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1.3.3Das exemplarische Verfahren als didaktische Methode
ОглавлениеDen Ausgangspunkt einer aristotelisch geschulten Didaktik bilden, wie sich bereits gezeigt hat, »sinnfällig bekannte Beispiele«60, weil die Schüler allein auf diesem Weg ihr moralisches Verständnis aufdecken und zur Sprache bringen können. Das bedeutet, dass die Schüler ihr moralisches Verständnis nur dann vertiefen können, wenn sie dazu herausgefordert werden, ihr intuitives Wissen zu explizieren und zu reflektieren. Dieser notwendige Reflexionsschritt darf im Unterricht auf keinen Fall übergangen werden, vor allem deshalb nicht, weil es sonst – im schlimmsten Fall – zur blinden Übernahme von moralischen Urteilen und Überzeugungen kommt und somit ganz sicher nicht zur Entwicklung eines eigenständigen Urteilsvermögens.
Dabei beginnt die Entdeckung des eigenen Vorwissens mit der ersten unbefangenen Erschließung der moralisch relevanten Aspekte einer Beispielsituation. Werden die Schüler dazu ermuntert, darzustellen, wie sie die Situation sehen und verstehen, werden sie dazu bewegt, ihr ungewusstes und in vielerlei Hinsicht unklares Wissen zu explizieren. Auf diese Weise können sie nachträglich – in der Nachschau – den moralischen Kern der beispielhaften Situation entdecken.
Aristoteles geht, was die epagogische Funktion des Beispiels betrifft, sogar so weit, zu sagen, dass »das Beispiel die Struktur der Epagoge [hat] (ὁμοιον γάρἐπαγωγή τὸ παράδειγμα).«61 Es ist also vor allem deshalb die ursprüngliche Art des Lernens, weil wir uns nur auf einem induktiven Weg das Allgemeine, das wir implizit schon kennen, bewusst machen können. Das Beispiel ist hier genau genommen nicht ein bloßes Instruktionsmittel, etwa in dem Sinne, dass es einen allgemeinen Begriff zur Darstellung brächte,62 sondern das Beispiel ist »eine ἀρχή, ein Anfang und erster Grund, von dem aus Wissen und Überzeugung (πίστίς) zustande kommen.«63 Mit anderen Worten: Alles Lernen hat seinen Anfang im Beispiel, weil wir nur darüber auf unser Vorwissen, also auf die typischen Muster menschlichen Handelns, zurückgreifen können, die wir selbst bei der Betrachtung des Schauspiels menschlichen Handelns gewonnen haben.
Die Methode der ›beispielhaften Darstellung‹ oder Demonstration ist demzufolge auch eine Methode der Entdeckung, bei der der Schüler das aufdeckt und sich verständlich macht, was er mit Blick auf solche Situationen bisher ›irgendwie‹ und recht allgemein gewusst hat. Das eigene Erleben mit seinen prägenden Erfahrungen ist somit die Grundlage des epagogischen Lernens. Aristoteles geht tatsächlich davon aus, dass die Schüler auf die eigenen Erfahrungen und Erlebnisse zurückgreifen können und dass sie sich an beispielhaften Situationen die Erfahrungsgehalte des eigenen Vorwissens auch verständlich machen können, und zwar in dem Sinne, dass sie durch die exemplarische Auseinandersetzung ein ›praktisches Profil‹ (practically related profile)64 eines bestimmten moralischen Situationstyps zeichnen können. Lernen ist unter diesem Gesichtspunkt immer schon ein Lernen am Beispiel:
Von eben diesem impliziten Wissen macht das Beispiel Gebrauch. Es stellt ein Besonderes mit der Aufforderung vor Augen, es unter dem Blickwinkel des Allgemeinen zu betrachten. Es gibt dieses Allgemeine nicht geradezu, sondern es bringt einen darauf, indem es auf ein im Kennen der Beispielsmaterie wirksames Vorwissen anspielt, das man nur selbst explizieren kann […]. Lernen und am Beispiel lernen sind deshalb beinahe identische Ausdrücke.65
Aristoteles unterstellt dem Menschen eine sich fast aufzwingende Wahrheitssuche.66 Es gibt gewissermaßen eine Aufforderung der Dinge, sie unter der Perspektive des Allgemeinen zu betrachten, und zugleich sucht der Mensch das Allgemeine bei der Betrachtung und Vergegenwärtigung der einzelnen Beispiele, denn er hat es bereits ›im Blick‹ und strebt nun nur noch danach, dieses Wissen aus sich herauszusetzen. Das Streben nach Erkenntnis hat demzufolge eine leitende Funktion. Es ist offensichtlich so tief im Menschen verwurzelt, dass er das Bedürfnis hat, in der Nachschau auf das von ihm Wahrgenommene herauszufinden, was daran das Gemeinsame ist und was das Verbindende.
