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FLUSSUFER, LONDON 10. März 1884

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Stinkende Feuchtigkeit machte das Gestein unter den Füßen des Toten Rick glitschig. Die Gegend roch immer nach Schimmel. Im verzerrten Spiegelbild von London oben, das den Onyxpalast bildete, war dies hier die Uferzeile, die Gegend, die dem Ufer der Themse entsprach. Die Entfernung von der Mauer hatte sie vor dem Zerfall geschützt, den deren Zerstörung verursachte, aber die eisernen Gasleitungen, die an den neuen Abwasserkanälen entlang verliefen, brachten ihre eigene Art von Verfall mit sich.

Wie die wachsende Fäulnis unter seinen Füßen bewies. Der Tote Rick suchte sich vorsichtig seinen Weg, aber das half ihm nichts, als die Mauern plötzlich um ihn herum bebten und der Boden unter seinen Füßen wackelte. Seine Ferse rutschte in etwas ekelhaft Weiches, und nur ein schneller Griff an die Mauer rettete ihn. Er wartete dort, alle Muskeln angespannt, bis das Beben aufhörte.

Zug. Meistens waren sie nicht zu spüren, obwohl eiserne Schienen die ganze Strecke von Blackfriars bis Mansion House durch den Boden verliefen. Die Zauber des Onyxpalasts – was von ihnen übrig war – schützten vor jener Störung. Der Palast mochte zwar unter London liegen, doch das bedeutete nicht, dass die Loks der unterirdischen Eisenbahn in seinen Gewölben ein und aus preschten. Aber dies hier, einer der verbliebenen Eingänge zum Palast, lag nahe dem Ort, wo die Gleise zum Bahnhof von Blackfriars den eingegrabenen Fluss Fleet querten, und so brachen die Erschütterungen öfter durch.

Hier war die Wahrheit nicht zu ignorieren. Man konnte die zerstörte Mauer vergessen. Man konnte die gusseisernen Rohre vergessen, die neben den Abwasserkanälen lagen. Man konnte die Gebäude vergessen, die in der Stadt über ihnen abgerissen wurden. Dies hier würde den Palast am Ende zerstören: die Inner Circle Railway der Sterblichen, ein Ring aus Eisen, dessen südliches Stück den Palast aufspießen würde wie ein Stück Fleisch über dem Feuer.

Sobald sie fertiggestellt wäre. Auf dem Markt nahmen ein paar Kobolde aus Cornwall Wetten an, wie lange der Palast danach noch überleben würde. Bisher reichten die Zahlen von einem Monat bis zu zehn Minuten. Und wenn nicht etwas katastrophal schiefging, würde die Eisenbahn vor Ende des Jahres fertiggestellt.

Was dann passieren würde, wusste der Tote Rick nicht. In einer Sache war er sich jedoch sicher: Wenn dieser Tag käme, wäre jeder Hund auf sich allein gestellt. Nadrett würde ihn nicht schützen. Also musste der Tote Rick bereit sein, und das bedeutete, sich jetzt um seine Schulden zu kümmern, damit er vor diesem unvermeidlichen Ende etwas zu horten hätte.

Die Dunkelheit war absolut geworden – keine Feenlichter erleuchteten seinen Weg –, aber vor ihm hörte er das Rauschen von Wasser. Nadrett verbot dem Skriker, den Goblinmarkt ohne Erlaubnis zu verlassen, doch er war schon einige Male auf seine Befehle hin in diese Richtung gekommen und wusste, wonach er suchte. Bald fanden seine tastenden Hände den Bronzering, der im Boden verankert war, und das dicke Seil, das daran festgeknotet war. Er schloss beide Hände darum und vertraute sein Gewicht schrittweise dem Tau an, als sich der Boden unter ihm weg neigte. Er spürte, wie das schwarze Gestein des Onyxpalasts endete und die Ziegel der Fleeteinhausung begannen.

Dann endeten die Ziegel, und es gab nichts weiter zu tun, als seinen Mut zusammenzunehmen und zu springen.

