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DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST 2. März 1884

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Mit dem Klacken von Zehennägeln auf mit Rissen überzogenem schwarzem Gestein trottete der Hund in den Raum voller Käfige. Ein halbes Dutzend waren in der schmalen Kammer aufgereiht, drei pro Seite, die meisten mit schlafenden Menschen gefüllt. Im nächsten lag ein junges Mädchen allein auf schmutzigem Stroh, fest zusammengekrümmt. Der Hund trat schnüffelnd näher. Seine Nase strich über ihr Haar, dicht an den hölzernen Gitterstäben des Käfigs, und sie schreckte mit einem angsterfüllten Schrei hoch.

Der Hund setzte sich auf seine Hinterbeine und betrachtete sie, während ihm die Zunge nur ein Stück heraushing. Das kam einem freundlichen Aussehen so nahe, wie ihm ein räudiges Ding wie er kommen konnte. Sein schwarzes Fell war unordentlich und verfilzt, und aus seinem linken Ohr war ein Stück herausgerissen. Doch als er keine bedrohliche Bewegung machte – nur dasaß und schaute –, kam das Mädchen zögerlich wieder aus der Ecke, in die sie sich zurückgezogen hatte. Sie streckte eine Hand aus, trat langsam näher, bis sie nahe genug an den Stäben war, dass der Hund seine Nase vorschieben und höflich schnüffeln konnte. Er leckte sogar über ihre schmutzigen Finger, ein kurzes, warmes Streicheln.

Bei dieser freundlichen Berührung brach das Mädchen in Tränen aus.

»He da!«

Der Hund stand auf und drehte sich schnell um. Eine untersetzte, hässliche Gestalt stand in der Tür und kratzte sich über die struppigen Barthaare. »Geh da weg«, sagte der Goblin und starrte ihn finster an. »Er will dich sehen, und zwar nicht auf vier Füßen.«

Das Mädchen im Käfig war erneut zurückgewichen. Der Hund warf einen kurzen Blick über seine Schulter auf sie, dann seufzte er, ein seltsam menschliches Geräusch. Er senkte den Kopf und konzentrierte sich, und sein Körper fing an, sich zu verändern.

Er hörte ein leises Wimmern hinter ihm, als die Verwandlung beendet war. Egal wie wenig beruhigend seine Hundegestalt gewesen war, als Mann war er schlimmer. Der Tote Rick wusste das nur zu gut. Zerlumpte Hosenbeine endeten knapp über seinen nackten Füßen, deren Zehennägel sich dick und schmutzig in Richtung Boden krümmten. Am Oberkörper trug er nur eine zerrissene Weste, die er einem toten Sterblichen geraubt hatte. Er hasste das beengende Gefühl von Ärmeln auf seiner Haut. Sein Haar war so dreckig und verfilzt, wie es als Fell gewesen war, und was sein Gesicht betraf … er drehte sich nicht um. Er war zwar kein Poltergeist mit den flammenden Augen eines Teufels, aber er hatte sich selbst schon im Spiegel gesehen. Der harte Schlitz seines Mundes würde niemanden beruhigen.

Er hätte sich anderswo verwandeln können, außer Sichtweite des Mädchens. Aber es war besser für sie, wenn sie schnell lernte, dass sogar die freundlichste Kreatur hier unten nicht vertrauenswürdig war.

Greshs breites Grinsen würde nie mit Freundlichkeit verwechselt werden. »Sie ist ein feines Exemplar, oder?«, fragte er, als der Tote Rick auf ihn zukam. »Bisschen alt, um sie aus einer Wiege zu stehlen, aber ihre Mutter hat sie trotzdem da gehabt, weil sie sonst nirgends Platz für sie hatten. Die ham zu sechzehnt in einem Zimmer gewohnt. Jetzt sind’s nur fünfzehn, und sie kriegt diesen ganzen Käfig für sich allein. Besser für alle!«

Der Tote Rick bezweifelte, ob das Mädchen oder seine Mutter zustimmen würden. Andererseits, was wusste er schon? Vielleicht war ihre Mutter eine gingetränkte Hure und wäre ganz froh, wenn sie ein Maul weniger zu stopfen hätte. Vielleicht würde das Mädchen von irgendeinem freundlichen Fae gekauft, der ein menschliches Kind wollte, mit dem er wie mit einer Puppe spielen konnte.

