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1.3.5Mimesis als nachahmende Darstellung: Darstellung von typisch menschlichen Handlungen, Situationen und Lebensweisen110

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Nach Aristoteles gehört es wesentlich zu »unserer Natur, ›eine Fähigkeit zum‹ Nachahmen […] zu haben.«111 Jeder Mensch hat Freude an Nachbildungen und beim Nachbilden und Darstellen – das ist bereits bei Kindern gut zu beobachten, denn sie erwerben ihre ersten Kenntnisse durch Nachahmen.112 Diese Freude an Darstellungen ist also eine typisch menschliche Freude – und zwar vor allem deshalb, weil sie mit der Erkenntnisfreude eng verbunden ist: »Sie [die Menschen, hinzugefügt von M. Z.] empfinden nämlich Freude beim Anschauen von Bildern, weil sie beim Betrachten zugleich erkennen und erschließen, was das jeweils Dargestellte ist, etwa dass es sich bei dem Dargestellten um diesen und jenen handelt.«113

Lernen anhand von Darstellungen ist eine uns Vergnügen bereitende Tätigkeit. Wenn sich uns ein Bild oder eine Szene im Theater erschließt, empfinden wir dabei Freude. Sichtbar wird dieses vergnügliche Erkenntnisinteresse etwa bei Kindern, die die Welt zunächst vor allem durch Darstellungen – z. B. in Büchern – kennenlernen. Doch nicht nur das Betrachten von Darstellungen bereitet den Menschen Freude, sondern auch die möglichst kunstvoll ausgeübte Tätigkeit des Darstellens selbst. Dieses zweite Vergnügen, das wir beim eigenen Nachbilden und Darstellen selbst empfinden, ist ebenfalls mit einem Erkenntnisinteresse verknüpft.

Allerdings geht es hier vor allem um die Art und Weise der Darstellung, also um die Frage, wie etwas, z. B. eine bestimmte menschliche Handlungsweise, zur Darstellung gebracht worden ist. Diese Darstellung können wir dann als gelungen oder auch als nicht gelungen wahrnehmen. Worauf es ankommt, ist, dass auch die damit verbundene ästhetische Freude ebenfalls eine Erkenntnisfreude ist. Beide Arten der Erkenntnisfreude spielen im Rahmen der Lehrstückdidaktik eine zentrale Rolle. Wolfgang Welsch charakterisiert sie im Sinne des Aristoteles so:

Die erste bezieht sich […] auf die Erkenntnis des Dargestellten – auf das Herausfinden des dargestellten Gegenstands. Die zweite Art hingegen bezieht sich nicht auf den Gegenstand, sondern auf die Weise der Darstellung […]. Diese darstellungsbezogene ist die genuin ästhetische Freude, und sie ist immer mit im Spiel. Wir können uns an der ästhetischen Gelungenheit der Darstellung erfreuen – was immer der Gegenstand sein mag.114

Auch die ästhetische Freude, die die Schüler beim Darstellen und Nachbilden – beispielsweise bei einer theatralen Darstellung – empfinden können, ist somit ein wesentlicher Teil des Lernens; vor allem deshalb, weil die Schüler beim (künstlerischen) Darstellen etwas Bestimmtes – im Ethikunterricht: zumeist eine menschliche Handlung – interpretieren und dabei zuallererst das, was für sie selbst zu erkennen ist, auch selbst darstellen und somit sich und anderen verständlich machen. Wenn der Unterricht selbst als ein Drama gestaltet wird, ist dieses produktive Moment – der konkrete Vollzug – beim Nachbilden und Darstellen von ganz entscheidender Bedeutung. Ein Teil des inhaltlichen Lernens besteht in diesem Mitvollzug der Handlung. Die Verwendung des Wortes »Handlung« ist in diesem Fall doppeldeutig: Einmal meint es den Nachvollzug einer menschlichen Handlung, ohne die eine Interpretation nicht möglich wäre. Zum anderen ist es aber auch die Handlung selbst, die die Schüler im Unterricht vollziehen. Auf diesen zweiten Aspekt hebt Schulze ab, wenn er den Lehrstückunterricht mit dem Drama vergleicht und dabei betont, dass hier Inhaltserschließung und Handlung eng verknüpft sind: »Der Inhalt wird im Mitvollzug der Handlung erfahren, und nur was man im Mitvollzug der Handlung erfährt, ist der Inhalt […]. Die Handlungen im Unterricht, wie sie die Lehrkunst intendiert, sind in erster Linie Erkenntnis- oder Produktionshandlungen.«115

