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1.EINLEITUNG 1.1Vorbemerkungen und Hinweise zur Gliederung des Buches
ОглавлениеIn diesem Buch soll ein Lehrstück3 zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles vorgestellt werden, dessen Ziel es ist, zentrale Aspekte der aristotelischen Ethik einführend zu behandeln. Das didaktische Vorgehen im Unterricht wird sich dabei an dem von mir konzipierten Lehrstück orientieren – und nicht umgekehrt! Im Mittelpunkt stehen also zunächst die Inhalte und Themen der Nikomachischen Ethik und nicht die Didaktik und Methodik des Lehrstückunterrichts. Auf diese Weise wird sich das didaktische Konzept mit den entsprechenden Begriffen aus der Unterrichtsbeschreibung selbst herauslesen lassen – und zwar im besten Fall so, dass der Leser bei der didaktischen Kommentierung die unterrichtlichen Szenen so vor Augen hat, dass er den Kommentar darauf beziehen kann. Der erste Schritt besteht daher stets in einer idealtypischen Skizzierung des Konzepts der einzelnen Lehrstücke sowie ihrer inhaltlichen Zielsetzung. An die Beschreibung der einzelnen Unterrichtseinheiten schließen sich jeweils Kommentare an, in denen nacheinander die wichtigsten Aspekte der Lehrstückdidaktik erläutert werden.
Im Anhang befinden sich die Texte4 und Arbeitsblätter5. Ein tabellarischer Verlaufsplan des gesamten Lehrstücks zur Nikomachischen Ethik ist online verfügbar.6 Diese Übersicht macht die einzelnen Unterrichtseinheiten des Lehrstücks mit allen Lernaufgaben und den zu gewinnenden Klarheiten überschaubar und soll die Planungsarbeit des Lehrers7 erleichtern. Damit deutlich wird, was in den einzelnen Unterrichtseinheiten erreicht werden soll, werde ich jeweils eine Reihe von Thesen zusammenstellen, mit denen umrissen ist, was den Schülern klarwerden soll. Anders als üblich verzichte ich auf die Auflistung von Lernzielen, da in solchen Listen »gewöhnlich formale Ziele des Unterrichts« festgelegt werden, die auch »die sogenannten Kompetenzen umfassen. Klarheiten hingegen meinen inhaltliche Gedankenschritte.«8 Diese Klarheiten sollen die Schüler im Lehrstückunterricht selbstständig gewinnen, wofür entscheidend ist, dass es sich dabei um beherrschbare Klarheiten handelt. Es geht nicht darum, den Schülern durch die Übermittlung von Erklärungen den entsprechenden Unterrichtsstoff zu vermitteln, sondern um den Denkprozess der Schüler. Mit den Sätzen, die die Ergebnisse ihrer Urteilsbildung festhalten, werden Einsichten formuliert, die sehr einfach und sehr naheliegend zu sein scheinen, die aber gleichwohl das Ergebnis einer anspruchsvollen Gedankenarbeit sind. Deshalb werden die angestrebten Klarheiten in der Übersicht in Sätzen präsentiert, von denen anzunehmen ist, dass sie in einer vergleichbaren Form im Unterricht von den Schülern formuliert werden können.
Der Lehrstückunterricht zielt mithin auf den Gewinn inhaltlicher Klarheiten – und nicht auf die Ausbildung von Kompetenzen (vgl. unten, 2.7.2). Jürgen Kaube hat die Leerheit des Kompetenzbegriffs zuletzt in seinem Buch »Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?« problematisiert:
Es ist noch freundlich, wenn dazu angemerkt wird, es handele sich bei »Kompetenz« offenbar um einen Megacontainerbegriff, in dem dann weitere Minikartons voller Kompetenzteildimensionen gestapelt sind. Man könnte etwas unfreundlicher von bloßen Redensarten sprechen, die voneinander nicht abgrenzbare »Fähigkeiten« (Wissen, Verstehen, Können, Erfahrung, Motivation, Handeln) in Katalogform bringen, um nicht konkret darüber sprechen zu müssen, wie sie voneinander abhängen und wie unterrichtet werden soll.9
Verantwortlich für den ›Kompetenzboom‹ und für die inflationäre Verwendung des Kompetenzbegriffs in der Lehrerbildung sind nach dem Urteil Kaubes nicht zuletzt die empirischen Bildungsforscher, die die wichtige Frage nach den anzustrebenden Erkenntnissen ausblenden:
[D]ie Bildungsforscher [müssten] sich dann ja entscheiden, was sie inhaltlich für wichtig halten. Wobei Inhalte ihrer tiefen Überzeugung nach doch schon deshalb zweitrangig sind, weil das Lernen selbst und nicht etwas davon Unterschiedenes gelernt werden soll. Wie aber sollen Schüler »kompetent« werden, wenn sie nicht wissen, worum es sich bei der Sache, die sie kompetent bearbeiten sollen, überhaupt handelt?10
Diese Unfähigkeit, sich auf bestimmte Fachinhalte festzulegen, führe auf dramatische Weise dazu, »den Unterricht zu verblöden«11 – vor allem auch durch die technische Maßgabe (und den erkenntnistheoretischen Irrglauben), dass man – wie etwa im Methodentraining bei Klippert12 – »das »Lernen des Lernens« direkt«13 ansteuern könne. Das Lehrstück zur Nikomachischen Ethik darf deshalb – auch in seiner Konzeption als Lehrbuch – als ein unzeitgemäßer Gegenentwurf verstanden werden, weil hier die Sache und somit die Inhaltserschließung im Zentrum steht.
