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DER GOBLINMARKT, LONDON 19. März 1884

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»Träume, gute und schlechte! Geliebte, von den Toten zurück, gerade ganz billig, oder Dämonen, die euch für nur etwas mehr jagen … Guten Morgen, mein Hundefreund. Man sagt, dass es dir dieser Tage gut geht.«

Der Tote Rick starrte Broddy Bobbin finster an und gab ihm einen Wink, dass er seine Stimme senken solle. »Glaubst du, ich will, dass das über den ganzen Markt geplärrt wird, Mann? Nur weil ich genug habe, um die Leute davon abzuhalten, mir die Finger zu brechen, heißt das nicht, dass ich bereit bin, mein Brot herumzuschwenken wie irgendein reicher Angeber.«

Die Truhe, auf der Bobbin stand, brachte ihn nur auf die Größe des Toten Rick. Wie die meisten Hauselfen war er kaum kindergroß. Jegliches derart hässliche Kind jedoch wäre in Gefahr, in einem Fluss ertränkt zu werden. Er lächelte den Toten Rick an, aber es war eine unschöne Sache, schlimm genug für das Gesicht eines Goblins. »Also hast du wirklich Brot. In diesem Fall: Lass mich dir zeigen …«

Der Skriker rollte mit den Augen. »Ich habe dir gesagt, dass ich meine Schulden abbezahle. Selbst wenn ich deine armseligen kleinen gebrauchten Träume haben wollen würde, hätte ich für sie nichts zu entbehren. Ich suche nur nach Cyma.«

Bobbin verzog den Mund, aber sein verletzter Blick war sogar noch schlimmer als sein Lächeln, und das wusste er. Nachdem er den Toten Rick als verloren abgeschrieben hatte, deutete er mit einem knorrigen Daumen weiter die Kammer hinunter. »Sie hat vor einer kurzen Weile mit Kohlen-Eddie geredet. Sag du diesem Bastard, dass er nächstes Mal besser ein paar wertvolle Träume stiehlt. Die letzte Lieferung war reiner Müll.«

In diesen Tagen waren sie immer Müll. Träume richtig zu stehlen, kostete Zeit und Mühen. Die Goblins und Pucks, die derartige Dinge taten, konnten beides nicht länger entbehren. Hauptsächlich gab sich der Goblinmarkt mit dem zufrieden, was er bereits hatte, sodass alle immer wieder denselben Tand und Müll kauften und verkauften, wie ein Blutegel, der sich selbst aussaugte. Und die Waren wurden mit jedem Austausch kaputter und abgetragener.

Das hielt sie jedoch nicht davon ab, es zu versuchen. Das hier, der größte von den eigentlichen Handelsplätzen des Markts, war voller Lärm und Bewegung. Keine Sterblichen – jene wurden anderswo verkauft, auf einem Fleischmarkt voll schreiender Säuglinge und Menschen in Käfigen –, aber tausend Arten von Dingen, von gefangenen Träumen bis zu zerkratzten Phonografenzylindern. Fae aller Arten und Nationen kamen hierher, um zu kaufen oder zu verkaufen. Die Mehrheit mochten Engländer sein, aber da waren Schotten und Iren und Waliser, Deutsche und Spanier und Franzosen, Kreaturen von so weit her, dass sie vielleicht eine ganz andere Art von Wesen waren. Ein Stall enthielt eine gewaltige dreiköpfige Schlange, und der Elf, der davor stand, verkündete, sie sei eine Naga aus dem entfernten Indien. Sie beobachtete die Passanten mit benebeltem und unfreundlichem Blick.

Der Tote Rick fand Cyma, während sie vor einem gesprungenen Spiegel stand und ein Kleid aus bedruckter Baumwolle vor ihren Körper hielt. Das Ding sah seltsam aus, mit einer winzigen Corsage, die nicht weiter als bis über die Brust reichte, und einem schmalen Rock, der locker von dort hinunterfiel. »Wo im Feenland ist das hergekommen?«

Cyma schüttelte amüsiert und mitleidsvoll den Kopf. »Erinnerst du dich nicht? So etwas hat man früher getragen, vor Jahren – sterbliche Frauen haben das. Während der Herrschaft des Prinzregenten. Ich habe das wundervoll gefunden. Sehr griechisch, findest du nicht?«