Oder vielleicht fliegen dir Engel aus dem Arsch, Welpe. Aber sie würde hier nicht altern, und Krankheit würde sie nie berühren, was mehr war, als irgendjemand für ihr Leben auf den Straßen oben sagen konnte.

»Komm schon«, sagte er und schob sich an Gresh vorbei. »Du hast gesagt, er will mich sehen.«

»Du brauchst mich nicht als deinen Führer«, sagte der Goblin.

Der Tote Rick blieb im Korridor stehen und warf einen Blick zurück. Gresh stand immer noch in der Tür, die Schultern begierig gekrümmt. »Nicht«, warnte der Tote Rick ihn. »Du wirst sie verderben, und dann geht es dir an den Kragen.«

Der Goblin funkelte zurück. »Ich brauche keinen Hund, der mir erklärt, was ich tun soll.«

Er sagte Hund, als sei es eine Beleidigung – als sollte sich der Tote Rick dafür schämen, ein Skriker zu sein. Eine Gewohnheit, die er sich bei ihrem gemeinsamen Herrn abgeschaut hatte. Aber es hatte Vorteile, ein Hund zu sein. Der Tote Rick knurrte tief in seiner Kehle, erwiderte Greshs Starren, und bald genug wich der Goblin als Erster zurück. Er murmelte einige Beschwerden, aber er kam mit dem Toten Rick mit und ließ dem Mädchen das bisschen Frieden, den es finden konnte.

Gelächter hallte am Gestein um sie herum wider, als sie weiterliefen, seine Quelle unmöglich zu ergründen. Das Labyrinth des Goblinmarkts war voll mit Fae und den menschlichen Kreaturen, die sie zur Unterhaltung oder Nutzung hielten. Sie drängten sich fast so dicht wie die Armen im East End, wo das Mädchen herkam. Für jeden Fae, der wegzog und sich auf die Suche nach einem Durchgang nach jenseits der sterblichen Welt machte, kam ein anderer hierher nach London. In den Onyxpalast, das verzerrte Spiegelbild der Stadt darüber, den Palast, der einst das Prachtstück von Feenengland gewesen war – und nun ihre zerbröckelnde Zufluchtsstätte gegen den Fortschritt der Menschheit darstellte.

Spuren jener Pracht waren immer noch sichtbar, in den behauenen Säulen und Eckpfeilern, den Bögen, die sich über Kammern mit hoher Decke spannten, dem gelegentlichen Mosaik, das in das schwarze Gestein einer Mauer eingefügt war. Alles war jedoch in vergangenen Jahrhunderten schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Vieles war zerbrochen oder verschmutzt oder halb hinter dem Gerümpel der Flüchtlinge verborgen. Gardinen, die an Kordeln aufgehängt waren, teilten größere Räume in kleinere auf und schenkten die Illusion von Privatsphäre. Fae verteidigten geschätzte Besitztümer oder sterbliche Haustiere gegen die gierigen Hände ihrer Nachbarn. Aber alles konnte verkauft werden, wenn der Preis stimmte: ein menschliches Kind gegen sterbliches Brot, ein verzauberter Spiegel gegen Drogen, die sogar einen Fae seine Probleme vergessen lassen konnten.

Gresh hatte recht. Der Tote Rick brauchte den Goblin nicht, um ihm zu zeigen, wo er hingehen sollte. Er kannte seinen Weg durch das Labyrinth blind. Der Raum, zu dem er unterwegs war, hatte einen eingerissenen Boden, wo abgeschlagenes Gestein nackter Erde Platz machte, in die jemand eine Grube gegraben hatte. Dort unten packte ein Feenhund mit roten Ohren und blutbefleckter Schnauze eine Ratte und schüttelte das Nagetier, bis dessen Genick brach. Die Beobachter – hauptsächlich Fae und einige Sterbliche – feuerten ihn brüllend an. Der Tote Rick schob sich durch die Menge und bahnte sich seinen Weg zu der kurzen Treppe, die sich am gegenüberliegenden Ende befand. Bis er sie erreicht hatte, war Gresh in der tobenden Menge verschwunden.