Des Weiteren lässt sich das Lehrstück zur Nikomachischen Ethik in verschiedenen Klassenstufen einsetzen, wenngleich es sich thematisch am besten in der Sekundarstufe II bzw. für die Oberstufe eignet, z. B. unter den beiden kantischen Fragen: »Was soll ich tun?« oder »Was ist der Mensch?«14. Allerdings ist es auch möglich, einige der Unterrichtseinheiten aus dem Lehrstück in der Sekundarstufe I bzw. in den Klassenstufen 9 und 10 durchzuspielen: zum Beispiel die erste oder auch die vierte Unterrichtseinheit (vgl. unten, 2.1 und 2.4).15 Das Lehrstück umfasst viele Themenfelder der Ethik, weshalb es auch auf die Interessen und die Kreativität des Lehrers ankommt, die thematischen Bezüge zu den unterschiedlichen Fragen der Ethik selbst herzustellen – und das Lehrstück bzw. die einzelnen Unterrichtseinheiten- und sequenzen so abzuwandeln, dass sie sich für die Erschließung des jeweiligen Themas eignen. Das bedeutet auch, dass das Lehrstück nicht zwangsläufig vollständig im Ethikunterricht durchgespielt werden muss, sondern dass jeder Lehrer frei darüber entscheiden kann, welche Lehrstückeinheit er für welches Thema einsetzen und wieviel Zeit er sich dafür nehmen möchte. Nur eins sollte klar sein: Jedes kleine Lehrstück in diesem Buch steht aufgrund seines exemplarischen Charakters und aufgrund der Nachdenklichkeit, die es den Schülern abverlangt, für eine andere Bemessung des Zeitaufwands als die, die die Lehrplanverfasser für die Bewältigung der einzelnen »Unterrichtsstoffe« vorgesehen haben. Der Lehrstückansatz steht demnach auch quer zu den Beschleunigungsinitiativen der heutigen Lernindustrie und vielmehr für das ruhige Verweilen bei einer Sache, die sich dem Lernenden nur dann sinnvoll erschließt, wenn er sich dafür auch während des Unterrichts hinreichend viel Zeit nimmt. Außerdem hat das Lehrstück zur Nikomachischen Ethik eine eindeutige fachliche Ausrichtung: Es gehört in das Fach Ethik und Philosophie. Gleichwohl macht die Sache – schon gar nicht die Ethik – nicht vor einzelnen Fächergrenzen halt, weshalb Streifzüge in andere Disziplinen und Fächer legitim und inhaltlich häufig wünschenswert sind. Ein solcher Streifzug wird beispielsweise in der sechsten Unterrichtseinheit (vgl. unten, 2.6) unternommen, die nicht nur als Einführung in die aristotelische Mesoteslehre, sondern darüber hinaus als Einstieg in die Komödientheorie verwendet werden kann.
Die Lehrstückdidaktik ist eine aristotelisch geschulte Didaktik, und damit eng verbunden ist ein bestimmtes Verständnis von ethischem Lernen und von ethischer Bildung, das ich im Einleitungskapitel ›Die aristotelische Lehrkunst als methodisches Prinzip der Lehrstückdidaktik‹ und im ›Fazit‹ genauer darstellen werde (vgl. unten, 1.3 und 3). Dieses Verständnis setzt eine Wissensform voraus, die Wolfram Hogrebe als »szenische Wissensform«16 bezeichnet und die in den aktuellen fachdidaktischen Diskussionen keine Rolle spielt.17 Aus der Anerkennung des »Szenischen als Wissensform«18 resultiert mithin ein ungewöhnliches Bildungsverständnis, das eine Neubestimmung der methodischen Gestaltung des Ethikunterrichts ermöglicht und verlangt. Die Lehrstückdidaktik darf daher als ein Versuch eingestuft werden, das aristotelische Konzept einer ethischen Bildung wieder stark zu machen.