Es hätte chinesisch sein können, was ihn betraf. Der Tote Rick trat näher und murmelte: »Ich kann dich jetzt ausbezahlen. Zum Großteil zumindest – ein bisschen fehlt mir immer noch. Aber wenn du mich ein oder zwei Bissen behalten lässt, kann ich den Rest wahrscheinlich organisieren.«

Er hatte sich Cyma bis zum Schluss aufgehoben, weil sie freundlicher als seine anderen Gläubiger war. Sie war eine Hofdame gewesen, besagten Gerüchte, damals, als es noch einen Hofstaat gegeben hatte, der über die wenigen Gefolgsleute des Prinzen hinausgegangen war, aber sie verbrachte ihre Zeit nicht damit, in den verbliebenen Gärten mit der knappen Handvoll Lords und Ladys zu schäkern, die übrig waren. Sie konnte es nicht: Cyma hatte ihre eigenen Schulden, von einer Art, die nicht mit Brot zurückgezahlt werden konnten, und Nadrett hielt sie unter Kontrolle. Das machte sie mitfühlender als die meisten anderen. Sie würde ihm die zusätzliche Verzögerung vielleicht verzeihen.

Der Tote Rick war verblüfft, als sie lächelte und ihm die Wange tätschelte. »Du bist ein Süßer, hm? Mich auszahlen, wenn ich weiß, dass du so gut wie mittellos bist. Du musst dir keine Sorgen machen. Behalt es für dich. Es stört mich nicht.«

Er spannte sich misstrauisch an. »Im Tausch gegen was?«

Cyma hob die Augenbrauen. »Gar nichts. Ich brauche es nicht, Toter Rick.«

Die Benutzung seines Namens war so gut wie eine gesamte kodierte Botschaft. Niemand sonst benutzte ihn. Beinahe niemand auf dem Markt kannte ihn. Er war nur Nadretts Hund, ein namenloser Sklave. Jene Worte auf Cymas Lippen zu hören, verriet ihm, dass sie nicht irgendein Spielchen spielte und ihre Verzeihung gegen irgendeinen Gefallen von ihm einhandeln wollte. Sie meinte es so. Er schuldete ihr nichts mehr.

Warum?

Selbst wenn sie irgendwelche sterblichen Geliebten an der Leine gehabt hätte, wäre das Brot wertvoll gewesen. Damit konnte sie sich praktisch alles kaufen, was sie wollte. Jenes Kleid, und alles andere, was der gelangweilte Puck hinter ihr zu verkaufen hatte. Alles, außer Freiheit von Nadrett. »Was hast du getan, eine Bäckerei geplündert?«

Sie lachte. »Nein, nein. Besser als das. Ich gehe fort, Toter Rick. Ich habe genug von all dem hier.« Eine Hand machte einen eleganten Bogen und deutete auf die geschmacklosen Exzesse des Goblinmarkts um sie herum. »Ich gehe fort.«

Das rief ein seltsames Stechen in seinen Eingeweiden hervor. »Du glaubst, du kannst vor Nadrett weglaufen?«

»Nicht weglaufen, nein …« Cymas Miene wurde finster. »Ich weiß, wie Nadrett ist. Aber ich habe getan, was er mir befohlen hat, und meine Schulden beglichen, und jetzt … tja, ich muss in die Zukunft blicken, nicht wahr?«

Das spiegelte die Gedanken des Toten Rick wider und machte den Krampf in seinen Eingeweiden schlimmer. »Wohin?«

Sie legte verschmitzt einen Finger an ihre Nase. »Das wüsstest du wohl gerne. Aber ich bin zu schlau, um irgendetwas zu verraten. Ich will nicht, dass irgendjemand meinen Platz stiehlt. Behalt das Brot, Toter Rick, mit meinen guten Wünschen. Benutze es, um dir deine eigene Freiheit von diesem schrecklichen Kerl zu erkaufen.«

Der Schmerz war wie ein Stachel in seinem Inneren. Wenn ich nur könnte.

Er murmelte ein Danke für das Brot an Cyma und trat den Rückzug an, ehe seine Verbitterung ihn überwältigen konnte. Dann bahnte er sich seinen Weg tiefer ins Labyrinth des Goblinmarkts und suchte das eine, was sogar noch seltener war als Brot: Einsamkeit.

