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Der paranoide Patient in der Praxis Der drängende Paranoide

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Beklagt sich der Patient, sein Nachbar bestrahle ihn mit Röntgen strahlen und nehme jede Nacht in seiner Küche Abtreibungen vor, so sind wir in einem Dilemma: Widersprechen wir seinen Behauptungen, wie der gesunde Menschenverstand und unsere Überzeugung uns gebieten, so fühlt er sich unverstanden und entzieht sich unserer weiteren Behandlung, die er anderswo fortsetzt. Unterstützen wir ihn, indem wir den Widerspruch vermeiden und gutes Einvernehmen herstellen, so verlieren wir unsere Aufrichtigkeit und müssen spätestens dann den Rückzug antreten, wenn der Patient uns das Mandat für die Verteidigung seiner Wahnrechte anträgt oder uns als Zeugen beansprucht. Nicht selten fehlt uns aber tatsächlich auch selbst die letzte Gewißheit, daß die Behauptungen des Patienten abstrus und unwahr sind. Denkbar ist es ja, daß der Nachbar die Blumenbeete mit Gift bestreut, oder daß das Telephon knackt, wie er meint. Jedenfalls tun wir gut daran, uns nicht voreilig zu positiven oder negativen Stellungnahmen hinreißen zu lassen. Unsere Bemühungen sind vielmehr darauf auszurichten, den Patienten von seinem inneren Druck zu entlasten. Die Kundgebung unserer Gefühle eignet sich besonders dafür, etwa teilnahmsvolles Staunen, z. B. ein erstauntes, halb fragendes, halb ausgerufenes «Ja, was!?». Oder: «Ja, das ist aber schwierig nachzuweisen». Oder: «Das ist aber unangenehm …». Solche inhaltlich neutrale, aber engagierte Äußerungen respektieren mindestens das subjektive Recht des Patienten, der seine Halluzinationen und Wahnvorgänge authentisch und leibhaftig erlebt. Stets auf der richtigen Linie befinden wir uns auch, wenn wir uns den vorgebrachten Wahn ausführlich und detailliert schildern lassen und so das von uns erwartete Interesse bekunden.

Die Divergenz von subjektiver und objektiver Betrachtung können wir dem Patienten zumeist nicht auf Anhieb plausibel machen. Sagen wir ihm, «das meinen Sie nur, Ihre Befürchtungen sind unbegründet», so wird er uns empört in die Reihe seiner Skeptiker, eventuell Verfolger verweisen, und wir haben ihn unwillkürlich aus unserer therapeutischen Beziehung verscheucht. Das Pünktchen auf das i unseres Unverständnisses ist für ihn, wenn wir ihm auf Anhieb Medikamente anbieten mit der Aussicht, «die Strahlen zu beseitigen», und ihn so indirekt zum Kranken stempeln. «Ich bin doch nicht etwa krank, Sie müssen das Gesundheitsamt benachrichtigen, damit diese dort die Röntgenstrahlen beseitigen», wird er uns entgegnen.

Sollen wir uns als Wahngehilfe für solche und ähnliche Ansprüche zur Verfügung stellen? Als wissenschaftlich orientierte Somatiker beurteilen wir diese Frage nüchtern-sachlich und weigern uns, uns auf die Seite des Wahns zu stellen. Hinsichtlich unserer Beziehung zum Patienten mag aber ein Mitspielen durchaus das Richtige und Heilbringende sein. Vergegenwärtigen wir uns an diesem Beispiel die innere Verfassung des Patienten: Er ist von Unruhe und Angst gequält und hat sich mit seinem Erklärungswahn wenigstens etwas zurechtgelegt, an dem er sich vor dem Sturz in den Abgrund einer apokalyptischen Krise retten und das er gleichzeitig als etwas Reparierbares darbieten kann, mit einem Appell an unser Verständnis und unsere Hilfsbereitschaft. Jede unsere Antwort ist hier stimmig, welche Aufgeschlossenheit gegenüber dem Anliegen des Patienten mit Wahrhaftigkeit unserer Stellungnahme verbinden kann. Zum Beispiel: «Mir scheint die Sache sehr sonderbar; ich will, wenn Sie so drängen, einmal mit der Polizei Kontakt aufnehmen und Ihnen dann wieder berichten». Oder: «Das kann ich fast nicht glauben!»; «Wäre es allenfalls denkbar, daß Sie sich das einbilden?» etc. etc. Meint ein an Altersparanoid leidender Patient, das Schloß seiner Wohnung in der Alterssiedlung sei «manipuliert» worden, so hat sich auch schon die Stellungnahme bewährt: «Dann wechseln wir doch einmal das Schloß aus, es ist ja keine Riesensache», und man hat vielleicht eine Beruhigung für einige Monate erzielt. Das Entscheidende ist, daß wir eine Gemeinsamkeit des Verständnisses oder Mißverständnisses mit dem Patienten herstellen, um ihn herauszuholen aus der Isolation und inneren Leere, in welcher er sein Wahngebilde aufbauscht.

Solche Reaktionsweisen eignen sich für den Auftakt’ einer ersten oder späteren Begegnung und immer dann, wenn unsere naturwissenschaftlichen Therapieangebote auf die irrationalen Widerstände des Patienten treffen. Unseren Standpunkt, der sich auf das ärztliche Wissen oder den gesunden Menschenverstand stützt, können wir dem Schizophrenen nur, wenn überhaupt, allmählich vermitteln, indem er sich durch eigene Erfahrungen und Konfrontationen mit der Realität zu einem Einlenken bewegen läßt.

Eine altersparanoide Patientin hielt zunächst an der Überzeugung fest, daß sie seit dem 6. Dezember letzten Jahres jeweils nachts von einem Lichtstrahl, der seinen Ursprung auf der anliegenden Straße habe, belästigt werde. Erst als sich in einem Gespräch herausstellte, daß dieser Lichtstrahl auch nach dem Umzug der Patientin in eine andere Wohnung jeweils zur selben nächtlichen Stunde erschien und ich ihr dazu erklärte, daß ich als Arzt häufig von älteren Leuten solche Klagen vernehme, meinte sie, «dann kommt der Lichtstrahl eben von innen heraus und ich bin krank», und war zur Einnahme von Neuroleptika bereit.

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