Читать книгу Psychiatrie in Bewegung - Mario Gmür - Страница 20
lch-synton –ich-dyssynton (= ich fremd}
ОглавлениеDass sich die Erde dreht, dessen werden wir nicht gewahr, weil wir uns mit ihr drehen. Wir stehen zur Erdumdrehung, dieser lebenslänglichen, ja lebensüberdauernden Rundfahrt, in keinem Bewusstseinsverhältnis. Als aufgeklärte Menschen hätten wir allen Grund anzunehmen, dass es die Sonne ist, die uns täglich mit ihrem Besuch beehrt und uns wieder verlässt. Würde ein Astronom uns (die wir solchermassen unaufgeklärt wären) entgegnen: «Du bist ja paranoid, die Sonne steht still, und Du bist es, der sich mit der Erde dreht», so würde er wohl an diesem unserem Paranoid, «die Sonne kommt, die Sonne geht», nicht viel zu ändern vermögen. Vielmehr brauchte es eines beträchtlichen Aufwandes an Beweisführung, unter Beiziehung geometrischer Erklärungsmodelle, um uns aus den Angeln unseres Selbstmissverständnisses zu heben. Etwas anders verhält es sich, wenn wir in einem Bahnhof im stehenden Zug Platz genommen haben und plötzlich den Eindruck gewinnen, dieser setze sich in Bewegung, weil sich der auf dem Nachbargeleise stehende Zug in der Gegenrichtung fortbewegt. Wir werden den Irrtum bald bemerken, indem wir uns an andern ruhigstehenden Objekten, z. B. am andern Fensterausblick, orientieren. Ähnlich verhält es sich mit den Veränderungen im Schizophrenen: Ist das Epizentrum der schizophrenen Veränderung im Kern des Ichs (in der zeitlichen Kontinuität), so ist diese ichsynton, d. h. der Schizophrene fühlt sich mit dieser Veränderung eins. Liegt die Veränderung hingegen an der Peripherie seines Ichs, so trägt sie Objektcharakter und begründet eine Krankheitseinsicht, was sich etwa in Klagen über diese Veränderung kundtut, wie: «Ich habe Stimmen» oder «ich habe mich verändert.» Ist die Schizophrenie ichsynton, so sehen wir uns einem schizophrenen Gesprächspartner gegenüber, der nur eine geringe Krankheitseinsicht zeigt und an seiner Interpretation der Vorgänge festhält. In dem Masse, wie die schizophrene Symptomatik als ichfremd (dyssynton) erlebt wird, bewertet der Schizophrene diese als krankhaft und ist bereit, mit dem Arzt eine Koalition zu deren Behandlung einzugehen. Mitunter erscheint ein Patient bei uns mit der Bitte um Medikamente, weil er «seit heute morgen wieder einen Wahn» habe. Die Kooperation des Patienten wächst mit zunehmender Ich-Fremdheit seiner Symptomatik. Unser Bemühen hat daher darauf abzuzielen, den Patienten seine schizophrene Symptomatik als ich- fremd erleben zu lassen. Der ich-syntone Charakter der beginnenden Schizophrenie ist der Hauptgrund dafür, dass Ersterkrankungen so selten mit Krankheitseinsicht und Behandlungsbereitschaft einhergehen. Erst die immer wiederkehrenden Zusammenstösse mit der Umwelt, Rehospitalisierungen und das soziale Versagen lassen einen Leidensdruck entstehen und die Bereitschaft, an sich selbst etwas zu ändern. Die allmähliche Herauskristallisierung einer Krankheit «Schizophrenie» mit Objektcharakter führt zu einer Triangulierung der Arzt/Patienten-Beziehung, indem sich eine Dreiecksbeziehung Arzt-Patient-Symptom einstellt, die sich im Idealfall zu einem erfolgreichen Bündnis zwischen Arzt und Patienten gegen die Krankheit konstelliert.