Der Korridor, zu dem er ging, hatte sich einst nach links verzweigt, aber der Einsturz jenes feinen Torbogens hatte das Gestein herunterkrachen lassen und allem, was größer als eine Maus war, den Weg versperrt. Aus der anderen Richtung kam ein Hauself daher, als sich der Tote Rick dem Schutthaufen näherte, ein mürrischer irischer Kerl, der gelegentlich Aufgaben für Lacca, einen weiblichen Boss vom Goblinmarkt, erledigte. Der Skriker lehnte sich vielleicht zehn Fuß vom gefallenen Gestein entfernt an die Wand und wühlte in seinen Hosentaschen, als würde er in deren leeren Tiefen nach etwas suchen, bis der Hauself um die Ecke gebogen und in den Raum dahinter gegangen war.

Dann sprang der Tote Rick auf den Felssturz.

Der wirkte solide und war es zum Großteil. Aber ein agiler Kerl konnte auf einen der größeren Blöcke klettern, und von dort war es offensichtlich, dass die Masse dahinter eine kleine Lücke gelassen hatte, gerade groß genug, dass sich jemand von der Größe des Toten Rick durchquetschen konnte. Dann rutschte er auf dem Bauch über ein poliertes Stück Marmor, das den Einsturz auf wundersame Weise unbeschadet überlebt hatte, und in den Raum dahinter hinaus.

Es war stockfinster, aber seine Hände kannten ihre Aufgabe. Er warf ein dunkles Tuch über das Loch, durch das er hereingekommen war, beschwerte dessen unteren Rand mit einem dicken Holzstück, dann fand und öffnete er die Kiste. Heraus schwebte ein Trio Feenlichter. Die hirnlosen Dinger hatten nichts dagegen, hin und wieder eingesperrt zu werden, und das war die einzige Möglichkeit, wie er sie davon abhalten konnte, in seiner Abwesenheit wegzuschweben – wegzuschweben und seinen geheimen Zufluchtsort zu verraten.

Nach den Maßstäben des Goblinmarkts war dieser komfortabel. Er besaß Decken und einige Kissen und diverse Kleinigkeiten, die ihn amüsierten, aber auf dem Markt nicht viel wert waren. Alles von echtem Wert war unter einem lockeren Stein am Boden, an der Hinterseite des Raums, wo der Rest des Felssturzes den Durchgang ganz blockiert hatte.

Er inspizierte es aus nagender Furcht. Ein kleiner Verlobungsring, von einer sterbenden alten Jungfer genommen, die sich an die unerschütterliche Hoffnung geklammert hatte, dass ihr Verlobter von seiner Reise nach Indien zurückkehren würde. Die Träne einer Meerjungfrau, eine üppige blaugrüne Perle. Eine Porträtfotografie einer Frau. Dazu legte er die fünf Stücke Brot: die Schulden, die er nach Cymas Worten behalten sollte.

Fünf Stücke. Das reichte, um London und Nadretts Einfluss weit hinter sich zu lassen. Dann könnte er sich seinen Weg durch das Land suchen, die Kirchen und Eisenbahnen meiden, bis er irgendeinen anderen Hof fände, der ihn aufnähme.

Aber es würde bedeuten, das eine zu verlassen, was er wirklich ersehnte – das eine, was kein verborgener Schatz ihm erkaufen konnte, und wenn er zehnmal so groß wäre.

Eine Stimme flüsterte durch die dünne Luft, trocken wie Staub: »Wie dringend willst du es zurück?«

Der Tote Rick schoss auf die Füße und drückte seine Schultern an die Wand. Seine Nackenhaare stellten sich auf, und ein Knurren dröhnte instinktiv in seiner Kehle. Aber da war niemand, an den er es richten konnte.

»Knurr so viel du willst«, sagte die Stimme amüsiert. »Und wenn du das Gefühl hast, dass du dein Territorium genug verteidigt hast, dann denk über meine Frage nach und beantworte sie.«

Genug? Wie konnte er sein Territorium überhaupt verteidigen? Die Ohren des Toten Rick lauschten nach dem geringsten Geräusch, seine Nase erfasste jeden Geruch in der Luft. Niemand war über und zwischen und unter den Steinen in sein Refugium geklettert, nicht einmal eines der kleinen geflügelten Irrlichter, die manchmal mit Botschaften für andere Fae herumflogen. Niemand versteckte sich irgendwo hier in dem kleinen Raum. Er war völlig allein – und doch war irgendwie diese Stimme bei ihm.