Die Treppe zeigte immer noch einen Hauch Kultiviertheit, obwohl die Schnitzereien am Geländer über die Jahre etwas mitgenommen worden waren. Der Raum, zu dem sie führte, zeigte etwas mehr als einen Hauch, größtenteils, weil der mit Ratten kämpfende Pöbel nicht hereingelassen wurde. Wenn seine Stühle auch nicht zusammenpassten, waren zumindest einige aus exotischem Holz geschnitzt, und der Teppich auf dem Boden strahlte immer noch in bunten Farben. Seidenbehänge an den Wänden halfen dabei, die Risse dahinter zu verdecken, das Anzeichen für unvermeidbaren Verfall.

Und es waren nur zwei Leute hier, ein Fae und ein Sterblicher. Letzterer war in eine lächerliche Parodie einer Leibdieneruniform gekleidet, in einem Stil, der fünfzig Jahre zuvor schon altmodisch gewesen wäre, aber das war kaum wichtig. Wichtig war, dass er dort war, ohne konkreten Nutzen, und die Selbstgerechtigkeit seines Herrn nährte.

Der den Toten Rick finster anstarrte. Nadrett wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, dann sagte er: »Ich erwarte, dass du hier bist, wenn ich dich brauche. Nicht, dass ich meine Goblins überall im Labyrinth nach dir suchen lassen muss.«

Nach Goblinmarkt-Maßstäben machte er eine elegante Figur. Nicht in Fetzen und Lumpen gekleidet, auch stolzierte er nicht in einer bunten Sammlung Zigeunerseide herum. Seine Weste mochte zwar rot wie Kinderblut sein, doch sie war zurückhaltend geschneidert. Man musste genau hinsehen, um die Knöpfe aus Knochen, die Manschettenknöpfe aus verfilztem Haar zu sehen. Er trug keinen Mantel, hatte aber den seidenen Zylinder eines Gentlemans auf, geschmückt mit einer großen Nadel aus kristallenem Sternenlicht.

Wovon nichts die Tatsache verbarg, dass sich Nadrett seinen Weg an die Spitze des Goblinmarkts mit einer Kombination aus Gerissenheit und Brutalität erkämpft hatte. Der Tote Rick war gezwungen, seinen Blick zu senken. »Tschuldigung. Ich hab bei den Käfigen vorbeigeschaut …«

»Du hast hoffentlich nicht mein Eigentum berührt.«

Der Tote Rick war nicht gut im Lügen. Sein Zögern verriet genug, und Nadrett fauchte einen Fluch. »Die da ist nicht hier, um Brot zu opfern. Hab einen Käufer, der will ein Mädchen, das nach Sterblichkeit stinkt. Wenn du sie ableckst, fängt sie an, stattdessen nach Feen zu riechen, und ich kriege keinen so guten Preis.«

Er hätte den Mund halten sollen, aber die Worte kamen trotzdem heraus. »Ich bin nicht hier, um deinen Idioten in ihren Perversionen zu helfen.«

Schnell wie eine zustoßende Schlange war Nadrett da, nur Zentimeter vor seinem Gesicht. »Doch, das bist du«, fauchte der Fae. »Weil du mir dienst. Genau mit diesen Perversionen mache ich meinen Profit, verstehst du, und wenn ich keinen Profit mache, dann nehme ich mir die Differenz aus deiner räudigen Haut. Also ist es in deinem eigenen Interesse, sicherzustellen, dass meine Kunden nicht unzufrieden sind.«

Der Tote Rick machte den Mund auf, um zu antworten – dummer Welpe, du lernst es nie –, und Nadretts Hand schloss sich um seine Kehle. Er mochte zwar einiges weniger wiegen als der Skriker, doch sein Griff war eisern. »Hintergeh mich«, zischte Nadrett, »und ich werde dich vernichten. Alles, was du früher warst. Du wirst für immer so sein, gebrochen, wirst kriechen und jeglichem Meister dienen, der dich am schlimmsten auspeitscht.«

Scham und Furcht nagten an seinen Eingeweiden, wie ein Wurm, der seinen Stolz auffraß. Er spürte, wie sich ein Winseln aufbaute, das unter Nadretts Hand nicht hervorbrechen konnte, und rollte verzweifelt mit den Augen. Als Nadrett losließ, legte der Tote Rick den Kopf schief und senkte seinen Blick. »Ich werde dich nicht hintergehen.«

Sein Herr lachte. »Natürlich nicht. Du wirst genau das tun, was ich sage. Und du hast Glück: Ich habe heute eine Verwendung für dich. Folge mir.«

Der Tote Rick hasste sich dafür, aber er gehorchte.