Das feuchte Seil schoss durch seine Hände, dann brannte es, als er es wieder fest packte. Für einen Augenblick war alles, was existierte, ein Geräusch und das Seil: Wasser unter ihm, rauer Hanf in seinen Händen und die freudige Erleichterung, dass er nicht gefallen war. Freue mich immer noch darüber, ja? Ich schätze, wenn ich schon sterben soll, will ich, dass es an einem besseren Platz passiert als hier.

Der Tote Rick ließ sich ins Wasser sinken, und er war vorsichtig dabei. Wenn es regnete, konnte der Fleet stark genug anschwellen, um einen Mann zu ertränken. Aber draußen musste das Wetter trocken gewesen sein, denn als seine Füße auf flachen Boden traten, reichte ihm das Wasser nur bis an die Knie.

Er griff in die Tasche des Ulstermantels, den er angezogen hatte. Die Mantelärmel nervten ihn, aber weniger, als eine Tasche über seine Schulter zu werfen, und manchmal brauchte man große Taschen. Dunkle Laterne, Kerzenstummel, Zündhölzer. Er strich mit Letzteren über die Mauer und hatte einen Augenblick später Licht.

Nicht, dass es viel zu sehen gegeben hätte. Der Tunnel aus gewölbten Ziegeln erstreckte sich in beide Richtungen und begrub den Fluss Fleet unter den Straßen von London. Aber das hier war einer der wenigen Orte, an denen Fremde möglicherweise in den Onyxpalast stolpern konnten, und der Tote Rick zog es vor, sie fernzuhalten. Er fand den Ziegelstein, der an das Seilende gebunden war, schätzte das Loch über ihm mit einem Blick ab und ließ den Stein beim ersten Versuch wieder hindurchfliegen, sodass er das Seil mitnahm. Jeglicher Fae, der hineinwollte, konnte einen anderen Eingang nehmen.

Der Tote Rick machte sich auf den Weg flussabwärts und hielt die Laterne hoch. Zahlreiche Bedrohungen konnten einen hier unten töten – Blasen mit schlechter Luft, plötzliche Flutwellen, andere Passanten –, doch diejenige, die ihm die meisten Sorgen bereitete, lauerte im Wasser selbst. Flusshexen waren ohnehin grausame Kreaturen, und die Hexe aus dem Fleet war mit der Zeit nur noch schlimmer geworden. Mittlerweile würde sie jeden töten, Sterbliche oder Fae. Und während das Licht vielleicht ihre Aufmerksamkeit erregen würde, wollte der Tote Rick sie, falls es zu einem Kampf kommen sollte, wenigstens kommen sehen. Mit seiner freien Hand zog er ein Bronzemesser und lief dann schneller.

Ein erleichtertes Schaudern durchfuhr ihn beim ersten Hauch frischer Luft. Der Tote Rick lachte leise und schüttelte den Kopf. »Ein harter Kerl bist du«, murmelte er. »Verbringst deine Tage auf dem Goblinmarkt, dann rennst du vor der Schwarzzähnigen Meg weg wie ein …«

Ein Platschen ließ jenen Vergleich verstummen. Der Tote Rick ließ sich in die Hocke sinken und hielt das Messer gezückt – doch es war nicht die Hexe. Vor ihm markierte ein Fleck von geringerer Schwärze das Ende des Ganges, wo der eingegrabene Fluss in die Themse mündete. Eine Silhouette war dort gerade ins Blickfeld getreten. Der Tote Rick blies sein Licht aus, aber es war zu spät. Die Gestalt rannte los.

Der Jäger in ihm musste sie verfolgen. Genau deshalb nutzte Nadrett ihn für Angelegenheiten wie die Jagd im Nachtgarten. Schwarze Hunde waren eine Art Goblin, so angsteinflößend, wie es nur ein Todesomen sein konnte, und auf dem Land hetzten sie immer noch Menschen in den Tod. Die Sterblichkeit von Menschen zog sie an, ob der Tod nahe oder weit entfernt war. Der Tote Rick hätte sehr angestrengt versuchen müssen, den Mann nicht zu verfolgen, sobald er losgerannt war.

