Читать книгу Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit - Marie Brennan, Marie Brennan - Страница 24
ADELAIDE ROAD, PRIMROSE HILL 6. April 1884
ОглавлениеDas Dämpfen der Gaslampen hatte dem Raum eine kühle, grabähnliche Atmosphäre verliehen. Draußen war die Nacht in Nebel gekleidet, und der Mond spielte hinter den Wolken Verstecken. Wind rüttelte von Zeit zu Zeit an den Fensterläden und schuf ein leises Seufzen im Kamin. Kurzum, es war so, wie ein Dichter sich eine Nacht für eine Séance ausgemalt hätte.
Cyma hoffte, dass es das Medium zu Höchstleistungen inspirieren würde. Mrs. Iris Wexford war typisch für ihre Sorte: die Ehefrau eines Vikars in Aylesbury, jenseits ihrer fruchtbaren Jahre und von ihrem respektablen Leben wahnsinnig gelangweilt. Sie war fest davon überzeugt, dass Spiritismus das Heilmittel für alle Makel des Christentums war, dass er die Bibel rechtfertigte, statt sie zu widerlegen, wie manche behaupteten.
Wie die meisten von ihrer Sorte war sie wahrscheinlich ein Scharlatan. Aber Frederic Myers hegte große Hoffnungen für sie, und deshalb war Cyma hier.
Sie spielte mit dem Gedanken, dass es Schicksal war, ihn wiederzutreffen. Sobald Myers durch seine Träume gründlich gefangen genommen worden war, hatte Nadrett allen Kontakt mit dem Mann übernommen und Cyma ausgeschlossen. Ohne Brot, um sie zu schützen, hatte sie keine Möglichkeit gehabt, ihn zu besuchen, und so war Myers mit der Zeit aus ihren Gedanken verschwunden: ein weiterer Sterblicher, der in Feenangelegenheiten verwickelt war und wahrscheinlich nicht heil herauskommen würde.
Oder, was das betraf, überhaupt herauskommen. Dass Frederic Myers immer noch ein freier Mann und nicht der verrückte Sklave von irgendjemandem auf dem Goblinmarkt – oder tot – war, verriet ihr, dass Nadrett ihn noch nicht losgelassen hatte, noch nicht gänzlich. In diesem Fall wiederum wäre es viel sicherer für Cyma gewesen, Abstand zu halten. Sie war endlich beinahe von Nadrett befreit und hatte kein Verlangen, wieder in die Falle zu geraten. Aber Myers hatte sie mit seiner melancholischen Trauer und unsterblichen Hoffnung, seine verlorene Liebe wiederzusehen, fasziniert, und sie konnte die Chance nicht verstreichen lassen, herauszufinden, welchem Pfad er jetzt folgte.
Ganz demselben wie damals, als sie ihn kennengelernt hatte, wie es schien. Er prüfte Medien und hoffte, eines zu finden, das an seiner statt mit der verstorbenen Annie kommunizieren konnte. Jetzt saß er mit seinen Freunden Henry und Eleanor Sidgwick und verschiedenen anderen, die Cyma nicht kannte, um den Tisch. Anders als jene ersten beiden waren die anderen keine Mitglieder der neuen Gesellschaft für Psychische Forschung. Sie hatte sich ihnen als eine gewisse »Miss Harris« angeschlossen und saß jetzt da, wobei ihre Aufmerksamkeit mehr auf Myers als auf Mrs. Wexford gerichtet war. Er hatte sich nicht verändert: immer noch dieselbe zitternde Begierde in seinen aufgerissenen Augen, seinen leicht geöffneten Lippen, als Mrs. Wexfords Kopf nach hinten gegen ihre Stuhllehne sank.