Die Suche nach den entsprechenden Wahrnehmungsmustern (τύποι) kann als Lernen verstanden werden, und zwar in dem Sinne, dass wir unserer eigenen Wahrnehmung und das, was darin bereits enthalten ist, auf den Grund gehen. Wahrnehmen ist hier aber nicht gleichzusetzen mit Erkennen und Lernen.67 Lernen ist vielmehr das Ergebnis der Beobachtung vieler bemerkenswerter Einzelheiten in der Wahrnehmung, die wir festhalten und die wir uns bewusst machen – so deutlich, dass wir damit eine Erfahrung machen und etwas lernen. Auf diese Erfahrung können wir indes nicht einfach zurückgreifen wie auf einen vorfindlichen Gegenstand, denn sie ist in der Aktualität unseres Wahrnehmens und Erlebens nicht einfach greifbar. Aber wir können darüber verfügen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit mit der nötigen Anstrengung gezielt darauf zurücklenken.68
Auch für Kant ist die Erfahrung eine der beiden Quellen des menschlichen Wissens und damit die Grundlage aller Erkenntnis. Aber weil er die Wahrnehmung nach dem sensualistischen Modell erklärt, kann er nicht unkritisch voraussetzen, dass in ihr alles unmittelbar und vollständig erscheint. Darum kann er nicht annehmen, dass wir Erkenntnisse gewinnen und etwas lernen, wenn wir das, was sich in der Wahrnehmung zeigt, erfassen und näher bestimmen, und zwar nach Kategorien, die wir ihrerseits aus der Erfahrung abgeleitet haben. In dieser Hinsicht denkt Kant ganz anders als Aristoteles, der – wie Buck völlig zu Recht feststellt – ein sehr viel unbefangeneres Verständnis der Wahrnehmung und der daraus resultierenden Erfahrung hat:
Erfahrung ist hier Anfang nicht nur insofern, als das Lernen »mit« ihr anfängt, sondern insofern, als dieses Anfangen mit … in einem bestimmten Sinn zugleich ein Anfangen auf Grund von … ist. Erfahrung ist hier ἀρχή in diesem doppelten Sinn; keineswegs ist sie nur Anfang im psychologischen Sinn wie bei Kant. Sie ist Grund des Lernens, weil in ihr als dem für uns früheren Wissen dasjenige Wissen, dem das Lernen zustrebt, (das Wissen des schlechthin Früheren), implizit schon enthalten ist. Nur weil die Erfahrung schon mit den Prinzipien arbeitet, kann es einen Weg von der Erfahrung zum expliziten Wissen der Prinzipien geben. Aber weil die Beziehung auf die Prinzipien zunächst nur undeutlich und unausdrücklich in der Form der Erfahrung gegeben ist, gibt es einen Weg zu den Prinzipien, einen Weg des immer deutlicheren und ausdrücklicheren Wissens des Allgemeinen.69
Es soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass aus dem erfahrungsgeleiteten Lernansatz der epagoge auch ein Problem erwachsen kann. Wer das Konzept der ›intuitiven Induktion‹ nämlich so versteht, dass »wir über die Betrachtung eines einzigen Beispiels mit einem Schlag, also ohne Zwischenschritte zum Allgemeinen oder gar zu untrüglichen Wahrheiten gelangen«, missversteht den entscheidenden Punkt.70 So schreibt Aristoteles in den Analytica Posteriora:
Es ist also klar, dass uns die ursprünglichen Dinge notwendig durch Induktion bekannt werden; in der Tat nämlich bringt die Wahrnehmung auf diese Weise darin das Allgemeine zustande.71
Und an anderer Stelle wird er noch deutlicher:
