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DIE INNENSTADT VON LONDON 26. Februar 1884

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»Heiße Krapfen! Einen Viertelpenny pro Stück, warm an einem kalten Morgen! Wollen Sie einen Krapfen kaufen, Sir?«

Der Ruf hallte durch die Luft und verlor sich unter anderen, wie ein Vogel in einem Schwarm. Eine Dampfwolke aus dem offenen Schacht entlang der Farringdon Road kündigte die Ankunft eines unterirdischen Zuges an. Eine Minute später spuckte der Bahnhof darüber eine Menschenmasse aus, die sich jenen anschloss, die durch die Kraft ihrer eigenen Füße in die Stadt gekommen waren. Sie schlurften den Snow Hill entlang und zum Viadukt von Holborn hinauf, gähnend und schläfrig, und so viele von ihnen, dass sie Kutschen und Omnibusse anhalten ließen, wenn sie über die Straßenkreuzungen strömten.

Die Stimme einer Straßenverkäuferin musste kräftig sein, um über den Gesprächen und Schritten und Kirchenglocken, die sieben Uhr läuteten, gehört zu werden. Eliza füllte ihre Lunge und brüllte wieder: »Heiße Krapfen! Direkt aus dem Ofen! Nur einen Viertelpenny pro Stück!«

Ein Kerl hielt inne, kramte in seiner Tasche und gab ihr einen Penny. Die vier Krapfen, die Eliza ihm im Tausch überreichte, waren heiß gewesen, als sie ihre Ladung vor einer Stunde abgeholt hatte. Seither hatten sie nur ein wenig Wärme gehalten, weil sie dicht beieinander lagen. Aber das hier waren die Sekretäre, die tintenbefleckten Männer, die in den Geschäftshallen der Stadt viele Stunden für wenig Geld hart arbeiteten. Sie würden nicht über den Wahrheitsgehalt ihrer Werbung diskutieren. Zu dem Zeitpunkt, bis die wohlhabenden Höhergestellten zur Arbeit kamen, in drei Stunden oder so, würde sie ihre Ware verkauft und ihren Karren mit etwas anderem gefüllt haben.

Falls alles gut lief. Gute Tage waren diejenigen, an denen sie immer wieder die Straßen entlanglief, jede Runde mit neuen Waren: Schnürsenkel für Stiefel, Bänder für Strümpfe, Schwefelhölzer, selten sogar Zigaretten. An schlechten Tagen pries sie bei Sonnenuntergang noch kalte, zähe Krapfen an und hatte keinen Trost, außer dass sie an jenem Abend etwas zu essen haben würde. Und manchmal konnte sie den Betreiber eines Nachtasyls überreden, dass er einige im Tausch gegen einen Platz auf seiner Bank nahm.

Der heutige Tag fing gut an. Sogar ein Krapfen von nur mäßiger Wärme war an einem kalten Morgen wie diesem eine gewisse Annehmlichkeit. Aber kühles Wetter machte die Männer am Nachmittag und Abend mürrisch, wenn sie ihren Kragen hochklappten und ihre Hände in die Taschen schoben und nur an den Zug oder Omnibus oder langen Marsch dachten, der sie nach Hause bringen würde. Eliza wusste es besser, als anzunehmen, dass ihr Glück anhalten würde.

Zu dem Zeitpunkt, als sie Cheapside erreichte und der Menge aus Männern auf ihrem Weg zu den Bürogebäuden folgte, wurde das Gedränge auf den Straßen dünner. Jene, die noch draußen waren, hasteten weiter aus Angst, dass ihnen für eine Verspätung Lohn abgezogen würde. Eliza zählte ihre Münzen, steckte versuchsweise einen Finger zwischen die übrigen Krapfen und beschloss, dass sie kalt genug waren, dass sie einen für sich selbst entbehren konnte. Und Tom Granger war immer willens, sie für eine Weile bei ihm sitzen zu lassen.

Sie lenkte ihre Schritte zurück zur Ecke der Ivy Lane, wo Tom halbherzig Ausgaben der Times vor Passanten schwenkte. »Mit dieser faulen Hand wirst du sie nie verkaufen«, sagte Eliza und stellte ihren Karren neben ihm ab.