Ein wesentliches Merkmal der Lehrstückdidaktik ist die mimetische Darstellungskunst, die mit Aristoteles als ein Prinzip des Erkennens und Lernens verstanden wird (vgl. unten, 1.3.5). Diese Darstellungsarbeit, die das Kerngeschäft im Lehrstückunterricht bildet, fußt auf dem »Szenischen als Wissensform«19 und davon ausgehend auf dem epistemologischen Verständnis, dass das ethische Lernen hauptsächlich eine Imaginationsleistung ist (vgl. unten, 1.3.6). Die Schulung der Phantasie und Einbildungskraft muss folglich im Ethikunterricht unbedingt vorrangig angestrebt werden, weil sie einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der moralischen Reife leistet.
Aus dieser aristotelischen Theorie des Wissens ist das lehrstückdidaktische Darstellungsgebot abgeleitet (vgl. unten, 2.7.2). Es baut darauf, dass die Schüler aufgrund ihrer Lebenserfahrungen bereits so gut mit dem Schauspiel menschlichen Handelns vertraut sind, dass sie die exemplarischen Situationen und Szenen, mit denen sie im Unterricht konfrontiert werden, selbstständig deuten und ihr Verständnis in der Auseinandersetzung mit anderen Erklärungen vertiefen und weiterentwickeln können (vgl. unten, 1.3.3 und 2.1.1). Sämtliche Äußerungen der Schüler, die infolge der szenischen Vergegenwärtigung artikuliert werden, stehen daher epistemologisch und didaktisch betrachtet niemals in einem unbestimmten oder zufälligen Situationszusammenhang.20 Erst vor diesem Hintergrund wird das dramaturgische und ästhetische Moment der Lehrstückdidaktik verständlich (vgl. unten, 1.3.4, 1.3.6 und 2.7.2), denn es wird sich zeigen, dass die verschiedenen Darstellungsformen im Unterricht so eingesetzt werden, dass die Wahrnehmungen, Gefühle, Imaginationen und sprachlichen Verlautbarungen der Schüler – sprich ihre Äußerungen – stets »in eine Folge von Lernsituationen und Lernaufgaben [eingebettet sind]«21, die vom Lehrer als eine Handlungseinheit entwickelt und als eine szenische Abfolge konzipiert worden sind.
Durch den vom Lehrer gewählten inhaltlichen Zusammenhang der Inszenierungen und durch das von ihm gewählte Beispiel schafft er die Rahmenbedingungen, die benötigt werden, um die Aufmerksamkeit der Schüler so zu leiten, dass sie sich Schritt für Schritt den Aspekten des menschlichen Handelns zuwenden, die für den gewünschten Lernprozess entscheidend sind. Man kann daher nach dem Vorbild des Theaters von einer »Dramaturgie des Unterrichts«22 sprechen, da die Abfolge der Inszenierungen so angelegt ist, dass sich das Lehrstück als eine Handlungseinheit präsentiert. Nach diesem Plan soll das Verständnis systematisch erweitert und vertieft werden, weil sich in der Auseinandersetzung mit der Sache eine dramatische Spannung aufbaut,23 die sich auflöst, wenn die Schüler die Rätsel, auf die sie gemeinsam stoßen, selbstständig lösen – und wenn das Lehrstück damit seinen Höhepunkt erreicht.
In diesem Zusammenhang sei eine Bemerkung zur Lage der Ethik- und Philosophiedidaktik und zur Stoßrichtung dieses Buches gestattet: In der zeitgenössischen Didaktikforschung dominieren vor allem die problem- und kompetenzorientierten Lernansätze, die auch in den Lehrplänen der Fächer Philosophie und Ethik präferiert werden.24 Besonders die starke Fokussierung auf einen kompetenzorientierten Ethik- und Philosophieunterricht führt dazu, dass die fachlichen Inhalte zunehmend in den Hintergrund rücken und somit auch die Auseinandersetzung mit der Sache.25 Die Lehrstückdidaktik versucht hier einen anderen Weg zu gehen – beispielhaft auch das Lehrstück zur aristotelischen Ethik in diesem Buch. Einen Weg, dessen vorrangiges Ziel es nicht ist, z. B. die Argumentationskompetenz, Handlungskompetenz und Problemlösefähigkeit der Schüler auszubilden, sondern auf dem sie beispielsweise lernen, warum »Paula«, wenn sie sich zuhause allein vor dem Spiegel schön macht, die undurchsichtige Macht des Ansehens zu spüren bekommt (vgl. unten, 2.1).