Ihr Weg war lang und wand sich durch den schäbigen Lärm des Goblinmarkts. Der ständige, schleichende Verfall machte es beinahe unmöglich, auf direktem Weg irgendwohin zu gehen. Zu viele Kammern und Verbindungsgänge waren verschwunden. Ganze Sektionen waren beinahe völlig abgeschnitten, und ihr einziger Zugang führte durch Flecken, die zu durchqueren zu unsicher war. Ein Fae, der einen Fuß dort hinsetzte, war in Gefahr, an einem ganz anderen Ort wieder herauszukommen – oder überhaupt nicht.

Londons Fundament verrottet unter ihm, dachte der Tote Rick. Die Leute erzählten immer noch Geschichten von der Pracht des Onyxpalasts, doch das war alles, was noch übrig war: Geschichten und diese zerfallenden Bruchstücke. Und der Goblinmarkt ist das verrottetste von allen.

Der Ort, zu dem Nadrett ihn führte, war nicht ganz auf dem Marktterritorium und war es nicht ganz nicht. Der Nachtgarten gehörte niemandem außer den Flüchtlingen, die auf Decken unter den wuchernden Bäumen schliefen. Er lag dort, wo einst das Herz des Onyxpalasts gewesen war, und in einem vergangenen Zeitalter war er der Lieblingsplatz der Höflinge gewesen. Aber jetzt floss der Walbrook stinkend durch sein Herz, und die Blumen wuchsen unter erstickendem Unkraut.

Ein Trio Goblins lungerte auf einer gesplitterten Bank herum und stand auf, als Nadrett durch den Eingangstorbogen kam. Schotten, und dem Toten Rick nicht vertraut. Er hätte menschliches Brot darauf gewettet, wenn er welches gehabt hätte, dass sie Neuankömmlinge waren. Temporäre Bewohner des Nachtgartens, die ihre Dienste an den Goblinmarkt – an Nadrett – verkauften, im Tausch gegen einen Aufstieg. »Wir haben ihn leer geräumt«, sagte der Anführer. »Hab zwei Kerle, die jedes der anderen Tore bewachen.«

Nadrett klopfte ihm auf die Schulter und wandte sich an den Toten Rick. »Du kennst deine Aufgabe. An die Arbeit.«

Er starrte an seinem Herrn vorbei in die verlassene Wildnis des Gartens. »Wer ist es?«

»Welchen Unterschied macht das? Irgendeine Sterbliche. Sie geht dich nichts an.«

Weiblich also. Aber nicht das kleine Mädchen im Käfig. Der Tote Rick schluckte und schmeckte Galle. Nicht das kleine Mädchen. Einfach irgendein anderer Mensch, der wahrscheinlich nie irgendetwas getan hatte, um dieses Schicksal über sich zu bringen.

Nadretts bloßes Einatmen reichte, um ihn anzutreiben. Der Tote Rick biss die Zähne zusammen, verwandelte sich wieder in seine Hundegestalt und rannte in den Nachtgarten hinaus.

Ein Meer an Aromen füllte seine Nase. Die Flüchtlinge mochten wohl für den Moment fort sein, aber ihre Gerüche blieben: Hauselfen und Goblins und Pucks, Hofelfen und naturliebende Irrwische, einige so neu, dass sie noch einen Nachhall ihrer Heimat in sich trugen. Kühle Erde und der dichte Teppich aus Vegetation, der darüber wuchs. Einst war der Garten mit aromatischen, nachtblühenden Blumen bepflanzt gewesen – Nachtkerzen, Jasmin –, und einige der zäheren hatten bis jetzt überlebt. Vor ihm lag der stinkende Walbrook. Die zerfallenden Zauber hatten die Spiegelung des eingegrabenen Flusses mit ihrer verschmutzten Realität vermischt und den Boden um ihn herum vergiftet.