Fae hatten viele seltsame Talente. Eine Stimme vom Körper zu trennen, war kaum das Beeindruckendste. Aber wie hatte der Sprecher diesen Ort gefunden?

»Verschwinde aus meinem verdammten Heim«, fauchte er und ballte die Hände nutzlos zu Fäusten. »Ich beantworte keine Fragen von einem gesichtslosen Bastard. Wenn du mit mir reden willst, mach es woanders.«

Unerschüttert pflichtete ihm die Stimme bei: »Das könnte ich tun. Aber du würdest immer noch wissen, dass dein Zufluchtsort befleckt worden ist – und du würdest nicht bekommen, was du willst. Also stelle ich dir erneut die Frage: Wie dringend willst du es zurück?«

Unter dem Zorn, dem Instinkt, den Eindringling zu verjagen, regte sich Furcht. Der Tote Rick sagte: »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

Sein Blick schoss herum, während er sprach, als würde das irgendetwas nützen. Die Stimme schien von überall gleichzeitig zu kommen, und es gab keine Gerüche, die ihm halfen. Aber einen Akzent, ja – den polierten Tonfall eines Gentlemans. Und das herablassende Kichern von einem. »Du bist ein zu ehrlicher Hund dafür, Toter Rick. Aber wenn du keine Frage beantworten willst, dann wirst du vielleicht auf ein Angebot reagieren. Also gut: Ich kann dir dein Gedächtnis zurückgeben

»Lügner«, knurrte der Tote Rick und drückte sich von der Wand weg, als gäbe es etwas, gegen das er kämpfen konnte.

»Warum so etwas annehmen? Weil Nadrett es weggesperrt hält? Das hier ist der Goblinmarkt. Solche Dinge wechseln ständig die Hände, durch gerechtfertigte oder heimtückische Mittel. Oder vielleicht bist du bei Wohltätigkeit misstrauisch. Ich versichere dir, ich will im Gegenzug etwas von dir. Und so kommen wir wieder zur ursprünglichen Frage, nämlich wie viel dir dein Gedächtnis wert ist.«

Wäre der Sprecher im Raum gewesen, hätte er die Antwort darauf erkannt. Jeder Muskel im Körper des Toten Rick war vor Verlangen angespannt. Wenn er den gesammelten Staub und Müll aus seiner Zeit auf dem Goblinmarkt beiseitewischte, lag darunter eine blanke Steinplatte – nein, das war ein zu angenehmer Vergleich. Jene neueren Erinnerungen waren der Schorf über einer Wunde und verbargen die klaffende, blutige Leere darunter. Eine nie heilende Wunde, die ihm alles raubte: seine Vergangenheit, sein Selbst – sogar seinen Namen, bis Cyma ihm diesen zurückgegeben hatte.

Wie viel würde er bezahlen, um wiederzubekommen, was Nadrett ihm genommen hatte?

Misstrauen half ihm, die Kontrolle über seine Stimme zurückzuerlangen. »Du hast schon einen Preis im Sinn, sonst hättest du das Angebot nicht gemacht.«

»Sehr aufmerksam. Ja, ich habe meinen Preis, und noch besser, ich glaube, du wirst ihn angenehm finden. Ich möchte, dass du dich gegen deinen Herrn wendest.«

Nadrett. Die Hand an der Leine, die Stimme, die ihn Hund nannte und das Wort schmerzen ließ. Es brauchte viel, dass sich ein Hund gegen seinen Herrn wandte, aber Nadrett hatte jene Messlatte vor Jahren übersprungen. Allerdings … »Wenn ich ihn töten könnte, hätte ich es bereits getan«, sagte der Tote Rick.

»Dann trifft es sich gut für dich, dass der Tod nicht das ist, was ich im Sinn habe. Tatsächlich würde ich es derzeit vorziehen, wenn er am Leben bliebe. Sein Ableben würde mir nichts nützen. Noch nicht zumindest. Aber sobald ich habe, was ich will …« Die Stimme lachte. »Dann werde ich die Kette von deinem Hals streifen und zusehen, wie du ihm die Kehle herausreißt.«

Der bloße Gedanke rief ihm den Geschmack von Blut in den Mund. Nadrett durch den Nachtgarten zu jagen, bis die Beine des Bastards nachgaben und ihm die Puste ausging und er zu Boden fiel, und sich dann mit gefletschten Zähnen auf ihn zu stürzen …

Oder ihn einfach zu erschießen oder ihm ein Messer in den Rücken zu stechen. Der Tote Rick scherte sich ehrlich nicht darum, wie Nadrett sterben würde. Solange er nur sein Gedächtnis zurückbekäme.