Aus Wahrnehmung also entsteht Erinnerung wie wir sagen; und aus Erinnerung desselben Dinges, wenn sie oft zustandekommt, Erfahrung – denn viele Erinnerungen sind eine einzige Erfahrung – und aus Erfahrung, oder aus jedem Allgemeinen, das zur Ruhe gekommen ist in der Seele – das eine neben den vielen, was in allen jenen Dingen als eines dasselbe ist […].72
Diesem Zitat kann man die These entnehmen, die αἴσθησις sei eine Sinnlichkeit, die uns befähigt, das Prinzipielle im Erscheinenden unmittelbar zu erkennen. Wer einen solchen außergewöhnlichen Sinn besäße, benötigte tatsächlich auch nur ein einziges Beispiel, um darüber eine unmittelbare Einsicht in die allgemeinen Zusammenhänge zu gewinnen. Danach wäre die Epagoge ein Verfahren, dass uns die Möglichkeit böte, mit absoluter Sicherheit zu untrüglichen Wahrheiten vorzustoßen.73 Nach dieser Interpretation dürfte man Aristoteles in der Tat den Vorwurf machen, er gerate mit seinem Plädoyer für die epagoge auf einen gefährlichen Irrweg. Wäre die intuitive Induktion nämlich eine Erkenntnisform, in der eine Wahrheit unmittelbar erscheint, wäre ein Irrtum strenggenommen ausgeschlossen. Dies würde im Hinblick auf die Bewertung und Beurteilung des menschlichen Handelns und auch in der Frage nach der Geltung der moralischen Urteile zu einem Dogmatismus führen, den niemand wirklich wollen kann, weil damit einer kritischen Reflexion des Geltungsanspruchs der Prinzipien der Boden entzogen wäre.74
Darum muss unbedingt klar sein, dass die Aussage »die Wahrnehmung schaffe die Prinzipien« für Aristoteles keineswegs ein Grund ist, eine Form der Wahrnehmung zu postulieren, in der das Allgemeine sinnlich gegenwärtig ist. Denn er hat ja für die Möglichkeit, dass uns etwas deutlich wird, wenn wir etwas bemerken oder eben wahrnehmen, eine ganz andere Erklärung. Insofern nämlich, als er veranschlagen kann, dass dabei mit den τύποι, die wir uns zuvor bei unzähligen Wahrnehmungsgelegenheiten eingeprägt haben, das Grundrissartige ins Spiel kommt, das unsere Sichtweise bestimmt. Aber unsere Sichtweise kann sich ändern und ist demnach keineswegs endgültig festgelegt, weil das Mustergültige in verschiedenen Versionen zu Geltung kommen und überdies nach der Maßgabe neuer Entdeckungen transformiert werden kann.75
Das bedeutet auch, dass sich nach der Ansicht von Aristoteles das sittliche Handeln stets in einem Kontext bewegt und dass wir es in der Ethik mit »praktischen (dynamischen) Begriffen«76 zu tun haben, die den Handlungsspielraum des Einzelnen nicht ein für alle Mal festlegen, sondern ihn in seiner Freiheit herausfordern. Der erfahrene Blick ist in dieser Hinsicht gerade deshalb erfahren, weil unterschiedliche Wahrnehmungsmuster in ihn eingehen und weil diese Grundrisse bei der Beobachtung konkreter Handlungen umgezeichnet werden können:
Die Orientierungsschemata, die dem sittlich Handelnden gegeben werden, bestehen aus Strukturgittern des sittlichen Handelns, die den Verhältnischarakter, die Relation eines Faktums zum Sollen, explizieren und das historisch und individuell Besondere (das veränderliche Ethos, die je anderen Lebensverhältnisse und Umstände) freigeben […]. Die Begriffe sind also so gefaßt, daß sie die Freiheit des Handelnden fordern und herausfordern.77