Aber seine Beute kam nicht sehr weit. Als er in den kränklichbraunen Nebel hinauskam, fand der Tote Rick den Mann bis zur Hüfte in einer Senkgrube am Themseufer eingetaucht, wo er in den Wassern der zurückweichenden Gezeiten taumelte. Der Kerl erstarrte, als er spürte, wie die Messerklinge über seine Kehle kratzte.

Ein Müllfledderer, vermutete der Tote Rick – einer der Männer, die die Abwasserkanäle plünderten und nach Müll suchten, den sie weiterverkaufen konnten. Selbst mit einem Messer bewaffnet, doch eher dazu geneigt, zu fliehen als zu kämpfen. Es war ein glücklicher Zufall, dass er ihm genau hier an der Fleetmündung über den Weg lief. Das würde dem Toten Rick vielleicht eine unangenehme Jagd durch London ersparen. Es war noch eine Stunde vor der Morgendämmerung, schätzte er, und weil so wenige Leute auf den Straßen waren, hätte er wohl eine lange Zeit jagen müssen.

Selbst so weit herauszukommen, ließ seine Haut kribbeln, als sei er von Spinnen bedeckt. Die Brücken von Blackfriars streckten sich in langen Bögen aus Gusseisen beinahe über seinem Kopf über die Themse. Ein kleineres Stück lag im Mantel des Mannes, das Messer, das er gegen Konkurrenten in seinem Geschäft nutzte. Der Tote Rick war so sensibel, dass seine nackten Füße sogar ein winziges Stück Eisen am Flussufer in der Nähe fühlen konnten, irgendein Stück Schrott, das noch nicht von einem Lumpensammler gefunden und weiterverkauft worden war. Ungeschützt und mit einem Schaudern beim Gedanken an so viel Gefahr in solcher Nähe drückte er mit dem Messer fester zu, als er musste, und zog einen blutigen Strich.

»Ich habe in meiner Tasche ein Sixpence-Stück«, japste der Mann und versteifte sich unter seinen Händen. »Es gehört dir, nimm es …«

»Ich will dein Kleingeld nicht«, sagte der Tote Rick. Die Menschen boten immer zuerst Geld an. Danach dachte ihr Verstand sofort an Feinde. Ehe der Mann fragen konnte, wer ihn geschickt hatte, knurrte der Skriker: »Essen. Hast du welches?«

Ein Teil der Panik löste sich zu Verwirrung auf. »Essen?«

»Brot. Ein Sandwich oder Kekse, irgendetwas, das du vielleicht dabeihast.«

Trotz des Messers an seiner Kehle versuchte der Mann, sich umzudrehen, um seinen Angreifer anzustarren. »Du hast mich gejagt, weil du Hunger hast?«

Der Tote Rick packte den zerlumpten Mantel des Mannes mit beiden Händen, zerrte ihn aus der Senkgrube und schleuderte ihn wieder hinunter, sodass er im seichten Wasser auf dem Rücken lag. »Das nächste Mal schneide ich dir die Kehle durch und beantworte mir die Frage selbst. Hast du irgendwelches Essen dabei?« Nicht, dass es ihm viel bringen würde, den Mann zu töten – aber Drohungen funktionierten wunderbar, um der Konzentration eines Menschen auf die Sprünge zu helfen.

Sein Gefangener nickte. Die Bewegung wirkte verkrampft. Nach einem Augenblick wurde dem Toten Rick bewusst, dass der Müllfledderer versuchte, auf seine rechte Tasche zu deuten, ohne etwas anderes als seinen Kopf zu bewegen. Grunzend zerrte ihn der Skriker etwas weiter herauf, bis sie aus dem Wasser waren und auf etwas, das als fester Boden durchging. Dann schob er suchend eine Hand in die Tasche des Mannes und zog ein Päckchen alter Zeitungen heraus. Das ganze Ding war jetzt von schmutzigem Flusswasser getränkt, aber Fett hatte ein Ende befleckt, und das Aroma von Würstchen waberte daraus hervor.