Doch wie der Sprecher gesagt hatte, das hier war der Goblinmarkt. Und man durfte niemandem hier vertrauen. »Du erwartest von mir, dass ich meinen Hals für dich riskiere – wenn ich nicht einmal weiß, wer du bist?«

Was auch immer für ein Gesicht am anderen Ende jener Stimme war, der Tote Rick konnte sich vorstellen, wie es lächelte. »Derzeit nicht. Wir werden dieses Bündnis einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen angehen, wobei jeder den anderen auf Anzeichen eines Betrugs hin beobachtet. Für den Moment ist das, worum ich bitte, kein besonderes Risiko. Bloß Informationen, die du für mich finden sollst.«

Der Tote Rick spuckte auf das Gestein und fragte sich, ob der Fremde es hören konnte. »Nein. Ich mache gar nichts für einen Geist, den ich nicht sehen kann. Woher soll ich überhaupt wissen, dass du tun kannst, was du sagst?«

Ein Seufzen antwortete ihm. »Also gut. Als Beweis für meinen guten Willen, lass mich dir etwas geben: ein Bruchstück deiner Vergangenheit.«

Dem Skriker stockte der Atem, seine Nackenhaare stellten sich wieder auf – aber nicht aus Zorn oder Furcht.

»Die erste Aufgabe, die Nadrett von dir verlangt hat«, sagte die Stimme, »war es, einen Sterblichen aus der Welt oben zu stehlen. Einen jungen Mann – wenig mehr als einen Jungen eigentlich. Ire, und arm. Er hatte eine Freundin, ein Mädchen im selben Alter. Nach dem, was ich gehört habe, versuchte sie, dich zu töten, als ihr klar wurde, was du gerade tatest.«

Eine Pause. Der Tote Rick zwang Spucke zurück in seinen trockenen Mund und sagte: »Nach dem, was du gehört hast. Also kennst du die Geschichte. Na und?«

»Die Geschichte endet nicht damit. Oder eher, sie beginnt nicht damit. Der Junge, den du gestohlen hast, und das Mädchen, das seine Freundin war – sie waren beide Freunde von dir.«

Ihre Schreie waren eines der ersten Dinge, an die er sich erinnerte. Wie sie in der Leere seines Gedächtnisses widerhallten. Nur halb kohärent – nur halb Englisch … er hatte nie verstanden, was sie da schrie, doch der Sinn ihrer Worte war leicht auszumachen gewesen. Ebenso wie das Entsetzen in ihrem Gesicht.

Die Stimme sagte: »Nadrett wollte seine Kontrolle über dich testen und sichergehen, dass du dich an gar nichts erinnern konntest. Du hättest nie einem von ihnen geschadet, wenn du es gewusst hättest. Und es amüsierte ihn, dich dazu zu bringen, dich gegen die zu stellen, die dir vertrauten.«

Der Zorn, der im Toten Rick aufstieg, war ein seltsames Ding, mit einer völligen Leere im Kern. Er konnte nicht wirklich wütend sein wegen der Freunde, die er betrogen hatte. Er erinnerte sich nicht, wer sie waren. Nein, es ist schlimmer als das, dachte er in grimmiger Verzweiflung. Ich erinnere mich nicht, was Freunde sind. Wem hätte er diesen Namen geben können? Cyma? Aber der Instinkt war da, der Impuls zur Loyalität, egal, wie sehr dieser in den letzten sieben Jahren gebeutelt worden war, und deshalb zitterte er vor Wut, die kein Ventil hatte. Der Tote Rick jaulte beinahe, nur um irgendetwas hinauszulassen.