Dies ändert nichts daran, dass wir trotz der Erfahrungsbezogenheit unserer moralischen Urteile von unserer Sprache zu vorschnellen Verallgemeinerungen verführt werden können. Das ist der Ursprung für einen Dogmatismus, der sich über die Erfahrung hinwegsetzt und stattdessen mit übernommenen Grundsätzen Allgemeinheit vorgibt. Wenn wir als Ethiklehrer exemplarische Situationen menschlichen Handelns präsentieren, müssen wir folglich damit rechnen, dass die Schüler bei ihrer Besprechung zu unbedachten Verallgemeinerungen neigen. Verständlicherweise, weil ihnen dazu sogleich die Sätze und die Redeweisen in den Sinn kommen, die in ihrer Umgebung in solchen Fällen üblich sind und von denen sie meinen, dass es sich um ihre eigenen Urteile handelt. Der Lehrer, der zu einer epagoge anleiten will, muss deshalb damit rechnen, dass seine Schüler zunächst nur Belege für die Richtigkeit ihrer Ansichten finden werden, wenn sie mit einer Situation konfrontiert werden, die sie dazu veranlassen soll, sehr viel genauer hinzuschauen, als sie es gewohnt sind:
Die Tendenz zur vorzeitigen Verallgemeinerung wird gefördert durch die positive Funktion der Antizipation, sofern sich der Erfahrungserwerb ja in der Tat im allgemeinen so vollzieht, daß ein Zusammenspiel von Antizipation und Bestätigung durch nachfolgende Erfahrung stattfindet oder zumindest ein natürlicher Hang besteht, bestätigende Erfahrung eher zu behalten, als der Antizipation widerstreitende. So kann die Belehrung, die durch bestätigende Erfahrung beigesteuert wird, dem Lernen geradezu im Weg stehen, weil sie die Gewohnheit fördert, unsere Meinungen von den Dingen für die Erfahrung der Dinge selbst zu halten.78
Der Ethiklehrer muss sich dieser Gefahr bewusst sein und durch seine Inszenierungen sehr gezielt darauf hinwirken, dass die Schüler die Konventionalität ihrer Bewertungen selbst entdecken und sich so für eine konstruktive und kritische Reflexion öffnen können. Erst wenn die gewohnten Sicht- und Denkweisen aufgebrochen worden sind, kommt das eigentliche Potential der aristotelischen epagoge zur vollen Entfaltung: Erst dann kann sie als eine »methodische Selbstreflexion der Ethik«79 verstanden werden.
Das erklärt auch, warum die epagoge kein methodisch gesicherter Weg sein kann, der zwingend und zwangsläufig zu den allgemeinen Prinzipien hinführt – schon deshalb nicht, weil dieser Lernprozess keine Beweisstruktur hat, sondern auf Erfahrungen basiert, die bei genauerer Betrachtung eben nicht wie fertige Sätze und Grundsätze vorliegen. Vielmehr müssen die Erfahrungen anhand von exemplarischen Situationen menschlichen Handelns schrittweise aufgedeckt und vorsichtig reflektiert werden. Dabei kommt es immer wieder zu Irritationen, zu Rückfällen in sprachlich gewohnte Denkmuster und somit zu vorschnellen Verallgemeinerungen. Aber die Schüler können im erfahrungsgeleiteten Lernprozess immerhin dazu bewegt werden, ihre eigenen Ansichten so zur Sprache zu bringen und so verständlich darzustellen, dass sie sich zusammen mit den Mitbetrachtern mit ihnen beschäftigen und zu der Einsicht kommen können, dass es sich um Stereotype und Vorurteile handelt.
