Читать книгу Apostasie - Marie Albes - Страница 25
doce
ОглавлениеEine Wende kündigt sich häufig mit einem Gewitter an. Ein Gewitter wirbelt alles auf und hinterlässt ein neues Ambiente.
Als José in dieser Nacht in sein Zimmer zurückkam, regnete und donnerte es stark, als wenn der Himmel in sich zusammenfallen würde. Die Bäume der Landschaft in Florenz bewegten heftig ihre Zweige, gelegentlich vom Blitz erhellt, um dann der Dunkelheit der Nacht überlassen zu werden. Die Flüsse strömten mit erhöhter Kraft, begleitet vom Rauschen des Wassers, das von den Felsen abfloss.
Das Gewitter hielt bis in die ersten Morgenstunden an, dann ging alles seinen gewöhnlichen Lauf und der Himmel öffnete sich zu einem herrlichen Juli-Tag.
José war benommen, teilweise wegen dem wenigen Schlaf, teilweise wegen der Träume, die ihn geweckt hatten. Er hatte seine Mühe, wie gewöhnlich zu arbeiten.
Chiara stand nervös auf. Dies war das richtige Adjektiv, dachte sie sich: ‚ Ich bin nervös.‘ Selbst die Äbtissin bemerkte ihr angespanntes Verhalten. Als sie fragte, was sie habe, antwortete die junge Ordensschwester, dass sie unter Kopfschmerzen leide.
Der Vormittag und der Nachmittag vergingen normal und es war mittlerweile vier Uhr, die Zeit, zu der Chiara üblicherweise José unterrichtete.
‚ Ich will ihn nicht sehen‘, nahm sie sich vor während sie zur Bibliothek ging und sich dem Ausgang des Klosters näherte. Eine Ordensschwester sah sie vom Fenster der Sala de los libros aus, wie sie sich entfernte.
‚ Er ist mittlerweile gut genug, um alleine weiter zu lernen. Ich werde spazieren gehen.‘
Sie ging in Richtung Wald, um ihrer Nervosität mit einem regenerierenden Spaziergang entgegen zu wirken.
José konnte es kaum erwarten, zu Chiara in die Bibliothek zu gelangen. Rechtzeitig zum Unterricht waren seine Kräfte zurückgekehrt und er war glücklich, Zeit mit ihr zu verbringen.
Warum war er derart ungeduldig, sie zu sehen? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, wurde von ihm aber nicht beachtet.
Eilig hastete er in die Bibliothek. Die fünf Minuten Verspätung kamen ihm vor wie eine halbe Stunde. Sicher würde Chiara ihn am Tisch sitzend mit einem Lächeln begrüßen: „Guten Abend, José!”
Aber Chiara war nicht zu sehen.
Er sah sich um: rechts, links … Hatte sie sich vielleicht zwischen den Bücherregalen versteckt?
Vor ein paar Wochen war er wegen der Feldarbeiten zu spät gekommen. Als er die Tür der Bibliothek eilig geöffnet hatte, saß Chiara aber nicht wie gewöhnlich am Tisch. Auf dem Tisch waren ihre Bücher ausgebreitet.
„Chiara? ¿Donde estás?“, hatte er gefragt. Keine Antwort. Zwischen den Regalen war ein Geräusch zu vernehmen - ein unterdrücktes Kichern.
„Chiara?“ Wie ein wachsamer Fuchs durchstreifte er einen Gang des literarischen Labyrinths. Ein schmaler Streifen von einem schwarzen Gewand verschwand vor ihm nach links in einen anderen Gang. José beeilte sich amüsiert, der Erscheinung zu folgen und schaute um die Ecke: keine Spur. Das Suchspiel hielt für ein paar Minuten an und während José um eine weitere Ecke des Labyrinths lugte, vernahm er eine Stimme hinter seiner Schulter: „Ich wollte sehen, wie weit du mir folgst. Ich muss eingestehen, du hast den Test mit Bravour bestanden!“ Triumphierend erklärte Chiara: „Dir gefällt es wahrhaftig, Italienisch zu lernen, sonst wärst du schon gegangen.“
Wie ein Kind hatte sie selbstlos gelacht; José war ihr treudoof wie ein Hund auf Tritt und Schritt gefolgt. Konnte er ihrem heiteren Gesicht wiederstehen?
„ Natürlich“, hatte er geantwortet, „ich bin muy motivado.“
Sollte es nicht der Wissensdurst sein, der ihn motivierte?
Dieses Mal lagen ihre Bücher aber nicht auf dem Tisch ausgebreitet. José versuchte sie trotzdem zwischen den Regalen zu suchen, verstand aber sehr schnell, dass sie dieses Mal kein Spiel mit ihm trieb.
Er kehrte zum Eingangsbereich zurück, in dem Lesepulte angeordnet waren. In einer Ecke las eine Nonne in einem Buch mit antikem, braunem Einband. Es war nicht Chiara. Aber es war ihre Freundin. Wie war noch ihr Name? - Claudia.