In dem Augenblick, als er diese Zerreißgrenze erreichte, sprach der Fremde wieder, als hätte er die Belastbarkeit des Toten Rick bis auf das letzte Quäntchen ausgemessen. »Nadrett hat dich von allen isoliert, die dich davor kannten, dir verboten, den Goblinmarkt ohne seinen Befehl zu verlassen, jene eingeschüchtert, die vielleicht mehr hätten sagen können. Ich bin nicht an seine Einschränkungen gebunden. Für jedes bisschen Information, das du mir bringst, jede Aufgabe, die du für mich ausführst, werde ich dir ein Stück deiner eigenen Vergangenheit erzählen.«

Das unterdrückte Jaulen hatte sich wie ein Knoten in seinem Hals festgesetzt, der beim Schlucken schmerzte. Mit belegter Stimme sagte der Tote Rick: »Du könntest Dinge erfinden.«

»Das könnte ich. Aber das werde ich nicht. Tatsächlich gebe ich dir vielleicht Möglichkeiten, um zu überprüfen, was ich sage. Aber das führt am Thema vorbei. Am Ende geht es darum, Nadrett zu schaden. Willst du mir helfen?«

Die dicken Nägel an den Füßen des Toten Rick kratzten über das Gestein, während sich seine Zehen nach unten krallten, als würde er gleich springen. Doch in welche Richtung?

Es ist dumm. Es ist verdammt dumm. Einzuwilligen, mit jemandem zusammenzuarbeiten, den du nicht einmal sehen kannst – du weißt, dass man niemandem an diesem Ort trauen darf …

Aber das Verlangen und die Rachegelüste waren stärker als sein Verstand. Und der Fremde hatte ihn beim Namen genannt.

»Was kann ich für dich tun?«, fragte der Tote Rick.

»Ausgezeichnet.« Freude schwang in diesem Wort mit, machte aber schnell Platz für kühle Anweisungen. »Erzähl mir: Was weißt du über Passagen ins Feenland?«

Der Tote Rick schnaubte. »Bist du nicht derjenige, der hierhergekommen ist und betont hat, dass ich keine Erinnerungen habe?«

»Du hattest sieben Jahre, um neue zu erlangen. Weißt du gar nichts?«

Der Skriker glitt an der Wand hinunter, bis er in einer bequemen Hocke saß, und kratzte an seinem zerfetzten Ohr. »Nur den üblichen Blödsinn. Jeder sagt, dass er irgendetwas weiß, und so gut wie jeder lügt.«

»Weil die meisten Passagen, die wir kannten, verschwunden sind. Die Eisenbahnen sind nicht nur eine Bedrohung für den Onyxpalast. Sie haben auf dem Land sehr viel Zerstörung angerichtet. Du hast hier natürlich die Flüchtlinge gesehen. Ihre Heime sind das Geringste, was verloren gegangen ist. Diese Gleise aus Eisen, die die Sterblichen über das Land verlegt haben, wirken wie Gräben und Kanäle, die formen, wie das Wasser fließt. Sie machen die üblichen Wege unpassierbar.«

»Du willst, dass ich einen Weg für dich finde, um ins Feenland zu kommen?« Der erste Schritt war einfach: England verlassen. An irgendeinen Ort gehen, der nicht so gründlich mit Eisen bedeckt worden war, noch nicht. Und dann hoffen, dass man irgendwo im amerikanischen Grenzland eine Passage finden konnte, oder die Rakshasas oder wen auch immer in Indien überzeugen, einen durchzulassen, und sich auf sein Glück verlassen, wie auch immer deren Teil des Feenlandes wohl aussah.

»Nein«, sagte die Stimme. »Ich möchte, dass du herausfindest, was Nadrett gefunden hat.«

Das Herz des Skrikers pochte hart gegen seine Rippen. »Zur Hölle mit dir. Er hat gar nichts von der Art. Meinst du nicht, wir würden es wissen, wenn er das hätte?«

»Das kommt darauf an. Je länger Nadrett wartet, desto größer wird die Verzweiflung. Desto mehr werden Fae für die Rettung, die er anbietet, bezahlen. Aber ich vermute, dass er es noch nicht hat. Eine neue Passage ins Feenland kann keine simple Sache sein, oder klügere Köpfe als seiner hätten es mittlerweile herausbekommen. Man hat es jedenfalls versucht. Nein, ich glaube, dass Nadrett für seine eigenen Ziele arbeitet und kurz vor einem Erfolg steht.«

Es war unnötig zu fragen, warum der Fremde diese Information wollte. Sie wäre wertvoller als Brot, mächtiger als der leere Thron des Onyxhofs. Aber … »Und wie genau soll ich das für dich herausfinden?«

»Schrittweise. Hast du je von einem Kerl namens Rewdan gehört?« Der Tote Rick schüttelte den Kopf, dann wurde ihm klar, dass die Stimme vermutlich keine Möglichkeit hatte, ihn zu sehen, und er wiederholte die Verneinung laut. »Ich möchte, dass du ihn für mich findest. Gerüchte besagen, dass er ins Feenland gezogen ist – aus irgendeinem fremden Land – und auf Nadretts Befehl zurückgekehrt ist. Ich wüsste gern, warum.«

