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1.3.4Die ästhetische Darstellung des Schauspiels menschlichen Handelns im Ethikunterricht: das ethische Urteil im sozialen Kontext
ОглавлениеFür Aristoteles ist das ethische Urteilen eine wichtige Konstituente des gesellschaftlichen Lebens. Die Individuen, die ihrer menschlichen Natur gemäß in einer Gesellschaft leben, schätzen und bewerten die Handlungen und die sehr vielfältigen Leistungen ihrer Mitmenschen unaufhörlich nach ihren Maßstäben – häufig ohne darauf zu achten, dass es die in ihrer Gesellschaft geltenden allgemeinen Maßstäbe sind. Die gegenseitige Hochschätzung und Geringschätzung, Bewunderung, Missachtung, Lob und Tadel spielen auch dann eine entscheidende Rolle, wenn sie gar nicht geäußert werden:
Nun scheint alles, was gelobt wird, deswegen gelobt zu werden, weil es von einer bestimmten Art ist oder weil es sich auf bestimmte Weise zu etwas anderem (pros ti) verhält; denn wir loben den Gerechten, den Tapferen und allgemein den Guten und die Gutheit aufgrund der Handlungen (praxis) und Werke (ergon), und wir loben den Starken, den Läufer usw., weil er von einer bestimmten Art ist und sich auf bestimmte Weise zu etwas Gutem (agathos) und Hervorragendem (spoudaios) verhält […]. Wenn nun das Lob solche Dinge zum Gegenstand hat, dann ist klar, dass es für das Beste kein Lob gibt, sondern etwas Größeres und Besseres.96
Mit einem Lob wird demnach festgestellt, dass das, was der Gelobte tut und schafft, seinem Glück dient: dem menschlichen Glück,97 das er nur findet, wenn er mit dem, was er verwirklicht, das vollbringt, was nur dem Menschen möglich und wozu er aufgerufen ist. Weil wir Menschen die große Leidenschaft haben, das Handeln von anderen Menschen überall und immerzu zu bewerten, findet dieses Schauspiel der gegenseitigen Beurteilung auch überall dort statt, wo Menschen zusammenkommen: auf dem Sportplatz, im Theater oder bei der Bewältigung einer politischen Aufgabe. Und da nahezu alle Menschen in politischen Gemeinschaften leben, sind ihnen die Wertmaßstäbe, die in diesem sozialen Rahmen gelten, auch bestens vertraut – so vertraut, dass sie ihr Leben und ihr Handeln danach ausrichten.
Für Aristoteles steht mithin außer Zweifel, dass jeder Mensch den herrschenden Wertmaßstäben der Gemeinschaft unterworfen ist.98 Auch wenn wir heutzutage dem einzelnen Menschen eine viel größere Freiheit und Souveränität beim Urteilen und Handeln zusprechen würden, untersteht dieser doch immer noch Gruppenerwartungen und kennt auch den sozialen Druck, der aus solchen Erwartungen erwächst. Der wohlwollende oder abschätzige Blick der anderen begleitet uns nicht nur bei unseren Handlungen, sondern er beeinflusst auch maßgeblich unsere Entscheidungen. Kurzum: Die ethischen Urteile normieren unser Handeln und legen unser Handeln auf etwas Bestimmtes und allgemein Bestimmbares fest:
Wer eine Handlung lobt oder tadelt, behauptet, sie habe das Verhältnis zum Glück getroffen oder verfehlt, der spricht ein konkretes sittliches Urteil aus. Dieses Urteil wird aber nicht vom Handelnden selbst ausgesprochen, sondern von seiner Umwelt, etwa in der Volksversammlung oder vor Gericht, im Theater, Kriegslager oder im täglichen Umgang. Lob und Tadel sind das soziale Echo, das ein Handeln begleitet und zustimmend oder ablehnend beurteilt. Solche Urteile scheinen nur nachträglich zu sein. Da der Handelnde aber auf diese Urteile gefaßt sein muß, gehen sie in Form von Gruppenerwartungen in seine Überlegungen ein und bestimmen die dem Handeln vorangehende Entscheidung.99