Ob sie wusste, warum Chiara nicht hier war? War Chiara krank?
„Guten Abend Schwester!“, grüßte er.
Sie zuckte zusammen, da sie nicht erwartet hatte, von José angesprochen zu werden. Alle Bewohner des Klosters sprachen von ihm.
„Guten Abend“, erwiderte sie. „Ich sehe, dass der Unterricht mit Schwester Chiara effektiv ist. Sie haben bereits eine bemerkenswert gute Aussprache.“ Freundlich lächelte sie ihn an.
„Chiara ist eine ausgezeichnete Lehrerin“, erwiderte er. „Ich lerne bei ihr außergewöhnlich schnell.“
Aber Claudia war sehr intelligent: Ihr entging nicht, wie er den Namen ihrer Freundin aussprach. Der Ausdruck seiner Augen mit einem solch liebevollen Blick bedeutete nichts Gutes.
„Apropos Chiara“, fuhr er fort. Seine Aussprache vom „S“ hatte noch immer einen spanischen Akzent. „Wissen Sie wo sie ist? Tenemos Unterricht, aber ich kann sie nirgendwo finden.“
„Ich habe sie vor zwanzig Minuten aus dem Garten forteilen sehen. Hat sie den Unterricht vielleicht vergessen?“
Mh, gab Josés Kehle von sich, das konnte nicht sein.
„Ich danke Ihnen, Schwester“, verabschiedete sich José. Er verließ die Bibliothek, durchquerte den Hof und durchlief die Arkaden, die aus dem Kloster führten.
Claudia beobachtete José, wie er Chiara folgte. Es beunruhigte sie nicht wenig!
Was war los mit den beiden?
Ihre Freundin hatte sich in letzter Zeit geändert und an diesem Morgen hatte sie Chiara nervöser gesehen als je zuvor. Dann erscheint sie nicht zum vereinbarten Unterricht, ein erneut seltsames Verhalten bei ihrem Eifer.
Sie hoffte nur, dass sie sich nicht in Schwierigkeiten brachte, aus denen es schwer war, herauszukommen. Sie mochte Chiara zu sehr, um sie über ihre eigenen Füße stolpern zu sehen.
‚ Was treibst du im Schilde, meine liebe Freundin?‘, dachte sie und nahm wieder ihre Lektüre auf.
* * *
Chiara folgte mit nervösem Schritt dem Verlauf des Baches, hinter dem die Plantagen der Olivenbäume anfingen. Der Himmel war wolkenlos und es war kühl, wahrscheinlich wegen dem Sturm vor kurzem. Trotzdem fühlte sie sich in der Umgebung nicht wohl, zumindest nicht wie gewöhnlich.
‚ Ich mag sein unverschämtes Gesicht nicht mehr anschauen‘, dachte sie während sie wie eine Furie lief. ‚ Üblicherweise steht Freundschaft für Treue, aber das, was er getan hat, ist kein bisschen treu! Wie kann derart verdorben unsere Hilfs-bereitschaft ausnutzen?‘
Sie hastete weiter und spie Feuer aus den Augen. Plötzlich hörte sie eilige Schritte hinter sich.
„Chiara!“, rief eine Stimme ungestüm. „Wo gehst du hin?“
Menschliche Gefühle kommen unvermutet: warm und unkontrollierbar – sie sind lebendiger als wir selbst. Dieser ihr bekannte Akzent ließ in Chiara ein tobendes Feuer aufflammen, das ihr von der Brust über das Herz bis ins Gesicht stieg. Das Einzige, was sie tun konnte, war zu weinen oder weiter zu laufen.
Sie drehte sich um und sah José durch die Bäume zu ihr laufen. Mit einer nervösen Bewegung drehte sie sich mit dem Rücken zu ihm und lief.
‚ Ich will ihn nicht sehen‘, widerholte sie sich und beschleunigte ihren Schritt. Sie würde ihn in diesem Hain abhängen, in dem sie sich, im Gegensatz zu ihm, wie ein Spatz auskannte.
Sie lief nordwärts am Fluss entlang und näherte sich einer kleinen Lichtung, die von Buchen, Kastanien und Ulmen umgeben war. An einer Uferseite ragte eine Felswand mit einer Höhle hervor.
Chiara war ausgesprochen schnell, aber José war nicht weniger agil.
‚ Warum rennt sie weg?‘, fragte er sich, während sein Herz nicht ausschließlich wegen dem Lauf stark pochte. „Chiara halt an!“, rief er erneut, aber die Nonne ließ nicht nach.
Nach einer Weile war die Jagd aussichtslos. José näherte sich ihr, konnte sie aber nicht einholen, bis sich beide in der kleinen Lichtung vor der Höhle befanden. José beschleunigte und streckte seine Hand nach vorne aus, um ihren Arm zu ergreifen. Das Einzige, was er fassen konnte, war ihr Kopftuch, das wegrutschte und ihren Nacken entblößte.