Auch in diesem Zusammenhang kann man sich auf Aristoteles und seine mimetische Erkenntnislehre und Didaktik berufen. Denn indem die Schüler im Lehrstückunterricht dazu ermuntert werden, eine bestimmte Handlung zur Darstellung zu bringen, werden sie nicht nur dazu angespornt, diese bloß nachahmend wiederzugeben, sondern sie bringen mit der gewählten Darstellungsweise auch das für sie Typische der Handlung zum Vorschein.116 Dabei eignen sie sich, wie bereits deutlich wurde, eigentlich erst an, was sie darüber bisher noch recht ungenau wissen, und greifen zugleich auf ihr primäres Wissen zurück. Entscheidend ist mithin, dass die damit verbundene Darstellungsleistung der Schüler genau genommen bereits eine Erkenntnisleistung darstellt. Denn die Darstellung der Situation oder der Handlung übersteigt ihre bloße Wiedergabe, weil damit das Wesentliche als »Typos« (τύποζ) erfasst und fassbar gemacht wird.

In einer aristotelisch geschulten mimetischen Didaktik steht diese Darstellungsarbeit im Mittelpunkt. Und auch die Beurteilung der von den Schülern hervorgebrachten Darstellungen erfolgt im Lehrstückunterricht auf eine zweifache Weise; zum einen wird die Darstellung selbst beurteilt, ob sie das Typische der Situation trifft bzw. der Sache nach angemessen ist. Zum anderen kann die Darstellung auch unter einem ästhetischen Gesichtspunkt in den Blick genommen werden; z. B. dann, wenn die Schüler zu beurteilen haben, ob ihre Standbilder zum phronimos gelungen oder misslungen sind.117 Beide Perspektiven können mit Blick auf die Beurteilung der Darstellungen von den Schülern eingenommen werden und beide Perspektiven sind mit einem Erkenntnisanspruch verbunden: »Mίmēsis ist mehr als bloße Wiedergabe, sie ist Darstellung. Ihr Entscheidendes ist nicht der Gegenstand, sondern die Darstellungsweise. Und wir beurteilen sie in beiden Aspekten – sowohl hinsichtlich der Darstellungsweise wie des Dargestellten – erkennend.«118

Bei der Inszenierung eines Lehrstücks greift der Lehrer auf die mimetische Darstellungskunst zurück. Er wendet also die aristotelische Typos-Lehre und die Mimesis als nachahmende Darstellungskunst unter didaktischen Gesichtspunkten an. Dabei ist seine Aufgabe als Lehrstückentwickler in vielerlei Hinsicht analog zu der des Dichters. Für Aristoteles bildet die Dichtung eine mimetische Kunstform, bei der es vornehmlich darum geht, »handelnde Menschen«119 darzustellen; allerdings nicht so, wie sich ihr Handeln in der alltäglichen Wahrnehmung abspielt. Der Dichter soll das Geschehen vielmehr derart darstellen, wie die Dinge so geworden sind oder wie es zu einer bestimmten Handlung, Situation oder Lebensweise gekommen ist. Sein Fokus bei der Betrachtung und Darstellung des Schauspiels menschlichen Handelns liegt auf den Entstehungsbedingungen und auf den typischen Merkmalen der Handlungen. Es geht ihm also nicht darum, jedes historische oder tatsächlich aufgetretene Detail einer Handlung festzuhalten und zu thematisieren, sondern vielmehr darum, die Handlungen in ihrer »typisierten Form« vor Augen zu führen.120