Entscheidend für den Dialog im Rahmen der aristotelischen Didaktik ist also tatsächlich die gezielte Auseinandersetzung mit den Ansichten und Urteilen, die im Hinblick auf die exemplarische Situation geäußert werden. Die Begriffsbildung darf das erfahrungsgeleitete Sprechen über die entsprechende Situation niemals versäumen. Es geht auch hier – im Sinne der aristotelischen epagoge – um die Entwicklung einer zunehmend differenzierten Betrachtungsweise und damit zugleich um eine gezielte Schulung des sprachlichen Ausdrucksvermögens. Denn die gemeinsame Besprechung einer Szene verlangt eine möglichst vollständige und adäquate Klärung aller wichtigen Aspekte der Handlung und somit das beständige Ringen aller Beteiligten um eine Ausdrucksweise, die diesem Anspruch gerecht wird. Es ist daher kein Zufall, dass Aristoteles bei der Bestimmung der Funktion der Sprache im epagogischen Lernen gerade den Spracherwerb der Kinder im Blick hat:
Dieses Vorwissen zeigt sich vorzüglich im erfahrungsmäßigen Sprechen über die Dinge, und Aristoteles nützt in der Prinzipienforschung diese von der natürlichen Sprache vorgeleistete Begriffsbildung und führt sie in der Weise der Ausdrücklichmachung des darin unausdrücklich Mitgemeinten fort. So ist es nicht nur ein beiläufiges Illustrationsmittel, wenn Aristoteles bei Gelegenheit der Erörterung der Epagoge in der Einleitung der Physik den Spracherwerb der Kinder heranzieht.80
Der epagogische Unterricht setzt demnach eine Offenheit voraus, die in den zeitgenössischen Didaktiktheorien kaum mehr zu finden ist, weil ihr Fokus entweder allein auf der allgemeinen und weitgehend inhaltslosen Kompetenzentwicklung der Schüler oder vorrangig auf der sprachlichen Klärung von Sätzen liegt.81 Beide Konzepte sind verbunden mit der Vorstellung, das Lernen sei ein formal bestimmbarer, zielorientierter, verlässlich-planbarer und sprachlich-reibungsloser Prozess. Im Gegensatz dazu ist das epagogische Lernen darauf angelegt, dass die Schüler in der Auseinandersetzung mit exemplarischen Situationen selbst ihren Irrtümern auf die Spur kommen und dabei die wichtige Erfahrung machen, dass sie selbst einen Weg suchen und finden können, auf dem sie vermieden werden. Die Verstörung und die irritierende Unruhe bei der Feststellung der eigenen sprachlichen Unklarheit ist hier schon deshalb Teil des erfahrungsgeleiteten Lernprozesses, weil nur so die Fragwürdigkeit des eigenen Sprechens und des eigenen Vorwissens hervortreten und für die Beteiligten auffällig werden kann.