Die hochgeschätzten Tugenden – besonders die sozialen wie die Gerechtigkeit und die Freundschaft – sind für Aristoteles der Ausdruck einer gesellschaftlichen Haltung, die vom einzelnen Bürger auch erwartet wird. Mit Hilfe der Kategorien von Lob und Tadel wird ihm deutlich gemacht, ob sein Handeln den gesellschaftlichen Erwartungen und Maßstäben entspricht oder ob es verbesserungswürdig ist. Wer beispielsweise die Tugend der Freundschaft und der Gerechtigkeit angemessen ausgebildet hat, weiß um die verschiedenen Verpflichtungsverhältnisse, die er gegenüber seinen Familienangehörigen, seinen Gefährten und seinen Mitbürgern hat, und hält sich auch daran.100 Daraus folgt, dass Tugenden wie Freundschaft und Gerechtigkeit einen wesentlichen Einfluss auf das Zusammenleben in der Polis haben, und die Mitglieder der Gemeinschaft, die sich darin in besonderem Maße auszeichnen, erhalten verdientermaßen ein Lob, während die Mitglieder, die sich als wenig freigiebig oder als sehr eigensinnig erweisen, auch wenig Wertschätzung erfahren. Nach Jaeger gelten deshalb auch Lob und Tadel »als die grundlegende soziale Tatsache, in der die Existenz objektiver Wertmaßstäbe im Gemeinschaftsleben der Menschen zur Erscheinung kommt.«101
Auch wenn die geltenden Wertmaßstäbe in modernen Gesellschaften nicht mehr so eindeutig als verbindlich angesehen werden, wie es noch für Aristoteles der Fall gewesen ist,102 haben sie auch für uns eine große Bedeutung. Denn die Urteile, die wir über uns selbst und über andere Menschen fällen, sind maßgeblich von der sozialen Gemeinschaft geprägt: »Ich urteile als Mitglied dieser Gemeinschaft […].«103
Für den Ethiklehrer ist die Erkenntnis, dass das ethische Urteil eine soziale Dimension hat, außerordentlich wichtig. Lässt er sich nämlich von ihr leiten, kann er bei der Inszenierung des Unterrichts berücksichtigen, dass die Schüler, auch wenn sie nicht selten vom Gegenteil überzeugt sind, keineswegs autonom sind, sondern als Mitglieder der Gesellschaft urteilen und handeln, und zwar unter den Bedingungen, die ihnen damit vorgegeben sind, und von den Maßstäben abhängig, die sie übernommen haben, bevor sie sich kritisch mit ihnen auseinandersetzen können. Es geht hier nicht darum, ihnen diese Selbstbestimmung abzuerkennen, sondern vielmehr darum, sie in der Reflexion von exemplarischen Situationen menschlichen Handelns dafür sensibel zu machen, dass diese Unabhängigkeit im Urteilen und Handeln keine Selbstverständlichkeit, sondern stets das Ergebnis des Ringens um Selbstständigkeit ist.
Die aristotelische Methode setzt genau an dieser Stelle an. Sie zeichnet sich vor allem deshalb als didaktische Methode aus, weil es auf diesem Weg überhaupt erst möglich ist, den Schülern ihre eigenen Abhängigkeiten, die starken Beeinflussungen durch die soziale Gemeinschaft und auch die soziale Dimension ihrer ethischen Urteile bewusst zu machen. Im Rahmen des Lehrstücks geschieht das immer wieder, z. B. bei der Beurteilung des Handelns von Fred und Frieda104 im Sportunterricht oder auch des trunkenen Schürzenjägers John Falstaff.105 Es wird ein Spiel inszeniert, in dem die Schüler dazu ermuntert werden, selbstständig Urteile mit Blick auf eine exemplarische Situation oder Figur zu fällen. Die dafür verwendeten Darstellungen – die unterschiedlichen Inszenierungen, die Gedankenexperimente und Filmausschnitte – haben also die Funktion, ihre eigenen ethischen Urteile hervorzulocken und sie damit für eine Reflexion zugänglich zu machen.
