Читать книгу Ethik in Szene setzen - Mario Ziegler - Страница 9

1.2Das Konzept des Lehrstücks

Оглавление

Zum großen Schauspiel der Erscheinungen, das wir wahrnehmen, gehört auch das Schauspiel menschlichen Handelns mit seinen unzähligen Szenen, die sich häufig ähneln und wiederholen und die wir daher auch bei unzähligen Gelegenheiten in den Blick nehmen können. Dies tun wir im Laufe unseres Lebens so oft, dass wir nicht Weniges von dem erfassen, was sich in ihnen zeigt. Offensichtlich sind wir fähig, uns das einzuprägen, was uns auf diese Weise deutlich wird, und es lebenslang zu behalten. Denn anders ist nicht zu erklären, dass wir bei der Wahrnehmung der meisten menschlichen Handlungen sogleich feststellen, welche Beweggründe und Ziele sie haben. Somit erweist sich, dass wir in dieser Hinsicht ein Urteilsvermögen besitzen, auf das wir zurückgreifen, wenn wir sie einordnen und bewerten – oder wenn wir das, was sich in unserer Sicht zeigt, unseren Mitmenschen mitzuteilen versuchen.

Unter dieser Voraussetzung steht außer Zweifel, dass auch die Schüler jeden Alters ein Auffassungsvermögen haben und über ein Urteilspotential verfügen, das sich manifestiert, wenn sie eine Handlung wahrnehmen und diese interpretierend bewerten. Dazu sind sie, wie sich erweist, auch im Unterricht bereit, was sie dazu bewegen kann, zusammen mit ihren Mitschülern eine Szene in den Blick zu nehmen. In einem Unterricht, der darauf ausgerichtet ist, muss der Lehrer folglich in der Kunst geübt sein, als erstes dafür zu sorgen, dass allen Beteiligten eine solche Szene präsent ist. Ist dies der Fall, haben die Schüler eine Gelegenheit, den Vorgang eingehender zu beobachten – jeder von ihnen mit dem Verständnis, das ihm zu eigen ist. Was sich dabei zeigt, kann und soll exemplarisch36 und somit in vielerlei Hinsicht bemerkenswert, beeindruckend, vielleicht auch irritierend und unter möglichst vielen relevanten Gesichtspunkten aufschlussreich sein und ihr Interesse wecken. So sehr, dass es ihnen entgegenkommt, wenn man sie dazu auffordert, das, was sie jeweils erkennen und was sie dabei besonders bewegt, auch den anwesenden Mitbetrachtern deutlich zu machen. Um dies zu erreichen, müssen sie sich darum bemühen, das, was sie entdecken, darzustellen und für die Beteiligten zugänglich zu machen – entweder mit den sprachlichen Ausdrucksmitteln, über die sie verfügen, oder indem sie eine andere Darstellungsform wählen.

Dies zu tun, erfordert nach aller Erfahrung einiges Selbstbewusstsein und nicht wenig Mut. Deshalb müssen sie möglichst geschickt dazu ermuntert werden, ihre Hemmungen zu überwinden und das aufzudecken, was sie selbst bemerkenswert finden und was sie – aus welchem Grund auch immer – zu Erklärungen und Bewertungen herausfordert. Zögern und Zurückhaltung sind meist vergessen, sobald sich einige Schüler vorwagen und ihre Einschätzungen präsentieren. Denn mit dieser Präsentation treten sie – zumeist ohne sich dessen bewusst zu sein – in einer Rolle auf: in der Rolle eines Darstellers, der sich mit seiner Darstellung auch selbst vorstellt. Dies geschieht natürlich auch dann, wenn sie sichtlich bestrebt sind, das zu verbergen, was sie tatsächlich umtreibt. Treten sie so auf, machen sie ihre Mitschüler zu Zuschauern, die in dieser Rolle das, was ihnen gezeigt wird, aus mehreren Gründen nicht unbewegt hinnehmen.

Vor allem deshalb nicht, weil sie mit dem, was ihre Darstellung deutlich macht, auch etwas von ihrer Sichtweise offenbaren. Dadurch setzen sich die Zuschauer durchaus nicht unvoreingenommen mit der präsentierten Deutung und Bewertung der Szene auseinander. Lassen sie sich nämlich auf die Interpretation ein, dann sehen sie auch den Interpreten, der sich darin zu erkennen gibt, und zwar als eine Person, zu der sie ein in vielerlei Hinsicht vorgeprägtes persönliches Verhältnis haben. Weil sich alle mehr oder minder gut kennen und sich bei ihren Präsentationen besser kennenlernen, rechnen sie folglich damit, dass sie auch selbst zuerst als Personen betrachtet werden, die ihre Einstellungen, Wertvorstellungen und ihre Gefühle aufdecken, wenn sie sich mit Hinweisen auf die Stimmigkeit und Angemessenheit der präsentierten Einschätzung hervortun. Somit ist für alle durchsichtig, dass sie mit ihren Argumenten nicht allein diese vortragen, sondern sich zugleich damit auch selbst zeigen – und somit das Risiko eingehen, auch danach eingeschätzt und bewertet zu werden.