Sein Grinsen war so schief wie seine Schneidezähne. »Warte bis morgen. Bill sagt, dass wir dann aufregende Neuigkeiten haben.«

»Ach?« Eliza bot ihm einen Krapfen an, den er annahm. »Skandal, oder wie?«

»Besser. Es hat wieder eine Bombe gegeben.«

Sie hatte gerade einen großen Bissen genommen. Er verfing sich in ihrer Kehle, und für einen Moment befürchtete sie, dass sie ersticken würde. Dann rutschte er hinunter, und sie hoffte, dass Tom, falls er ihre Panik gesehen hatte, es dem zuschreiben würde. »Wo?«

Tom hatte sich bereits den halben Krapfen in den Mund gestopft. Seine Antwort war völlig unverständlich. Sie musste warten, bis er genug gekaut hatte, um zu schlucken. »Victoria Station«, sagte er, sobald er wieder deutlicher sprechen konnte. »Gleich heute früh. Hat den Fahrkartenschalter und alles halb bis zum Mond gepustet. Aber keiner verletzt – schade. Wir verkaufen mehr Zeitungen, wenn’s Tote gibt.«

»Wer hat das getan?«

Er zuckte mit den Schultern, dann wandte er sich ab, um einem Mann im Flanellmantel eines Tischlers eine Zeitung zu verkaufen. Als das erledigt war, sagte er: »Harry denkt, es war eine Gasleitung, die hochgegangen ist, aber ich schätze, das waren wieder die Fenier.« Er spuckte auf die Pflastersteine. »Verdammte Irenschweine. Sie verkaufen Zeitungen, das geb ich ja zu, aber die und ihre Drecksbomben, hm?«

»Die und ihre Drecksbomben«, wiederholte Eliza und starrte den Rest ihres Krapfens an, als würde er ihre Aufmerksamkeit brauchen. Jeglicher Appetit war ihr vergangen, aber sie zwang sich, trotzdem fertig zu essen. Ich habe es verpasst. Während ich an eine Bank gebunden geschlafen habe, war er hier, und ich habe meine Chance verpasst.

Tom schimpfte weiter über die Iren, gestand ihnen zu, dass sie verteufelt kräftige Kerle und gut für harte Arbeit seien, aber vor einigen Tagen sei ein Paddy dahergekommen, dreist ohne Ende, und hätte versucht, Zeitungen zum Verkaufen zu bekommen. »Bill und ich haben ihn ganz schnell verjagt«, sagte Tom.

Eliza teilte seine Genugtuung nicht im Geringsten. Während Tom sprach, suchte ihr Blick die Straße ab, als könnten hektische Versuche jetzt ihr Scheitern wiedergutmachen. Zu spät, und das weißt du. Was hättest du überhaupt getan, wenn du letzte Nacht hier gewesen wärst? Wärst du ihm wieder gefolgt? Das hat ja letztes Mal sehr gut geklappt. Aber du hast deine Gelegenheit verpasst, es besser zu machen. Sie war überrascht, als Tom seine Tirade unterbrach und sagte: »Drei Monate sind es jetzt, und ich verstehe dich immer noch nicht.«

Sie hoffte, dass ihr Blick nicht so offensichtlich verblüfft war, wie er sich anfühlte. »Was meinst du?«

Tom deutete auf sie und schien sowohl die zerlumpte Kleidung als auch die junge Frau, die diese trug, zu meinen. »Dich. Wer du bist und was du hier machst.«

Plötzlich war ihr viel kälter, als man mit der Morgenluft hätte erklären können. »Ich versuche, Krapfen zu verkaufen. Aber ich glaube, mit diesen hier bin ich so gut wie fertig. Ich sollte bald gebratenen Fisch holen, oder etwas anderes.«