»He, du da! Was, glaubst du, das du da tust?«

Die Frage war in einem derartigen Tonfall von selbstzufriedener Autorität gehalten, dass der Tote Rick anfangs dachte, sie käme von einem Wachtmeister. Er duckte sich instinktiv. Nadretts Ausflüge nach oben brachten manchmal Probleme mit den Polizisten, und einige von jenen Bastarden waren zu voreilig mit ihren Revolvern. Doch als er aufblickte, war es nur ein Mann – irgendein Kerl weiter oben am Ufer, zwischen zwei Anlegestellen.

Der Tote Rick schätzte die Entfernung zwischen ihm und dem Neuankömmling ab und fragte sich, ob er sich mitten im Sprung verwandeln und dem Bastard die Kehle herausreißen konnte. Menschenform oder nicht, der Tote Rick war immer noch offensichtlich ein Fae, und es war nicht sicher, so in London herumzuspazieren.

Aber der Fremde kniff die Augen zusammen, und zwar nicht wie ein Mann, der sich fragte, was er gerade anstarrte. Der Kerl kam mit drei schnellen Schritten näher und sagte: »Du überfällst ihn wegen Brot, oder? Scheißgoblins. Tja, ich bin der Prinz vom Stein, und ich befehle dir, lass ihn los.«

Ein ungläubiges Bellen entfuhr dem Toten Rick. »Du? Der verdammte Prinz vom Stein?«

Er hatte den Mann nie selbst gesehen, nur Geschichten gehört. Nadrett beschwerte sich oft darüber, dass der Prinz seine Nase in Dinge steckte, in die sie nicht gehörte. Ach, angeblich gehörte die Nase des Kerls überall hin. Er war immerhin der sterbliche Herrscher des Onyxhofs, Gefährte der Feenkönigin von London, mit Autorität über alles, was mit seiner Art zu tun hatte. Nur dass es keinen Onyxhof mehr gab: bloß eine Gruppe genusssüchtiger Höflinge, die ihre letzten Vergnügungen genoss, und einen Cockneyprinzen, der immerhin so tat, als hätte er über irgendetwas die Kontrolle. Was die Königin betraf: Sie war seit Jahren verschwunden.

Der Tote Rick lugte durch die Finsternis und schnüffelte im Gestank der Themse nach dem Geruch des Mannes. Er konnte den Feenhauch riechen, der den Prinzen an den Onyxpalast band, und dessen Effekt im Gesicht des Kerls sehen: Er wirkte seltsam jung und alt, wie ein Mann, der lange vor seiner Zeit gealtert war. Tja, das war kein Wunder, wenn der Palast zerbröckelte. Es hieß, das hätte die Königin beinahe völlig ausgezehrt, in den Jahren, bevor sie verschwunden war. Der Tote Rick wäre überrascht gewesen, wenn all das spurlos am Prinzen vorübergegangen wäre.

Er hatte einen Fuß auf den Brustkorb des Müllfledderers gestellt, um ihn festzuhalten. Nun spürte er, wie sich der Mann unruhig rührte, als Verwirrung über Panik siegte. Das kurze Aufblitzen von Mitleid, das der Tote Rick für den alternden, erschöpften Prinzen empfunden hatte, verflog und wurde von wichtigeren Problemen vertrieben. »Das ist nicht deine Angelegenheit«, sagte er zum Prinzen.

»Zum Teufel damit. Dieser Bastard, den du da hast, kann sich kaum selbst ernähren. Du kannst nicht einfach sein Essen stehlen, damit du hier oben mehr Ärger machen kannst!«

Die arrogante Antwort des Prinzen wäre ärgerlich genug gewesen, wenn sie richtig gewesen wäre. Sein völlig fehlendes Verständnis machte den Toten Rick rasend vor Wut. Ärger machen? Er wünschte, er könnte es sich leisten, dafür Brot zu verschwenden. Stattdessen war er hier draußen, wo die Brücken von Blackfriars über seinem Kopf hingen wie zwei Äxte kurz vor dem Fall, weil er irgendeine Art Versicherung vor der Zukunft brauchte und nicht wollte, dass ihm von irgendeinem des halben Dutzends Fae, denen er etwas schuldete, die Ohren abgeschnitten würden. Und jede Minute, die dieser Prinz hier stand und ihn belehrte, war eine weitere Minute, die der Tote Rick mit der Last des Eisens aushalten musste, wegen der er jaulen und heimrennen wollte.