Das Beispiel muss daher vom Lehrer so gewählt sein, dass sich darin etwas zeigen kann, das die Schüler aus ihren Denkgewohnheiten herausreißt und ihnen die Weiterentwicklung ihrer sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten zumutet. Stellen sie sich dieser Herausforderung, besteht die Möglichkeit eines Umlernens, das aus einem tieferen Verständnis der Sache erwächst. Aber das Gelingen ist im epagogischen Unterricht niemals vollständig planbar, weil es beim erfahrungsgeleiteten Lernen ein Moment der ›Unverfügbarkeit‹ gibt, dass sich einer strengen Verfahrenslogik entzieht.82
Dennoch bietet das exemplarische Vorgehen den Schülern den Raum, auch die vorsprachlichen Dimensionen des eigenen Denkens und Urteilens in den Blick zu nehmen – und zwar vor allem deshalb, weil die Schüler die ausgewählten Szenen in der Nachschau sehr viel genauer und auch mit der nötigen Offenheit betrachten können. Und weil der Zugang zu den entsprechenden Situationen auf diese Weise indirekt geschieht, können die Schüler auf den zweiten Blick etwas entdecken und auch zur Sprache bringen, das ihnen bei der ersten Beobachtung und in der vorurteilsbehafteten Redeweise über solche Situationen bisher noch entgangen ist.83
Bei der erneuten Reflexion des Bekannten können für den Schüler die vertrauten Zusammenhänge unvertraut werden. Dabei dürfen die vom Lehrer ausgewählten Situationen menschlichen Handelns durchaus etwas Zweifelhaftes und Irritierendes an sich haben, denn nur so kann der konventionelle Blick der Schüler etwas verstört und aus seinen gewohnten Bahnen gebracht werden. Erfüllt die exemplarische Situation diese Bedingung, kann es passieren, dass die Schüler auf etwas aufmerksam werden, das ihren Blick auf die Situation verändert: »Das bloße Bekanntsein, die Geläufigkeit, wird storniert und gerade dadurch der Weg zu einem erneuten Hinsehen und Hinhören, Erkennen, Begreifen und Tun geöffnet.«84
Der epagogische Unterricht zielt darauf, dass die Schüler bei der erneuten Reflexion von bekannten Situationen ihren eigenen Irrtümern und Vorurteilen auf die Spur kommen. Die Möglichkeit eines solchen Umlernens vergrößert sich noch, weil die Schüler im gemeinsamen Dialog über die Situation ihren Blick gegenseitig auf die wesentlichen Merkmale lenken und sich so gegenseitig auf die eigenen Irrtümer und einseitigen Perspektiven aufmerksam machen können. Das bedeutet: In der gemeinsamen Nachschau können sie sich am besten darauf besinnen, was sie in Bezug auf die jeweilige Situation implizit schon wissen und sich auf diesem Weg zugleich das Allgemeine klar und verständlich machen: »Das bloße Auskennen schlägt in Erkennen um, sobald es zum Gegenstand einer Reflexion wird und damit aus seiner verlässlichen Vertrautheit gerissen wird, die als solche nicht zu ergreifen ist.«85
Die Reflexion bekommt hier also die Rolle zugewiesen, die sie verdient, weil allein durch sie die allzu vertrauten Sicht- und Denkweisen einer kritischen Prüfung unterzogen werden können. Mehr noch: Allein in der Nachschau auf das Handeln können wir uns die stereotypen Muster, die unseren Blick prägen, bewusst machen. So erhalten wir überhaupt erst die Chance, die Urteile über die Handlungen und die Bewertungen, die in den sprachlichen Äußerungen darüber getroffen werden, unter ethischen Gesichtspunkten zu analysieren. Diese kritische Reflexion ist nur möglich, wenn die Schüler ihre Überzeugungen im Ethikunterricht nicht preisgeben, sondern diese zum Ausgangs- und Mittelpunkt einer reflexiven Nachschau machen können. Der epagogische Unterricht eröffnet den Schülern mithin im besten Fall den Weg zu Erfahrungen, die dann neu sind, wenn das Grundrissartige in ihrer Wahrnehmung im genetischen Gang des Lernens »umstrukturiert« wird:
Lernen in dem hier diskutierten Sinne fußt nicht lediglich auf Erfahrung, sondern ist Erfahrung. Als solche ist es uns zugänglich, wenn auch weder vollständig noch unmittelbar, sondern gleichsam in einer obliquen Schau […]. Lernen meint unter diesem Aspekt kein Kontinuum und keine Anhäufung. Es ist eine Gratwanderung zwischen Konvention und Aufbruch.86
Das epagogische Lernen muss eine solche »Gratwanderung« sein, weil die Orientierungsschemata für die ethische Beurteilung des menschlichen Handelns nicht anders zu gewinnen sind:87 Diese bilden somit nur den normativen Rahmen für die ethische Beurteilung der Handlungen. Was der Einzelne in seinen Lebensverhältnissen und in der Gesellschaft, in der er lebt, daraus macht, ist ihm freigestellt. Es obliegt demnach dem Einzelnen, sich in aller Freiheit zu fragen, wie er gemäß der normativen Richtlinien sein Leben gestalten will.88 Dabei kann es auch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen kommen; nämlich dann, wenn unsere Lebenswelt so in Konventionen gefangen ist, dass mit der Besinnung auf die Orientierungsschemata schon der erste wichtige Schritt zu ihrer kritischen Reflexion getan ist.
