeiten gewesen war. Sie hatte sie zusammen mit dem besten Bruder verbracht, den Gott ihr schenken konnte.

Aber jetzt war alles vorbei. Er war gegangen und Elena wusste genau, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholte - niemals. Alles war vorbei und dies war das Ende dieser paradiesischen Zeit mit ihm.

Hätte sie geahnt, dass Micheles Trennung der Beginn ihres wahren Lebens war ... sowie ihres wahren Todes?

Apostasie

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