Der Tote Rick leckte sich über die Lippen. Er sollte besser seinen Mund halten, aber er musste fragen. »Warum mich schicken? Wenn du den Markt kennst, dann weißt du, dass es einen Kerl namens Valentin Aspell gibt. Er kauft und verkauft diese Art von Informationen jeden Tag.«

»Was bedeutet, dass er sich jederzeit umdrehen und die Nachricht, dass ich das frage, jemand anderem verkaufen könnte. Du andererseits bist verzweifelt genug, um mir zu helfen, und kannst sehr wenig gewinnen, indem du mich verrätst.«

Das war tatsächlich wahr. Trotzdem … »Nadrett könnte es aber herausfinden. Ich bin nicht so subtil.«

»Dann gib dir mehr Mühe.«

Die verärgerte Antwort war ein kleiner Sieg, und der Tote Rick fragte sich, ob der Sprecher das bemerkte. Zum ersten Mal hatte er den Fremden in eine Antwort gedrängt, die nicht vorbereitet gewesen war. Diese fünf Worte haben mir mehr über seine wahre Natur verraten als alles, was er davor gesagt hat. Wer auch immer dieses Phantom war, er war daran gewöhnt, Befehle zu erteilen, und hatte wenig Geduld mit Narren. »Ich werde tun, was ich kann«, versprach der Tote Rick. »Wenn ich etwas habe, wie werde ich es dir erzählen?«

Was danach folgte, war beinahe so verräterisch wie die fünf Worte. Der Fremde erlangte seine Fassung blitzschnell zurück. »Nadrett lässt dich in den Nachtgarten. Es wird keinen Verdacht erregen, wenn du dorthin gehst. Begrab einen Knochen in der Nähe des alten Pavillons, und ich werde kurz danach wieder hier mit dir sprechen.«

»Nein«, antwortete der Tote Rick sofort. Teilweise, weil die Wahl dieses Signals sich wie Spott anfühlte, doch hauptsächlich deshalb, wie das Gespräch angefangen hatte. »Ich habe dir gesagt, dass du verschwinden sollst, und das habe ich so gemeint.«

Die Ungeduld war zurück, und zwar stärker. »Willst du über alles, was ich sage, diskutieren? Es gibt nichts sonst auf dem Goblinmarkt, was man auch nur annähernd als sicher betrachten könnte. Jeder in diesem Labyrinth würde mit Freude die Neuigkeit über deine Betätigung für einen Bissen sterbliches Brot verkaufen. Wenn du den Markt zu regelmäßig verlässt, wird es Nadretts Aufmerksamkeit erregen, und das wäre ebenso abträglich für meine Pläne. Wenn du darauf bestehst, dein Territorium zu verteidigen, dann werde ich dir versprechen, erst bei deinem Signal zurückzukehren – aber ich werde nur wegen deiner Hundeinstinkte keine sinnlosen Risiken eingehen.«

Der Tote Rick biss die Zähne zusammen. Der Bastard hatte recht. Egal wie wenig das dem Skriker gefiel. »Erst bei meinem Signal.«

Giftig sagte der Fremde: »Lass dir nur nicht zu viel Zeit.«

Dann Schweigen. Der Tote Rick wartete, völlig unbewegt, alle Sinne angespannt, aber da kam nichts mehr.

Er atmete langsam aus und wurde sich bewusst, dass sein Herz doppelt so schnell schlug wie normal. »Verdammter Scheißehaufen«, murmelte er und verwandelte sich in seine Hundeform, ehe er den ganzen Raum umkreiste und in jede letzte Ecke schnüffelte. Nichts als kaltes Gestein und sein eigener Geruch, also ließ er sich schließlich in wachsamer Haltung auf seinen Deckenhaufen sinken, von wo aus er den Eingang beobachten konnte.

Er konnte keinem bisschen davon vertrauen. Aber der Tote Rick war gerade verzweifelt genug, um dennoch einzuwilligen. Und wer auch immer dieser Fremde war, er wusste das.

Nun, es war sinnlos, Zeit zu verschwenden. Der Tote Rick verwandelte sich wieder in einen Mann und machte sich auf die Jagd nach Rewdan.

Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit

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