Man kann sogar noch weitergehen und behaupten: So wie die Erfahrungen sind auch die Orientierungsschemata als praktische Begriffe ›dynamisch‹. Achten wir auf uns selbst, zeigt sich sehr deutlich, dass wir immer wieder neue Erfahrungen machen, die uns zwingen, die alten Sicht- und Denkweisen zu überprüfen. Erfahrungen, die durchaus sehr schmerzhaft sein können, weil sie uns sehr heftig aus der Sicherheit unserer Überzeugungen herausreißen; auch dann, wenn wir meinen, etwas im Prinzip richtig verstanden zu haben: »Sie [die Erfahrung, hinzugefügt von M. Z.] ist in sich selbst dynamisch, auch und gerade dann, wenn sie bei einem Allgemeinen angekommen ist.«89
Weil die Epagoge ein erfahrungsgeleitetes Lernen ist, können auch die allgemeinen Prinzipien und Orientierungsschemata, die auf diesem Weg gewonnen werden, nicht völlig losgelöst von diesem Erfahrungsgeschehen betrachtet werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass die allgemeinen Prinzipien keinen generellen Geltungscharakter besitzen. Selbstverständlich stehen sie uns als moralische Urteilskriterien zur Verfügung und fordern uns dazu heraus, unser eigenes Handeln an Maßstäben auszurichten, die wir nicht nach unserem Gutdünken ändern und neu festsetzen können und die somit allgemeingültig sind.90 Nur ändert das nichts daran, dass diese Art des Wissens aus Erfahrung entsprungen ist und dass es demnach auch wieder durch neue Erfahrungen erweitert und verändert werden kann. Das gilt auch und vielleicht ganz besonders für die praktischen Begriffe:
Auch in dieser Hinsicht ist die Erfahrung ein Lernen, und Aristoteles spricht deshalb gelegentlich, wenn er den Induktionsprozeß beschreibt, einfach von der Erfahrung (vgl. Met. A 1, 981 a2f., 5 ff.). Unter diesem Aspekt wäre es also auch ein Mißverständnis, anzunehmen, der Satz des Aristoteles, dass alles Lernen aus einem vorgängigen Wissen geschehe, beziehe sich nur auf das Lernen der Prinzipien, so daß der Gang der Epagoge in jedem Fall aus dem Erfahrungsgeschehen heraustrete. In Wirklichkeit geschieht nicht nur dasjenige Lernen, das in eine begriffliche, auf Prinzipien beruhende Erkenntnis übergeht, aus einem Vorverständnis, sondern auch das in der Empirie verharrende Kennenlernen.91
Weil nicht nur unsere Erfahrungen einem Wandel unterzogen sind, sondern auch die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen wir leben, sind die auf diesem Weg gewonnenen Orientierungsschemata als kritische Reflexionsmuster niemals völlig unzeitgemäß. Aber weil die Zeiten sich ändern und somit neue Erfahrungen ermöglichen, ist es gegebenenfalls auch nötig, die Orientierungsschemata kritisch zu prüfen und neu zu konkretisieren. Das heißt: Die praktischen Begriffe stehen dabei selbst auf dem Prüfstand, und eine Erneuerung dieser Begriffe wäre grundsätzlicher Art. Aber sie ist für Aristoteles denkbar, weil er die praktischen Begriffe als dynamische Begriffe begreift. Weil er erkannt hat, dass der Mensch immer schon in der Welt verankert und somit auch in die gesellschaftlichen Verhältnisse verwickelt ist, so dass die Erfahrungen und die allgemeinen Einsichten, die er dabei macht, nie vollständig oder zu Ende gedacht sind. Vielmehr verlangen sie eine Offenheit, die der Erfahrung grundsätzlich eigen ist, die aber auch das Nachdenken über die Erfahrung nie vollends loslässt.92