Mit einer heiseren Stimme sagte das Medium: »Ich fühle, wie die andere Welt näherkommt!«
Miss Harris war in diesen Dingen natürlich nicht im Geringsten zynisch. Miss Harris hatte ihre eigenen Geister, die sie unbedingt sehen wollte. Insbesondere einen toten Verlobten, nach dem sie sich immer noch sehnte. Das bedeutete, dass Mr. Myers und sie etwas gemeinsam hatten. Aber Cyma war unter ihrer menschlichen Maske ungeduldig. In der Zeit, als sie bei Myers gespukt hatte, hatte sie mehr als genug gelangweilte Hausfrauen ähnliche Rollen spielen sehen – hatte einige sogar als Betrügerinnen enthüllt, wenn sie sie zu sehr genervt hatten –, und ihre anfängliche Aufregung war schon lange verflogen. Sie hielt diese Langeweile nur wegen der erneuten Verbindung zu Myers aus, die sie nutzen konnte, sobald sie von Nadrett befreit war.
Dann verflog die Langeweile ohne Vorwarnung, und jedes Härchen in Cymas Nacken richtete sich auf. »Ein Kind«, flüsterte Mrs. Wexford. »Ein kleiner Junge – oh, er ist wie ein Engel.«
Auf der anderen Seite des Tisches riss eine der Anwesenden, eine ältere Frau, deren Namen Cyma vergessen hatte, ihre Hände aus dem Zirkel und schlug sie vor den Mund, während ihr Tränen in die Augen traten. Sidgwick, der zur Rechten der Frau saß, richtete sofort einen misstrauischen Blick auf sie. Er war viel weniger gutgläubig als Myers und wusste, dass solche Bewegungen oft als Deckung für Tricks benutzt wurden. Seine Frau Eleanor hielt ihre Aufmerksamkeit auf Mrs. Wexford, falls die aufgewühlte Frau stattdessen eine Ablenkung für das Medium war.
Aber falls jene beiden irgendwelche Tricks geplant hatten, hätten sie sich die Mühe sparen können. Cyma wusste es, wenn sie in der Präsenz eines echten Geistes war.
Mrs. Wexford erschauderte, dann fing sie an, in einem hohen Tonfall zu sprechen. Aus dem Gespräch, das sich zwischen dem Medium und der weinenden alten Frau entwickelte, erfuhr Cyma, dass dies der älteste Sohn der Frau war, der vor Jahren gestorben war, als sich eine Infektion von einem faulen Zahn ins Gehirn ausgebreitet hatte. Neben ihr spürte sie, wie Myers stumm seufzte. Wieder einmal war seine verlorene Geliebte nicht aufgetaucht.
Cyma fragte sich, wie die Medien es machten – wie sie bestimmte Geister herbeiriefen, die schon lange fortgegangen waren. Regelmäßige Erscheinungen waren eine Sache und die kürzlich Verstorbenen eine andere. Beide waren deutlich weniger häufig als in vergangenen Jahrhunderten, aber sie zu kontaktieren, war für Leute mit Talent nie schwierig gewesen. Der Geist des kleinen Jungen allerdings musste bereits weitergezogen gewesen sein. Wie hatte Mrs. Wexford ihn zurückgerufen? Eines von zahllosen Geheimnissen der menschlichen Seele, deren Antworten sie sich nicht vorstellen konnte. Cyma war keine Wissenschaftlerin der Akademie, aber manchmal verstand sie, was jene so faszinierte.
Ihr Interesse steigerte sich, als sich etwas in der Luft hinter Mrs. Wexford bildete. Dessen Form war vage, aber es hatte die richtige Größe, um ein kleiner Junge zu sein. Cyma hielt die Luft an, während sich ihre Zähne tief in ihre Lippen gruben. Wahre Erscheinungen waren selten, wahre physische Manifestationen hätten ebenso gut Einhörner sein können. Real, aber in diesem Zeitalter beinahe nie beobachtet. Myers hatte doch noch ein echtes Medium für sich gefunden.
Bei diesem Gedanken glitt seine Hand aus ihrem Griff. Sidgwick und er hatten versprochen, dass diese erste Séance keine Art förmlicher Test sein würde – zu viele Medien wurden nervös und scheiterten daran, überhaupt etwas hervorzubringen, wenn sie wussten, dass Wissenschaftler jede ihrer Bewegungen untersuchen würden –, aber wie es schien, hatte Myers’ Neugierde ihn überwältigt, denn er durchquerte den Abstand mit zwei schnellen Schritten und streckte seine Hand zu der Manifestation aus, die in der Luft Gestalt annahm.