Also machte er sich nicht die Mühe zu antworten. Stattdessen knurrte er bloß und warf sich nach vorn.

Der Versuch, hier draußen die Gestalt zu wechseln, fühlte sich an, als würde er sich alle Knochen einzeln brechen. Das Eisen kämpfte gegen ihn an: Es scherte sich nicht darum, ob er Mann oder Bestie war, aber es hasste es, ihn sich zwischen den beiden verwandeln zu lassen. Als der Tote Rick den Prinzen erwischte, war er auf halbem Weg dazwischen gefangen, ein brüllendes Monster, das den Mann in einem Gewirr aus Fell und Haut und Zähnen umriss.

Schmerz hielt ihn davon ab, mehr zu tun. Sein Schwung schleuderte ihn gegen die hölzerne Säule eines Krans, wo ein Eisennagel an seinem Rücken brannte wie Feuer und Eis. Der Tote Rick jaulte, wand sich und fand sich abrupt wieder in seiner menschlichen Gestalt. Er lag japsend am Boden und versuchte, sich nicht zu übergeben, bis er seine Muskeln genug unter Kontrolle hatte, um den Kopf zu heben.

Mittlerweile war er allein. Der Müllfledderer war geflohen, und ebenso offensichtlich der Prinz.

So viel zu ihm und seinen Befehlen. Wie es schien, wusste der Mann genau, wie weit seine Autorität reichte.

Der Tote Rick zwang sich auf die Beine. Unten im Matsch lagen sein Messer und das Zeitungspäckchen unberührt. Der Müllfledderer hatte sich nicht darum gekümmert, sein Essen aufzusammeln, ehe er geflohen war. Aber ohne den Mann brachte es dem Toten Rick gar nichts.

Er brauchte keine Hundenase, um ihn aufzuspüren. Die Fußabdrücke waren im Matsch deutlich zu sehen und führten nach Westen, unter die Brücken und auf die gewaltige Mauer der Uferbefestigung hinauf. Der Tote Rick biss die Zähne zusammen und rannte ihm hinterher. Unter dem Granitexterieur der Uferzeile lagen Eisenrohre, aber das war immer noch besser als die Brücken, und der Tote Rick war leichtfüßig. Er holte schnell auf.

Der Müllfledderer hörte ihn kommen und wirbelte mit dem Messer in der Hand herum, um sich ihm zu stellen. Der Tote Rick hielt das Päckchen und ebenso sein Messer hoch. Hier oben hatte er nicht viel Zeit. Die Polizisten beobachteten die Befestigungsmauer wirklich. »Ich bin noch nicht mit dir fertig. Aber wenn du tust, was ich dir sage, kommst du ohne einen Kratzer davon. Verstanden?«

Eindeutig nicht, aber der Mann nickte misstrauisch, bereit, dem zu lauschen, was dieser offensichtlich Wahnsinnige zu sagen hatte, wenn es bedeutete, seine eigene Haut zu retten. »Nimm das«, sagte der Tote Rick und warf ihm das Päckchen wieder zu. »Nun leg es vor deine Füße und sag: ›Eine Gabe für das gute Volk.‹«

»Was?«

Nicht ganz so gelähmt vor Angst, wie der Tote Rick gedacht hatte. »Tu es, oder du verlierst ein Ohr. Deine Wahl.«

Kopfschüttelnd ließ der Mann das Päckchen auf den gepflasterten Fußweg fallen. »Eine Gabe für das gute Volk. Was jetzt?«

»Tritt zurück.« Er gehorchte. Mit einer schnellen Bewegung schnappte der Tote Rick sich das Päckchen und wich zurück. »Jetzt verschwindest du. Ab nach Hause oder in die Kanalisation. Das ist mir egal. Geh mir nur aus den Augen.«

Das musste er dem Müllfledderer nicht zweimal befehlen. Der drehte sich um und rannte weiter flussaufwärts, Richtung Westminster, weg vom Toten Rick.