Ethisches Lernen kann unter diesem Verständnis als ein ›Erfahrungslernen‹ verstanden werden. Mit der aristotelischen Epagoge ist folglich ein Bildungsprozess verbunden, der den ganzen Menschen und nicht nur die Entwicklung seiner Wertvorstellungen und seiner moralischen Urteilsfähigkeit umfasst. Für den epagogischen Unterricht bedeutet das, dass die Schüler hier im besten Fall eine neue Erfahrung machen, die so grundlegend ist, dass sie nachher nicht nur die bekannten Situationen aus einem neuen Blickwinkel betrachten können, sondern dass sie bei der erneuten Reflexion des Schauspiels menschlichen Handelns und ihres eigenen Erlebens sich auch selbst verändern können. Denn sie erfahren bei dieser reflexiven Auseinandersetzung mit den exemplarischen Situationen nicht nur mehr über die Verfasstheit der moralischen Wirklichkeit und ihrer unbestreitbaren Abgründe; vielmehr betrachten sie sich in der indirekten Nachschau immer auch selbst93: Sie erfahren etwas über sich selbst, das sie anders nicht erfahren können. Der epagogische Weg des Lernens stellt damit auch einen Weg zur moralischen Selbsterkenntnis der Schüler dar – vor allem deshalb, weil sie im Rahmen des Lehrstückunterrichts immer wieder durch die unterschiedlichen Darstellungsaufträge dazu aufgefordert und herausgefordert werden, ihr eigenes Verständnis zur Darstellung zu bringen und somit sich selbst und ihren Mitschülern einsichtig zu machen, was nach ihrer eigenen Einschätzung mit Blick auf die exemplarische Situation entscheidend ist. Es ist demnach auch nicht zu leugnen, dass der epagogische Unterricht das Potential zu einer solchen Form des Umlernens und der Selbstbesinnung besitzt:
Umlernen aber, das ist nicht nur die Korrektur dieser oder jener Vorstellungen, die man sich über etwas gemacht hat; es bedeutet auch einen Wandel der »Einstellung«, d. h. des ganzen Horizonts der Erfahrung. Wer umlernt, wird mit sich selbst konfrontiert; er kommt zur Besinnung. Nicht nur gewisse Vorstellungen wandeln sich hier, sondern der Lernende selbst wandelt sich.94
Allerdings kann ein solcher Wandel der Einstellung beim Schüler niemals direkt angestrebt werden, sondern ist nur auf eine indirekte Weise anzubahnen: in der Vergegenwärtigung von exemplarischen Situationen, in denen die eigenen Maßstäbe des Schülers Gestalt annehmen, für ihn begreifbar werden und gegebenenfalls in einem freien Akt der Selbstbesinnung einer kritischen Revision unterzogen werden. Entscheidend dabei ist, dass diese kritische Selbstbetrachtung der Freiheit und Autonomie des Schülers überlassen bleibt und auch bleiben muss; denn zu einer Einsicht kann man niemanden zwingen und auch nicht zum Wandel seiner Einstellung und seines Handelns. Andernfalls wird der Ethikunterricht zu einer Theatervorstellung und zu einem Maskenspiel, bei dem die Schüler sich nicht – schon gar nicht in moralischer Hinsicht – selbst besser kennen lernen, sondern stattdessen lernen, als Schauspieler den vermeintlich eigenen moralischen »Charakter« so vor sich selbst und vor den Mitschülern darzustellen, dass gerade dadurch eine moralische Selbsterkenntnis ausgeschlossen wird. Ein solcher Schauspiel-Unterricht führt sehr schnell zu einer »Dressur« und zur Einübung einer moralisch korrekten Redeweise oder er verstärkt gar die Gefahr von Selbsttäuschungen, die ohnehin vielen Gesprächen über Moral innewohnt.95