Chiara spürte das lose Haar, das sich in der Luft ausbreitete, und dies vor José. Sie drehte sich zu ihm um, gefolgt von der Haarmähne, die ihr in Wellen auf die Schultern glitt.
Sie starrte José in Panik an. Er war der erste Mann, der sie ohne Kopftuch sah, zumindest seitdem sie das Gelübde abgelegt hatte. Sie fühlte sich nackt, blasphemisch, eine Sünderin, die eine Unerlaubtes tat, da sie mit offenen Haaren ohne schwarzweißen Stoff von jemandem gesehen wurde.
José war seinerseits nicht fähig, ein Wort zu äußern.
Zuerst schaute er verdutzt auf seine Hand, in der er Chiaras schwarzes Kopftuch mit dem weißen Saum hielt. Dann schaute er zur bildhübschen Monja und die Welt entfernte sich von ihnen. Sie befanden sich in einem von der Realität entfernten Universum.
Er betrachtete Chiaras geschmeidigen Gesichtszüge, die weiches, honigbraunes Haar umrahmte. Ihr Haar war in seinem wiedergewonnenen Freisein lebhaft und rebellisch. Der Wind bewegte sanft ihre gelockten. Es schien, als würde der Gott des Windes Aiolos verspielt seine Hände durch die Locken fahren. José fragte sich, was ihn davon abhielt, sich ihr zu nähern.
* * *
Wenn Gefühle unkontrollierbar sind, werden sie rücksichtslos und verfehlt, ohne sie bezähmen zu können. Er ließ ihr Kopftuch zu Boden fallen. José lief zu Chiara, welche ihn regungslos anstarrte. Ungehemmt nahm er ihr Gesicht zwischen seine Hände. Diese rosigen Lippen waren trotz Ordensgelübde außerordentlich provokativ. Wie in seinem Traum waren sie in diesem Moment mit seinen vereint.
Von der Leidenschaft beherrscht, drückte er sie an sich, küsste sie wie das natürlichste auf der Welt und kostete ihren Geschmack.
Obwohl es ein Fehler war, verspürte er den immensen Drang, den süßen Geschmack ihrer Haut zu schmecken. Er presste seinen Mund auf den von Chiara, ließ seine Finger durch ihr Haar gleiten und liebkoste sie sanft, Strähne um Strähne.
Chiara blieb reglos und hielt ihre Augen geschlossen, da sie Angst hatte und zugleich überrascht war, mit dem Geschmack der Liebe auf dem Mund. Sie fühlte Josés Lippen ungestüm auf ihre Lippen pressen, die nie zuvor einen Mann geküsst haben, sondern ausschließlich das Kreuz ihres Rosenkranzes. Sie wusste, dass sie ihn sofort fern halten musste – es war eine Katastrophe!
Aber sie tat es nicht. Sie schloss einen Moment die Augen und antwortete leichtfertig der zärtlichen Liebkosung. Ihre Lippen wussten trotz ihrer Unerfahrenheit, was zu tun war. Während die Liebe sie umtanzte, verglichen Chiaras Gedanken ihr Leben mit einer Wüste, in dem José zwangsläufig die Oase sein musste.
Die ihre ausgetrockneten Herzen umhüllende Süße war von ausgesprochen kurzer Dauer. Dann kehrte Chiaras Verstand zurück: mit Wut schubste sie José von sich weg, dass er ein paar Schritte zurücktaumelte.
„Rühr mich nicht an!“, schrie sie ungehalten und folgte ihm, um ihm eine Ohrfeige zu versetzen. Sie wendete sich sofort um und betrachtete ihre Hand, die den jungen Mann so unschicklich geschlagen hatte: Warum? ... Warum hatte sich die alte Chiara derart verloren?
José nahm seine Hand zur Wange, die in gleicher Heftigkeit schmerzte wie seine Wut. Sollte er tirar la toalla?, wie es auf Spanisch heißt. Nein, er würde nicht aufgeben.
„Darf ich erfahren, was du hast?“, schrie er sie an, war aber eher über sich selbst wütend, dass er die Kontrolle verloren hatte. Chiaras Verhalten ihm hingegen war widersprüchlich.
„Du durftest mich nicht küssen!“, erklärte Chiara wütend. „Meinst du, ich trage dieses Gewand zum Vergnügen? Ich bin nicht wie die Frauen, die du nachts aufsuchst!“
„Ich habe einen Fehler gemacht!“, fuhr er fort. Als Zeichen des Nachgebens hob er seine Hände, obwohl er nicht die Wendung verstand, die das Gespräch genommen hatte. „Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe, dich zu küssen. Erkläre mir bitte, warum du dich so verhältst!“
„Ich habe nichts getan, um von dir zur Rede gestellt zu werden!“, beendete Chiara das Gespräch, drehte ihm den Rücken zu und wollte sich von ihm entfernen. Aber José blieb hartnäckig, näherte sich ihr, packte sie am Handgelenk und zwang sie, sich umzudrehen.