Der wartete, um sicherzugehen, dass der Mann nicht umkehren würde, steckte dann sein Messer zurück in dessen Scheide und riss das feuchte, fettige Zeitungspapier auf. Darin war ein Wurstbrötchen. Er scherte sich nicht darum, ob das Ding von Flusswasser durchtränkt war, er versenkte seine Zähne darin und riss ein Stück heraus.

Es zu essen, war, als würde er eine warme Decke um sich legen, nachdem er die ganze Zeit in der eiskalten Winterluft gestanden hatte. Die Rohre in der Uferbefestigung, die Gaslaternen über ihm, die Brücken hinter ihm – alles wurde zu nichts weiter als menschlichen Artefakten, Metallstücken, die zu nützlichen Formen gebogen waren. Eine Kirchenglocke hätte ihm jetzt ins Ohr läuten können, und er hätte sie nur ausgelacht. Sterbliche Nahrung, die als Opfer an die Fae dargebracht wurde: das Einzige, was sie in Sicherheit über die Straßen von London laufen ließ.

Und heutzutage fürchterlich schwierig zu bekommen. Nadretts Sterbliche in ihren Käfigen dienten vielen unterschiedlichen Zwecken, aber alle von ihnen wurden gezwungen, jeden Tag Brot zu opfern, bis sie verkauft wurden oder Feennahrung aßen oder starben. Das trug viel dazu bei, den Verlust von Glauben unter den Menschen oben wettzumachen, die nicht länger Nahrung für die Feen hinausstellten, außer in verstreuten Gegenden weit draußen auf dem Land. Viel, aber nicht genug, nicht bei all den Flüchtlingen, die sich im Palast drängten. Wenn der Tote Rick irgendeine Hoffnung haben wollte zu überleben, wenn der Markt erst weg wäre, musste er sich selbst etwas besorgen.

Er bereute bereits, dass er jenen Bissen gegessen hatte. Das bedeutete, dass er einen Bissen weniger hatte, mit dem er seine Schulden bezahlen oder aus London fliehen konnte, wenn die Zeit kam. Doch bei all diesen Qualen um ihn herum … Er war seit Ewigkeiten nicht mehr oben gewesen und hatte vergessen, wie schrecklich sich das anfühlte.

Er seufzte und starrte das zerfetzte Brötchen an.

Dann sah er sich um und betrachtete die Stadt, die er beinahe nie sah. London, voll von Sterblichen – nicht in Käfigen und gebrochen, sondern freie Männer und Frauen und Kinder, Millionen von ihnen, die in völliger Unwissenheit über den Verfall unter ihren Füßen lebten. Und unberührt von dem Feenmakel, der sie unfähig zu opfern machen würde. Je länger der Tote Rick hier draußen blieb, desto größer war das Risiko, dass sein Herr es bemerken würde – aber der Bissen, den er gegessen hatte, schützte ihn für einen ganzen Tag. Mit ihm im Magen konnte er jemand anderen zum Überfallen finden, mehr Brot sammeln, sich für das Ende, das kommen würde, bereit machen.

Er würde einen Preis dafür zahlen – das tat er immer –, doch dieses eine Mal war es das vielleicht wert.

Der Tote Rick stopfte den Rest des Brötchens in seine Manteltasche und konzentrierte sich. Nicht sehr. Er war keiner von den Fae, die stolz auf all die Gesichter waren, die sie erfinden konnten, und ließ sich nicht wie einen feinen Gentleman oder einen kleinen Jungen oder irgendetwas anderes aussehen. Er war zufrieden damit, wie er selbst auszusehen – nur ohne den Feenhauch. Für seine Zwecke reichte das.

Dann marschierte er los, pfiff »Bedlam Boys« vor sich hin und suchte einen weiteren armen Bastard, den er ausrauben konnte.

Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit

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