Anhand von beispielhaften Szenen und Situationen menschlichen Handelns sollen die Schüler ins Nachdenken kommen; bei der Betrachtung von Szenen, die für sie nicht auf den ersten Blick durchsichtig sind und die sich demnach auch nicht so leicht verstehen lassen und sie gerade deshalb zum Denken animieren. ›Denken‹ sollte man daher »als einen objektnahen Vorgang begreifen«26, und die Unterrichtsgegenstände sind demzufolge »in dem Maße geeignet, in dem sie zum Nachdenken führen. Fast möchte man sagen: Man kann viel weniger unterrichten, solange es sich nur um einprägsame, weil das Denken ansprechende Unterrichtsstoffe handelt, um Tatsachen, die sich als Quell von Fragen erweisen.«27
Vor den philosophischen Problemen und den zu entwickelnden Kompetenzen stehen im Lehrstückunterricht also die exemplarischen Themen, die für die Schüler erfahrbar sein müssen, damit sie sie durchdenken und als relevante Probleme überhaupt erkennen können. Das setzt ein Verständnis von Erfahrung und Lernen voraus, das auf die Lerntheorie des Aristoteles zurückgeht (vgl. Kapitel 1.3). Diesem Verständnis liegt auch ein ganz bestimmter Begriff von Rationalität zugrunde, der für das Konzept der Lehrstückdidaktik und für ihre Sichtweise auf eine ethische und philosophische Bildung prägend ist. Die Lehrstückdidaktik steht hier offensichtlich in einer anderen Tradition als viele der anderen fachdidaktischen Konzepte, die vor allem die Ausbildung der logisch-argumentativen Kompetenz als wichtigstes Bildungsziel bestimmen (vgl. unten, 2.7.2).
Demgegenüber ist in der Lehrstückdidaktik die Schulung der Phantasie und der Einbildungskraft das Zentrum der Bildung, weil der Schatz, der in der Erfahrung liegt, nur auf diesem Wege zugänglich gemacht werden kann. Dabei spielen die Darstellungen des Schauspiels menschlichen Handelns, die den Schülern im Unterricht vorgeführt werden, eine maßgebliche Rolle für die erfahrungsgeleitete Einsichtsgewinnung und die Verständniserweiterung. Besonders dann, wenn sie bei den Schülern für Irritationen sorgen, sodass ihr konventioneller Blick auf die vertrauten Schauspiele nicht wenig verwirrt wird. Diese Erschütterung soll angestrebt werden, weil mit ihr neue Perspektiven auf das menschliche Tun und Treiben eröffnet werden.
In Gesprächen mit Hellmut Becker macht sich Adorno darüber Gedanken, wie eine »Erziehung zur Mündigkeit« aussehen könnte. In diesem Zusammenhang kommt er darauf zu sprechen, dass das Denken, wenn es denn auf eine rein formale Form gebracht wird, dazu neigt, erfahrungsarm und inhaltslos zu werden:
Ich glaube, das hängt sehr tief mit dem Begriff der Rationalität oder des Bewußtseins überhaupt zusammen. Man hat davon im allgemeinen einen viel zu engen Begriff, nämlich den der formalen Denkfähigkeit. Sie ist aber selber bereits eine Verengung der Intelligenz, ein Spezialfall der Intelligenz, dessen es gewiß bedarf. Das aber, was eigentlich Bewußtsein ausmacht, ist Denken in bezug auf Realität, auf Inhalt: die Beziehung zwischen den Denkformen und -strukturen des Subjekts und dem, was es nicht selber ist. Dieser tiefere Sinn von Bewußtsein oder Denkfähigkeit ist nicht einfach der formallogische Ablauf, sondern er stimmt wörtlich mit der Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, überein. Denken und geistige Erfahrungen machen, würde ich sagen, ist ein und dasselbe. Insofern sind Erziehung zur Erfahrung und Erziehung zur Mündigkeit, so, wie wir versucht haben, es auszuführen, miteinander identisch.28