Weil diese Dimension nicht ausgeblendet werden darf, muss klar sein, dass mit dem Vortreten der ersten Darsteller und mit der Präsentation der ersten Deutungen und Bewertungen die Exposition eines lehrreichen Dramas37 vorgezeichnet ist, das nur dann zum Ziel führt, wenn der Unterricht als ein Drama gestaltet und von einem Regisseur geleitet wird, der es sinnvoll und vorausschauend inszeniert. Kunstgerecht und erfolgreich ist diese Inszenierung dann, wenn sie dazu führt, dass die Mitspieler sich gegenseitig auf das aufmerksam machen, was sie im Hinblick auf die gemeinsam betrachtete Szene mit ihren Mitteln hervorzuheben und deutlich zu machen versuchen. Geschieht dies, kann und soll es dazu kommen, dass die Akteure in der Auseinandersetzung mit den vorgetragenen Auffassungen ihr eigenes Verständnis weiterentwickeln. Denn damit haben sie einen Grund, die vorgeführte Handlung noch eingehender und unter neuen Gesichtspunkten zu betrachten. Gewinnen sie dabei neue Einsichten und somit auch neue Einordnungsmöglichkeiten, vollbringen sie – als genetisch38 Lernende – Leistungen, die ihnen niemand abnehmen kann und die daher deutlich von den Leistungen anderer Art abzugrenzen sind, zum Beispiel von denen, die sie erbringen, wenn sie eine Formulierung oder eine vorgegebene Darstellungsform übernehmen.

Finden sie, so unterstützt und angeleitet, einen Weg zur Erweiterung und zu einer weiteren Klärung ihres ersten Verständnisses, können sie einsehen, dass es möglich und nötig ist, das Entdeckte genauer und differenzierter darzustellen, als es zuvor geschehen ist. Damit stehen sie vor einer Aufgabe, die ihnen viel abverlangt, weil es für sie natürlich keineswegs leicht ist, das von ihnen Erfasste so darzulegen, dass es auch für Mitspieler im Lerndrama fassbar wird. Obwohl diese Bemühung selbstverständlich mehr oder minder erfolgreich sein kann, muss sie allen Beteiligten unbedingt zugemutet werden, weil sich anders nicht erweisen kann, wie groß und von welcher Art ihre Lernfortschritte sind. Die Darstellungsaufträge sollen ihnen somit etwas Anderes abverlangen als den Nachweis der Fähigkeit, möglichst viel von dem, was im Verlauf des Unterrichts gut präsentiert und vorgetragen worden ist, noch einmal in angemessener Form wohlgeordnet und vollständig vorzutragen. Diese Aufträge müssen vielmehr so konzipiert sein, dass die Bearbeiter nicht umhinkönnen, den eigenen Weg zur Vertiefung ihres Verständnisses nachzuzeichnen und einsichtig zu machen: nämlich den Weg, auf dem sie selbst in der Auseinandersetzung mit den präsentierten Erklärungen, Modellen und Darbietungen zu den Erkenntnissen geführt worden sind, die nach ihrer eigenen Einschätzung entscheidend sind.

Auch wenn verschiedene Darstellungsformen im Lehrstückunterricht ihre Berechtigung haben, nimmt die Schulung des sprachlichen Ausdrucksvermögens dennoch eine besondere Rolle ein. Jeder Schüler soll das, was er bei der sorgfältigen Betrachtung und Interpretation der Szenen entdeckt, mit seinen Worten so gut erklären, dass es auch seinen Mitschülern klar wird. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die er unbedingt möglichst gut bewältigen sollte. Denn mit der Ausschöpfung seiner sprachlichen Mittel, die ihm große Anstrengungen abverlangt, entwickelt und erweitert er sein eigenes sprachliches Ausdrucksvermögen, und diese Erweiterung ist die Voraussetzung für die angestrebte Klärung und Vertiefung seines Verständnisses und seines Urteilsvermögens. Geht ihm auf, dass beides untrennbar miteinander zusammenhängt, wird ihm klar, wie wichtig und mühsam eine sorgfältige Wortwahl ist und wie sehr es auf genaue und treffende Formulierungen ankommt. Aber er plagt sich nicht mit Begriffsdefinitionen oder dem Versuch, die Bedeutung eines einzelnen Wortes für sich genommen und für alle Fälle zu bestimmen und festzulegen.

Darum sollen die Schüler im Lehrstückunterricht dazu angeleitet werden, an einem dialogischen Drama und an dem in ihm stattfindenden Spiel mit Sprache und Worten teilzunehmen. Als Spieler, die im Spiel nicht nur begreifen, wie wichtig eine klare und verständliche Sprache ist, sondern die auch die Erfahrung machen, dass sie bei der hermeneutischen Erschließung der Szenen menschlichen Handelns nicht selten die Grenzen der sprachlichen Bestimmungsmöglichkeiten erreichen. Im Lehrstückunterricht soll demnach das Denken geübt und die Urteilsfähigkeit weiterentwickelt werden.

Ethik in Szene setzen

Подняться наверх