»Was du direkt hierher zurückbringst. Vielleicht stehst du ein bisschen am Krankenhaus herum oder am Gefängnis, aber du hältst dich, so lange du kannst, in der Nähe von Newgate, wenn du zumindest ein paar Pennys hast, um Abendessen und einen Schlafplatz zu bezahlen. Die feinen Gentlemen reden gerne über faule Leute, die sich nicht genug darum scheren, einen besseren Lohn zu verdienen – aber du bist die Einzige, die ich je getroffen habe, bei der das wahr ist.« Tom kratzte sich am Hals und betrachtete sie auf eine Art, die sie dazu brachte, weglaufen zu wollen. »Du redest anders, du kommst nicht aus einer richtigen Straßenhändlerfamilie … Ich weiß, dass die dich manchmal vertreiben, wenn du auf ihr Territorium kommst. Kurzum, du bist ein Mysterium, und schon seit du angefangen hast, hierherzukommen, versuche ich, dich zu verstehen. Was gibt es in der Nähe von Newgate für dich, Elizabeth Marsh, wofür du drei Monate damit verbringst, darauf zu warten, dass es aufkreuzt?«

Ihre Finger fühlten sich wie Eis an. Eliza fummelte an den Enden ihres Schultertuchs herum, dann hörte sie auf, weil es nur Aufmerksamkeit darauf lenkte, wie ihre Hände zitterten. Was gab es da zu befürchten? Es war kein Verbrechen, hier herumzuhängen, solange sie ehrliche Arbeit betrieb. Tom wusste gar nichts. Soweit es ihm bekannt war, war sie einfach Elizabeth Marsh, und Elizabeth Marsh war niemand.

Aber sie hatte sich für ihn keine Lügengeschichte ausgedacht, weil sie nicht erwartet hatte, dass er fragen würde. Ehe sich ihr Verstand ausreichend beruhigen konnte, um eine gute zu erfinden, wurde seine Miene zu sanfterem Mitleid. »Hast jemanden in Newgate, hm?«

Er zuckte mit dem Kinn nach Westen, als er das sagte. Newgate im spezifischen Sinn, das Gefängnis, das in der Nähe stand. Was nahe genug an der Wahrheit lag – wenn nicht der echten Wahrheit –, dass Eliza die Chance erleichtert ergriff. »Meinen Vater.«

»Dachte, es wär vielleicht ein Mann«, sagte Tom. »Du wärst nicht die erste Frau, die ohne Ring herumläuft. Wartest darauf, dass er rauskommt, oder hoffst, dass er das nicht tut?«

Eliza dachte an das letzte Mal, als sie ihren Vater gesehen hatte. Vor vier Monaten, und die Worte, die sie gewechselt hatten, waren nicht nett gewesen – das waren sie nie –, aber sie hatte das völlig vergessen, nachdem sie aus dem Gefängnis marschiert war und jenes vertraute, verhasste Gesicht gesehen hatte.

Sie zuckte unbeholfen mit den Schultern und hoffte, dass Tom das Thema wechseln würde. Je mehr Fragen sie beantwortete, desto wahrscheinlicher würde er bemerken, dass etwas seltsam war. Besser, es blieb bei einem namenlosen Vater mit einem ungenannten Verbrechen. Tom bohrte nicht weiter nach, sondern nahm eine seiner Zeitungen und fing an, die hinteren Seiten abzusuchen. »Da, schau dir das an.«

Der Artikel über seinem zerfurchten Fingernagel war kurz, nur zwei knappe Absätze unter der Überschrift MR. CALHOUNS NEUE FABRIK. »Fabrikarbeit ist nicht schlecht«, sagte Tom. »Besser als Haushaltshilfe jedenfalls – keine Herrin, die einen ständig nervt, und einige Fabriken bezahlen mehr –, und es würde dich von hier wegbringen. Hier zu warten, wird dir nichts bringen, Lizzie, und wenn du so weitermachst, wirst du früher oder später Pech haben. So viel Pech, dass du ins Armenhaus musst.«

»Ach, du versuchst doch nur, mich loszuwerden«, sagte Eliza. Es kam wegen der Enge in ihrer Kehle höher heraus als sonst. Tom war einfach nützlich. Seine Ecke war die beste zum Beobachten. Sie hatte nie mehr als das vorgehabt – niemals Freundschaft –, und seine Nettigkeit ließ sie umso mehr Schuldgefühle wegen ihrer Lügen empfinden.

Aber er hatte recht, was die Arbeit anging. Sie war früher Dienstmädchen gewesen, bei einer italienischen Familie, die in Spitalfields gebrauchte Kleidung verkaufte. Ein Mädchen für alles zu sein, war ungeachtet der Familie wenig besser, als eine Sklavin zu sein. Viele Mädchen sagten, dass Fabrikarbeit vorzuziehen war, wenn man sie bekommen konnte. Aber Newgate zu verlassen …

Sie konnte nicht. Ihr ungehorsamer Blick wanderte trotzdem zurück zu der Anzeige. Und dann sah sie, was darunter lag, das Toms Hand vorher verdeckt hatte.