Diese verschwand mit einem erschrockenen Zucken, und Mrs. Wexford riss die Augen auf. »Ich … was …«
Sie wirkte ehrlich desorientiert, was manchmal vorkam. Die alte Frau, die ihren Sohn verloren hatte, brach in Tränen aus. Eleanor Sidgwick tröstete sie, während ihr Mann sich über Mrs. Wexford beugte und erklärte, was vorgefallen war.
Cyma stand auf und stellte sich neugierig zu Myers. »War es wirklich physisch?«
»Für einen Augenblick«, sagte er abwesend, während er immer noch dort hinsah, wo der Geist gewesen war. »Ich habe es gespürt, ganz kurz …«
Mrs. Wexford wäre vielleicht fähig, seine geliebte Annie für ihn herbeizurufen. Cyma runzelte bei dem Gedanken die Stirn und sprach wieder, um Myers’ Gedanken bei wissenschaftlichen Themen zu halten. »Woraus bestehen solche Dinge? Ist es irgendeine Verfestigung der Luft, ein Gerinnen, das aus der Präsenz des Geistes resultiert?«
Myers kam mit einem Seufzen wieder zu sich, das besagte, dass seine Gedanken genau dorthin geschweift waren, wohin sie gedacht hatte. »Niemand weiß das sicher. Es hat sich an meinen Fingern wie Flor angefühlt …«
»Gewöhnlich ist es Flor.« Sidgwick hatte sich zu ihnen gesellt. Er warf seinem Freund einen warmen, mitleidsvollen Blick zu. »Du weißt, dass solche Dinge oft gefälscht sind.«
»Oft, ja – aber immer?« Myers schüttelte den Kopf und rieb die Fingerspitzen aneinander, als könne er die Substanz immer noch fühlen. »Ich sehe keine Drähte, Henry, und auch keine Spiegel. Ich glaube, das hier war real.«
Cyma legte eine unterstützende Hand auf seinen Arm und lächelte in seine traurigen Augen. »Wie ich. Tatsächlich bin ich mir dessen sicher.«
»Du hattest eine Theorie über das Zeug, nicht wahr, Frederic?«
»Hatte ich das?« Myers zuckte mit den Schultern. »Ich erinnere mich nicht.«
Sidgwick tippte mit einem Finger an seine Nasenwurzel und schloss in Gedanken versunken die Augen. »Ektoplasma, das war dein Vorschlag, wie wir es nennen sollten. Irgendeine Art Aussonderung des Geistes selbst – du hast mir die Details nie erklärt. Geist, der physisch gemacht wurde, oder so etwas. Ein Dorn im Auge der Materialisten, hast du gesagt. Aber du hast den Artikel, den du versprochen hattest, nie geschrieben.«
Sie begannen, freundlich über die Veröffentlichungen ihrer Gesellschaft zu diskutieren. Cyma achtete auf nichts davon. Geist, der physisch gemacht wurde. Das war eine der grundlegenden Entdeckungen der Galenischen Akademie im letzten Jahrhundert, dass in Feenreichen Geist und Materie dasselbe waren. Feenkörper waren eine spezielle Konfiguration der vier klassischen Elemente, die ihren Geist bildeten, vermischt mit dem Äther, der ihre Welt durchdrang. War es irgendwie möglich, dass menschliche Geister eine ähnliche Einheit erreichten?
Sie konnte in der Akademie fragen – aber das wäre vielleicht eine sehr gefährliche Sache, wenn sie Nadretts Geschäfte berührte.
Cyma wusste, dass sie still bleiben sollte. Du bist beinahe von ihm befreit. Das Wissen würde dich nur in Gefahr bringen. Aber Myers letzten Monat zu treffen, nachdem sie ihn so lange nicht gesehen hatte – sie konnte sich jetzt nicht zurückhalten.