Das moralische Nachdenken bewegt sich auf diese Weise in einem ästhetischen Feld, das, wie schon Herbart wusste, eine ethische Forderung für uns bereithält, die uns auch selbst betrifft und die wir noch leichter an andere stellen, zumal dieser Andere im Lehrstück stets eine fiktive Gestalt ist: »So urtheilen wir über Andre, nur noch leichter als über uns selbst; und die Forderung gilt – sollte wenigstens dem Andern gelten; und wir muthen ihm an, es selbst so zu finden.«106
Die ästhetische Darstellung hat hier also den Zweck, den Schülern den Freiraum für die moralische Entwicklung ihres Urteilsvermögens zu geben. Herbart fordert also im Grunde ebenfalls eine indirekte Betrachtung des Schauspiels menschlichen Handelns ein. Er muss es fordern, weil er mit dem Tiefblick des großartigen Pädagogen entdeckt hat, dass sich die Autonomie nur aus einer ästhetischen Blickschulung heraus entwickeln lässt. Das ist für ihn das »Hauptgeschäft der Erziehung.«107
Die ästhetische Darstellung der Welt dient hier also vornehmlich der Gewissensbildung. Im Lehrstück zur aristotelischen Ethik soll das Nachdenken über Moral allerdings zunächst an einer anderen Stelle beginnen. Der Lehrer bedient sich hier ebenfalls des Mittels der ästhetischen Darstellung von exemplarischen Situationen und Figuren – aber zunächst mit dem Ziel, die Schüler dazu zu ermuntern, selbstständig ein ethisches Urteil zu fällen. Im ersten Schritt geht es hier also (noch) nicht darum, dass die Schüler sich der eigenen Autonomie versichern, sondern vielmehr darum, dass sie die soziale Dimension ihres eigenen Urteils erkennen. Das gilt es, ihnen mittels eines Kunstgriffs vor Augen zu führen: Anders als im Theaterstück, das mit den ethischen Überzeugungen des Zuschauers spielt, werden die Schüler im Lehrstückunterricht ermutigt, sich selbst auf die Unterrichtsbühne vorzuwagen, und mit dem Vortrag ihrer Einschätzungen und Deutungen treten sie selbst als Darsteller in einer Rolle auf. Wenn sie das tun, können sie bemerken, dass ihre Urteile gar nicht so subjektiv sind, wie sie das vorher leichtgläubig angenommen haben. Denn sie stellen recht schnell fest, dass ihre Wertmaßstäbe mit Blick auf die Beurteilung der exemplarischen Situationen und Figuren gar nicht so unterschiedlich sind. Dies ist für sie häufig eine verstörende Erkenntnis, da sie gemeinsam – im Dialog miteinander – die Erfahrung machen können, dass ihr eigenes ethisches Urteil tatsächlich eine soziale Dimension hat; z. B. dann, wenn ihnen klar wird, dass sie bei der Bewertung des Handelns von Fred und Frieda selbst nach den geläufigen Kategorien ein Lob oder einen Tadel aussprechen.108 Oder auch dann, wenn ihnen mit einiger Verblüffung aufgeht, dass ihre eigenen Kriterien für die Beurteilung eines Charakters sich in vielerlei Hinsicht mit den aristotelischen Kriterien decken.109
Dieser erste Reflexionsschritt ist im Rahmen einer aristotelisch begründeten Ethikdidaktik außerordentlich wichtig und unerlässlich, weil die Schüler, wenn sie als Darsteller mit ihren Darstellungen in der Wahrnehmung ihrer Mitspieler erscheinen, erleben, dass auch sie sich in einem sozialen und von ihrer Zeit geprägten Rahmen bewegen – und dass sich auch in ihren eigenen ethischen Urteilen diese soziale Prägung zeigt. Durch die spielerisch angelegten Inszenierungen ist es den Schülern möglich, die Zeitbedingtheit und die soziale Bedingtheit ihrer Maßstäbe besser zu verstehen.