LONDONER FEENGESELLSCHAFT – Eine neue Vereinigung wurde in Islington gegründet, zum Verständnis von Großbritanniens schnell weniger werdenden Feeneinwohnern. Treffen am zweiten Freitag in jedem Monat in der White Lion St. 9, 7 Uhr abends.

Eliza konnte sich kaum davor zurückhalten, Tom die Zeitung aus der Hand zu reißen, um die Worte anzustarren und zu sehen, ob sie verschwanden. »Darf ich?«, fragte sie.

Sie hatte nur vor, es noch einmal zu lesen, doch Tom übergab ihr die Zeitung und winkte mit den Händen hinterher. »Behalt sie.«

Die Kälte war verschwunden. Eliza war vom Kopf bis in die Zehen warm. Sie konnte nicht von den Worten wegsehen. Zufall – oder Vorherbestimmung? Vielleicht war es gar nichts: Leute mit Geld, die über kleine »Blumenfeen« plauderten statt über die Feen, die Art, die Eliza allzu gut kannte. Diese neue Gesellschaft wusste vielleicht gar nichts, was ihr helfen konnte.

Aber ihre Alternative war es, hier zu warten, mit der schwindenden Hoffnung, dass es ihr irgendetwas nützen würde. Nur weil es eine weitere Bombe gegeben hatte, bedeutete das nicht, dass irgendwelche von den Leuten, die damit zu tun hatten, hier gewesen waren. Es hätte letzten Oktober reiner Zufall sein können, als sie ihn in Newgate gesehen hatte. Seitdem hatte sie beinahe jeden Tag hier verbracht und nicht einmal einen weiteren Blick auf ihn erhascht. Sie waren trickreiche Kreaturen, diese Feen, und nicht leicht zu erwischen. Aber vielleicht konnte diese Londoner Feengesellschaft ihr helfen.

»Danke«, sagte Eliza zu Tom, faltete die Zeitung und stopfte sie in die ausgeleierte Tasche ihres Umhangs.

Er zuckte mit den Schultern und sah geniert weg. »Ach, das ist doch nichts. Du fütterst mich oft genug mit Krapfen. Ich schulde dir wenigstens eine Zeitung dafür.«

Sie dankte ihm gerade nicht für die Zeitung, aber das auszusprechen, hätte ihn nur noch unbeholfener gemacht. »Ich ziehe besser weiter«, sagte Eliza. »Diese Krapfen werden sich nicht von selbst verkaufen. Aber ich werde über die Fabrik nachdenken, Tom. Wirklich.« Das meinte sie auch so. Es wäre wundervoll, zu etwas wie einem normalen Leben zurückzukehren. Nicht mehr diese Existenz von einem Tag zum anderen, wo sie alles auf die Hoffnung auf eine zweite Glückssträhne setzte. Nach diesen drei Monaten würde sie sogar wieder in den Dienst bei den DiGiuseppes treten, nur um jeden Abend zu wissen, dass sie ein Dach über dem Kopf haben würde.

Falls ein normales Leben überhaupt noch möglich war, nach allem, was sie durchgemacht hatte. Aber das war eine Frage für die Zukunft. Zuerst musste sie sich eine Fee fangen.

Tom wünschte ihr Glück, und sie packte wieder die Griffe ihres Karrens und schob ihn durch Newgate auf einen Kerl in Holborn zu, der ihr gebratenen Fisch verkaufen würde, wenn sie den Rest ihrer momentanen Ware loswerden konnte. Ihr Blick machte seinen üblichen Tanz über die Menge, als sie ihre Waren anpries, doch sie sah nichts Ungewöhnliches.

Der zweite Freitag. Das wird dann der Vierzehnte sein. Etwas mehr als zwei Wochen noch. Sie würde bis dahin hier weitermachen, wegen der geringen Chance, dass ihr Glück sich besserte. Aber Islington, hoffte sie, würde die Antworten liefern.

Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit

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