Der Tote Rick hielt nahe einer der noch erhaltenen Fußgängerbrücken über den Fluss inne, weil er dachte, dass er vor sich eine Bewegung sähe. Es stellte sich bloß als ein Feenlicht heraus, das ziellos durch die Luft schwebte. Die meisten von ihnen hatten die Decke verlassen, wo sie, wie die Leute erzählten, früher veränderliche Konstellationen gebildet hatten, doch der Tote Rick glaubte, dass er in der Entfernung ein stärkeres Leuchten sah.

Er tapste darauf zu, wobei er sich im Unterholz hielt. Ja, da war Licht vor ihm, hinter diesem Hain aus kränkelnden Apfelbäumen. Er ließ sich auf den Bauch sinken und kroch eine Pfote nach der anderen vorwärts, bis er etwas sehen konnte.

Die Sterbliche war kaum mehr als ein Mädchen, höchstens fünfzehn Jahre alt. Sie saß mit dem Rücken an einem Steinblock, die Knie eng an die Brust gezogen. Der Tote Rick fragte sich, ob sie wusste, dass sie gerade auf einem Grab saß. Ihr Kleid war relativ fein. Sie sollte lesen können – aber Ranken waren über die Inschrift gewachsen, sodass man diese leicht übersehen konnte, wenn man nicht danach suchte. Und ihre Aufmerksamkeit lag anderswo, als sie die Umgebung nach Anzeichen einer Bedrohung absuchte.

Anzeichen von ihm.

Feenlichter schwebten über der kleinen Lichtung, als würden sie versuchen, sie zu trösten. Sie besaßen gerade genug Bewusstsein, um auf die Wünsche anderer zu reagieren. Die Furcht des Mädchens hatte sie vielleicht angezogen. Oder hatte sie sie zu sich gerufen? Stell keine Fragen, knurrte der Tote Rick in sich hinein. Betrachte sie nicht als Person – erledige einfach deine Aufgabe.

Das Knurren entkam seiner Schnauze, ohne dass er es wollte. Die Sterbliche japste und ging in eine wachsame Hocke.

Sie hätte nicht im Licht sitzen sollen. Sie wird halb geblendet sein, sobald sie wegrennt.

Umso besser für ihn.

Der Tote Rick knurrte erneut, diesmal mit Absicht. Da war eine Lücke in den Hagedornbüschen. Er schlich hindurch, machte kein Geräusch, dann fletschte er scharf die Zähne. Daraufhin schlich er weiter: noch ein Knurren. Für einen verängstigten Verstand würde es klingen, als sei sie umzingelt.

In jeder Richtung außer einer: dem überwucherten Pfad, der vom Grab wegführte. Und tatsächlich sprintete sie los.

Er rannte beinahe schon, ehe sie sich bewegte. Sie war menschlich und trug ein Kleid. Er war ein Hund und kannte seinen Weg durch den Garten. Ein umgefallener Baum hatte schon vor Jahren den Pfad nach links blockiert, sodass sie, selbst wenn sie in diese Richtung lief – und er hörte, wie sie es versuchte –, am Ende nach rechts laufen musste. Und der Tote Rick war dort und wartete darauf, sie weiter zu hetzen.

Nadrett hatte ihn so oft geschickt, um dies zu tun, dass es beinahe Routine war. Aber das Mädchen überraschte ihn. Sie stürzte sich durch ein wucherndes Stechpalmengebüsch, zischte, als dieses sie kratzte, und nahm einen weniger offensichtlichen Pfad. Der Tote Rick fluchte innerlich. Zwei Kerle, die jeden der anderen Eingänge bewachten – aber bewachten sie alle davon? Oder nur diejenigen, die noch irgendwohin führten? Der Torbogen vor ihm öffnete sich in einen Korridor, der ungefähr fünfzig Fuß weiterführte, bis zu einer kaputten Stelle des Onyxpalasts.

Es waren fünfzig Fuß gewesen, als er das letzte Mal nachgesehen hatte. Vielleicht waren es jetzt weniger.

