Читать книгу Ethik in Szene setzen - Mario Ziegler - Страница 10
1.3Die aristotelische Lehrkunst als methodisches Prinzip der Lehrstückdidaktik 1.3.1Epagoge: das methodische Prinzip
Оглавление»Das Lernen [ist] als philosophisches Problem immer mehr in Vergessenheit geraten.«39 Tonangebend sind in den Erziehungswissenschaften vor allem Lerntheorien, die davon ausgehen, dass der Lerner seinen Lernprozess nur selbst steuern kann und dass ihm deshalb geeignete Lernumgebungen angeboten werden müssen, damit er selbst aktiv werden könne.40 Als autonomer Lerner und kreativer Selbstgestalter bringt sich der Lerner also den Wissensstoff quasi von allein bei: Er kümmert sich selbstkompetent um seine Kompetenzentwicklung. Der Lehrer ist allenfalls noch sein ›Coach‹ oder auch ein Moderator, der den Prozess des selbstgesteuerten Lernens begleitet.41 Den Lernerfolg kann er dadurch anstreben, dass er sich auf eine möglichst vielseitige Methodenwahl besinnt, und durch die Inanspruchnahme von kooperativen Lernformen, in denen sich die Lerner gegenseitig bei ihren Lernprozessen helfen sollen.
Im Gegensatz dazu geht die Lerntheorie des Aristoteles von einem passiven Lerner aus. Als Wahrnehmender ›erleidet‹ der Mensch das Weltgeschehen. Erst nachträglich kann er auf das achten, was ihm dabei zugestoßen ist, und aufdecken, zu welchen Kenntnissen er auf diesem Weg gekommen ist.42 Aufgrund seiner Wahrnehmung kann der denkende Mensch also gar nicht so aktiv und autonom sein, wie es beispielsweise die von Maturana und Varela biologisch begründete Erkenntnistheorie voraussetzt43 – und ihr folgend vor allem auch die konstruktivistische Lerntheorie.44 Für Aristoteles ist der Einzelne vielmehr so unentrinnbar in die Natur und in die gesellschaftlichen Ordnungen eingebunden, dass er das, was ihn bewegt, erst im Nachhinein verstehen und dass er sich somit erst in der ›indirekten Nachschau‹ auf das Prinzip und die Gesetzmäßigkeiten seines Handelns besinnen kann.45
Die aristotelische epagoge macht diesen passiven Weltzugang zum Ausgangspunkt des Lernens und berücksichtigt die Tatsache, dass wir als Menschen immer schon mit den Gegebenheiten der Welt konfrontiert sind – und somit den Befund, dass wir mit ihnen bekannt und vertraut sind, bevor wir sie zu verstehen beginnen. Doch damit wissen wir auch schon immer etwas. Wir fangen also nicht bei null an, sondern besitzen bereits ein Vorwissen, auf das wir zurückgreifen, wenn wir die darin stattfindenden Zusammenhänge noch besser begreifen wollen. Worauf es Aristoteles ankommt, ist, dass das Bekannte stets der Ausgangspunkt all unserer Betrachtungen und somit allen Lernens und Lehrens ist. Mehr noch: Es ist zugleich der Ausgangspunkt und auch der Zielpunkt des genetischen Aufstiegs des Wissens, sprich der epagoge.46 Der Zielpunkt kann nur die gezielte Ausleuchtung und Analyse des bereits Bekannten sein, weil es bei dieser Art des Wissenserwerbs und der Wissenserschließung nur darum gehen kann, mit dem für uns Bekannten noch bekannter zu werden und damit die fragliche Sache richtig zu erfassen. Das methodische Bekenntnis des Aristoteles lautet demzufolge so: »Man muss nämlich von dem Bekannten (gnōrimon) ausgehen.«47
Dieser methodische Zugriff hängt auch mit dem Gegenstand der Ethik zusammen. Denn die Ethik kann für Aristoteles niemals den Grad an Genauigkeit erreichen, der in den exakten Wissenschaften, wie etwa in der Mathematik, möglich ist. Ihr Gegenstand sind die ›moralischen Phänomene‹, genauer gesagt: das konkrete Handeln der Menschen. Das konkrete Handeln ist nicht abstrakt bestimmbar oder aus einem obersten Prinzip formal ableitbar, sondern es ist »stofflich« und ist somit auch wahrnehmbar.48 Ethische Einsichten sind ergo nur durch die genaue Beobachtung und Beurteilung des Schauspiels menschlichen Handelns zu gewinnen. Demnach kann die Ethik auch keine so strenge Wissenschaft wie die Mathematik sein.49
Wer eine Klarheit in ethischen Angelegenheiten gewinnen möchte, ist darauf angewiesen, die moralischen Phänomene genau zu beobachten. Darüber hinaus gibt Aristoteles noch einen zweiten methodischen Hinweis: Dieser bezieht sich auf die Urteile, die die Menschen mit Blick auf das Schauspiel menschlichen Handelns fällen. Eine Untersuchung der Urteile ist für ihn vor allem aus zwei Gründen von Interesse: erstens deshalb, weil sie sich auf das konkrete Handeln der Menschen und somit auf bestimmte moralisch relevante Situationen beziehen. Und zweitens deshalb, weil sich mit Blick auf die situativen Urteile zunächst vor allem eines zeigt: nämlich »die Uneinigkeit der Menschen über das rechte Handeln.«50
Die Feststellung der Uneinigkeit in den Ansichten mit Blick auf eine konkrete Situation ist ein erster notwendiger Schritt im Rahmen der aristotelischen Lehrkunst. Dabei stellen die Beteiligten häufig nicht nur fest, dass sich ihre Ansichten widersprechen, sondern sie bemerken auch, dass sie recht allgemein und pauschal über die Situation reden und das Handeln der Menschen beurteilen. Bemerken sie das, können sie auch dafür sensibel werden, dass die Dinge nicht so klar bestimmbar sind, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Damit – und nur auf diesem Weg – wird die Fragwürdigkeit des eigenen Urteils und der eigenen Sichtweise sichtbar. Das ist auch der Grund, weshalb die gemeinsame Beobachtung des Schauspiels menschlichen Handelns und die damit verbundene Analyse der Urteile den Ausgangspunkt der ethischen Reflexion darstellen muss. Nur so können die Differenzen in den Ansichten hervortreten und nur so ist eine erste kritische Betrachtung der eigenen Urteile möglich.