Sidgwick ging und drehte die Gaslampen heller, was die Stimmung gründlich störte. Vorerst würden keine weiteren Geister gerufen. Versuchsweise sagte Cyma: »Ich erinnere mich, dass ich einmal eine interessante Theorie von jemandem aus der Theosophischen Gesellschaft gelesen habe. Sind Sie mit deren Idee über die Astralebene vertraut?« Myers nickte. »Ich bin mir mit ihnen natürlich beim Thema Geister nicht einig. Die Seelen der Verstorbenen bleiben eindeutig manchmal wirklich in der Nähe, um jene zu trösten, die zurückbleiben. Es sind nicht alles Tricks vonseiten des Mediums. Aber was, wenn etwas davon wirklich Tricks sind, wie Sie vorschlagen – vonseiten etwas anderem?«
Seine Finger hatten in einer Geste, die sie gut erkannte, angefangen, an seinem Bart zu zupfen. »Madame Blavatskys ›Spuk, Elementarien und Elemente‹, meinen Sie. Niedere Prinzipien, die von menschlichen Geistern auf ihrem Weg zu einer höheren Existenz abgelegt werden.«
»Nicht direkt«, sagte Cyma, während sie hoffte, dass sie etwas gut genug erfinden konnte, um Myers davon abzuhalten, sie ganz abzuwimmeln. Was sie gleich sagen würde, war reiner Blödsinn. Der springende Punkt war es, herauszufinden, was er als Antwort sagen würde. »Es gibt immerhin in der Folklore eine langwierige Assoziation zwischen Feen und den Geistern der Toten. Ist es möglich, dass das spirituelle Reich – die Astralebene, wie die Theosophen es nennen würden – tatsächlich von diesen zwei Klassen an Wesen geteilt wird? Und wenn ein Medium getäuscht wird, kommt dies von einer Kreatur, die wir in anderen Kontexten eine Fee nennen würden?«
Sie beobachtete ihn ganz genau, als sie das sagte, und registrierte jede Bewegung von Augen und Stirn und Mund. Goblins täuschten manchmal wirklich Medien, das stimmte, aber nur als gelegentlicher Spaß. Myers schürzte die Lippen, dann schüttelte er den Kopf. »Ich muss gestehen, ich habe nie viel über die Möglichkeit nachgedacht. Es ist zumindest eine interessante Theorie.«
Kein einziges Zucken, nicht der geringste Funke an Erkenntnis.
Er erinnert sich nicht.
Myers hatte schon über die Möglichkeit nachgedacht, in den Tagen, ehe Cyma ihn an Nadrett übergeben hatte. Deshalb hatte der Herr den Mann gewollt, obwohl sie nicht wusste, welchem Zweck eine derart irrige Idee dienen konnte. Glaubte Nadrett, dass dieses »geistige Reich« oder die »Astralebene« das Feenland selbst war? Oder hatte er vor, seine Kontrolle über einen solchen Ort auszuweiten?
Jene Frage war viel zu gefährlich, als dass Cyma ihr gestatten konnte, in ihrem Kopf zu bleiben. Myers hatte über solche Dinge nachgedacht und erinnerte sich jetzt nicht mehr daran. Das bedeutete, dass Nadrett die Erinnerung aus seinem Kopf genommen hatte. Genau wie er es mit dem Toten Rick gemacht hatte, nur dass die Entfernung in diesem Fall präziser schien. Myers war nicht gebrochen wie der Skriker.
Vielleicht weil Nadrett immer noch eine Verwendung für Myers’ Wissen hatte. Immerhin hatte er den Mann frei herumlaufen lassen, zurück zu seinen Freunden in der Gesellschaft für Psychische Forschung.
Ich sollte mich von ihm fernhalten. Cyma wurde plötzlich auf eine Weise kalt, die nichts mit der Séance zu tun hatte. Sie murmelte etwas Dämliches, als Myers sich entschuldigte, um wegzugehen und Mrs. Wexford dazu zu überreden, es noch einmal zu probieren. Nach einem Moment, als sie wie gelähmt dort stand, wo die Manifestation gewesen war, schlüpfte sie zur Tür hinaus und bat den Hausdiener, ihr eine Mietkutsche zu holen.
Sie war beinahe von Nadrett befreit. Nicht einmal für Frederic William Henry Myers würde sie sich wieder in diese Falle begeben.