Die Lehrstückdidaktik nimmt im Rahmen der fachdidaktischen Konzepte eine kritische Vermittlungsposition ein – vor allem deshalb, weil sie die Didaktik der Fächer Philosophie und Ethik von den zu erschließenden Inhalten und vom Unterricht her denkt. Das Problem, das Martens bereits 1983 diagnostizierte, scheint also in einer gewissen Hinsicht nach wie vor fortzubestehen:
Ein »Defizit liegt darin, dass bei aller notwendigen Arbeit auf der Ebene der Didaktik-Praxis bisher umfassendere Theoriebildungen fehlen oder eher abgehoben von der Didaktik-Praxis in der ›reinen‹ Philosophie verbleiben, zudem sind sie meist abgeschnitten vom interdisziplinären Kontext der Erziehungswissenschaft und ihrer Hilfsdisziplinen.«29
Die Lehrstückdidaktik macht es sich zur Aufgabe, dieses Defizit zu beheben, weil hier die Theoriebildung nicht abgehoben von der Unterrichtspraxis stattfindet, sondern stattdessen beispielhafte Lehrstücke zum Ausgangspunkt der didaktischen und methodischen Überlegungen gemacht werden.30 Damit ist ein Hauptanliegen dieses Lehrstücks zur aristotelischen Ethik klar bestimmt. Soll eine Didaktik nach diesem Prinzip institutionell etabliert werden, muss die experimentelle Erprobung innovativer Formen der Unterrichtsgestaltung und die Entwicklung von paradigmatischen Lehrstücken angestrebt werden, die sich in der Praxis bewähren.31 Dabei darf weder die Theoriebildung noch der interdisziplinäre Kontext ausgeblendet werden, weil es sich bei der Lehrstückdidaktik um ein allgemeindidaktisches Konzept handelt und weil die Fächergrenzen im Philosophie- und Ethikunterricht zwar respektiert, aber dennoch überschritten werden (müssen).
Ein Haupteinwand gegen die Lehrstückdidaktik besteht nun aber darin, dass hier eine umfassende Theoriebildung fehlt. Bonati kritisiert die Lehrstückdidaktik teilweise zu Recht, indem er deutlich macht, dass sie nicht über eine ›Theorie‹ des Lernens verfüge, die aufzeigt, wie der Wissenserwerb zu denken sei. Infolgedessen bleibe auch unklar, in welcher Weise sich das Lernkonzept der Lehrstückdidaktik von anderen Konzepten unterscheide. Vielmehr handele es dabei lediglich um ein »Gefüge von Grundsätzen (das Genetische, das Sokratische, das Exemplarische, das Dramaturgische).«32 Dieses sei zwar »grundsätzlich konsistent«, aber es fehle eben eine »eindeutige Begrifflichkeit.«33 Auch wenn Wagenscheins Ansatz eines ursprünglichen Verstehens ganz sicher nicht ›theoriefrei‹ ist,34 ist die grundsätzliche Stoßrichtung der Kritik doch verständlich; vor allem deshalb, weil die damit zugrunde gelegte Theorie des Lernens von Wagenschein nicht aufgedeckt und auch nicht hinreichend erklärt wird. Bereits Berg und Schulze reagieren auf dieses Theoriedefizit der Lehrstückdidaktik, indem sie selbst den Versuch unternehmen, die beiden Begriffe des Genetischen und des Dramaturgischen genauer zu bestimmen.35 Doch auch bei ihnen bleibt die Theoriebildung auf halbem Wege stehen, weil sie insgesamt noch zu wenig den erkenntnis- und lerntheoretischen Unterbau der Lehrstückdidaktik in den Blick nehmen – und weil sie vielleicht auch zu wenig das philosophische Problem reflektieren, das in dieser Lerntheorie steckt.
Deshalb beginnt dieses Buch mit einer Art philosophischen Vorrede, in der die Lerntheorie des Aristoteles – ausgehend von seinem Konzept der epagoge – dargestellt wird (vgl. unten, 1.3). Auf der Grundlage dieser Lerntheorie sollen dann in den einzelnen didaktischen Kommentaren die oben genannten Grundsätze der Lehrstückdidaktik (vgl. unten, 2.1.1, 2.4.1, 2.5.1 und 2.7.2) genauer begründet werden. Dabei liegt der Fokus bei der philosophischen Begründung auf dem ethischen Lernen, was aber nicht heißt, dass sich die aristotelische Lehrkunst als allgemeindidaktisches Konzept nicht auch auf andere Phänomene und Disziplinen übertragen lässt.