Der Tote Rick sprintete weiter. Ein ausgetrockneter Springbrunnen in der Nähe der Wand schenkte ihm einen Vorteil. Er sprang an der riesigen Fratze in dessen Mitte hoch, während seine Zehennägel am gezwirbelten Gestein kratzten, und stürzte sich durch die Luft zum Torbogen. Er landete mit einem gewaltigen Krachen, aber das diente ihm ganz gut: Er hörte, wie das Mädchen stolperte und fiel und sich dann hektisch aufrappelte und in die andere Richtung rannte, weg von was auch immer für einem riesigen Monster, das am Torbogen lauerte.

Riesig – nein. Monster – ja. Genau das bin ich geworden.

Der Tote Rick schüttelte sich, als könne er seine düstere Laune abschütteln wie Wasser. Wenn er hier scheiterte, würde Nadrett dafür sorgen, dass er mehr als nur düster gelaunt wäre.

Er trabte schnell der Spur des Mädchens nach und folgte ihrem Geruch. Sein Innehalten hatte ihr Zeit gegeben, einen Vorsprung zu bekommen, und in Abwesenheit seines Knurrens war sie still geworden. Die Spur führte ihn über die Brücke. Er erhaschte am Geländer einen Hauch, als sei sie dort stehen geblieben und hätte das schmutzige Wasser betrachtet. Aber für ein Mädchen in einem Rock, das wahrscheinlich nicht schwimmen konnte, wäre es nur ein unglücklicher Selbstmord. Am Ende war sie weitergelaufen.

Über ein Feld aus struppigem Gras, fast so hoch wie er. Der Tote Rick sprang über eine umgefallene Vase und hoffte, ihr den Weg abzuschneiden. Das Risiko zahlte sich aus: Sie kam den Pfad herunter auf ihn zu. Erneutes Knurren trieb sie in die andere Richtung, und jetzt wusste er, wie das hier enden würde. Normalerweise setzte er sie an der Wand fest, aber mit ein wenig Treiben …

Sie stand kurz vor dem Ende ihrer Kräfte. Der Tote Rick erhöhte sein eigenes Tempo, bellte wie ein Wolf und sprang fast direkt an ihren Fersen ins Freie. Das Mädchen stürzte sich über den zerklüfteten Boden, die Treppe eines verfallenen Pavillons hinauf, und fiel längs über dessen Bodenbretter. Der Tote Rick sprang …

Ihr Schrei hallte durch die Luft, und dann verstummte er.

Die Pfoten des Toten Rick krachten auf ihre Brust hinab, und seine Kiefer schlossen sich knapp vor ihrer Nase. Das Mädchen unter ihm war vor Panik erstarrt, und ihr Mund stand weit offen und weitete sich immer wieder, als würde sie immer noch schreien, doch kein Geräusch kam heraus.

Für einen Augenblick war da das Sehnen. Seine Zähne in jene verwundbare Kehle zu graben, das Fleisch herauszureißen und das heiße Blut aufzulecken, wenn es heraussprudelte. Der Tod gehörte zur Natur eines Skrikers. Es wäre einfach, solange er sie nicht als Person betrachtete – nur Fleisch und Furcht und eine Stimme, die man stehlen konnte.

Aber das war Nadretts Art und die des Goblinmarkts. Der Tote Rick biss seine Schnauze zusammen, bis sie wehtat, und wich langsam zurück, wobei er vorsichtig auftrat, damit seine rauen Klauen das Mädchen nicht unter dem Kleid aufkratzten.

Nadrett lehnte an einer Säule des Pavillons und ließ einen kleinen Krug von Hand zu Hand fliegen. »Das ist eine gute«, sagte er mit einem zufriedenen Grinsen. »Hervorragendes Material. Das wird einen guten Preis bringen, ganz bestimmt. Vielleicht lasse ich dich sogar was vom Gewinn haben, hm?«

Wenn er irgendwelchen Stolz übrig gehabt hätte, hätte der Tote Rick das abgelehnt. Weil er das nicht tat, sprang er auf das Gras hinunter und lief ohne auch nur ein Knurren an Nadrett vorbei.

Sein Herr lachte, als er hinausging. »Guter Hund.«

Der Tote Rick schämte sich bei diesen Worten.

Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit

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