Die Dichtung als mimetische Darstellungskunst stellt demzufolge »exemplarische Möglichkeiten« menschlichen Handelns dar,121 und zwar entweder gute oder schlechte menschliche Lebensweisen.122 Denn sie zeigt die typische – sprich: die allgemeine – Form eines bestimmten Handlungsverlaufs:

Aufgrund des Gesagten ist auch klar, dass nicht dies, die geschichtliche Wirklichkeit ›einfach‹ wiederzugeben, die Aufgabe eines Dichters ist, sondern etwas so ›darzustellen‹, wie es gemäß ›innerer‹ Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen würde, d. h., was ›als eine Handlung eines bestimmten Charakters‹ möglich ist.123

Auch im Lehrstückunterricht geht es nicht um die Darstellung von Individuen oder einzelnen Handlungen, sondern vielmehr um die Darstellung von typischen menschlichen Handlungen und Lebensweisen, also um exemplarische Situationen menschlichen Handelns, an denen sich etwas ethisch Relevantes zeigen lässt. Dabei greifen die Lehrstückentwickler gern auf literarische oder filmische Darstellungsformen zurück, so wie am Beispiel von Falstaff.124 Er spielt im Rahmen des Lehrstücks eine ganz entscheidende Rolle; vor allem deshalb, weil er aufgrund seiner komödienhaften Gestalt und seines auffallend schwachen Charakters eine typisch menschliche Lebensweise verkörpert, die zugleich eine mögliche Existenzform des Menschen repräsentiert. An ihm lässt sich demnach etwas allgemein Menschliches zeigen, das die Schüler bereits von sich selbst kennen, das sie aber durch die Darstellung auf der Unterrichtsbühne und durch ihre eigenen Darstellungen noch besser kennen lernen sollen. Die charakteristischen Handlungsweisen von Falstaff werden ihnen im Lehrstück so vor Augen geführt, dass sie daran das Typische dieser menschlichen Lebensweise erkennen können.

Die Darstellung im Lehrstückunterricht zielt also wie die Dichtkunst auf das Exemplarische eines bestimmten und somit bestimmbaren Lebenstypus. Deshalb muss die beispielhafte Darstellung auch besser sein als die Wirklichkeit, sie muss das faktische Handeln von Menschen stets in irgendeiner Hinsicht übertreffen.125 Denn erst dann kann das Besondere dieses Typs von Menschen zur Erscheinung kommen. Shakespeare hat Falstaff zu einem Helden der Komödie gemacht. Das Charakteristische an dieser Figur hat er mit literarischen Mitteln so dargestellt, dass die Besonderheit seines schwachen Charakters für die Zuschauer im Theater sinnfällig und verständlich wird. Dabei hat er sich immer wieder des Stilmittels der Übertreibung bedient, um die Falsstaff’sche Art zu leben – das skizzenhafte Bild dieses Lebenstypus – dem Zuschauer deutlich vor Augen zu führen.126

Falstaff entspricht im aristotelischen Sinne sicher nicht dem Idealbild eines vortrefflichen Menschen, denn er verkörpert ja geradezu paradigmatisch die Lebensweise eines Menschen, der nichts oder jedenfalls nicht das Beste aus seinen Möglichkeiten macht. Er ist ein »Tunichtgut« und ein »Taugenichts« par excellence. Im Lehrstück eignet er sich gerade deshalb als Negativbild oder als Kontrastfigur zum phronimos, also zu der Figur, die nach Ansicht von Aristoteles den Idealtypus einer ethisch vortrefflichen Lebensweise darstellt.127 Und Falstaff eignet sich im Rahmen des Lehrstücks auch deshalb als treffendes Beispiel besonders gut, weil an ihm – ausgehend von seinen reizenden Schwächen – sehr klar der aristotelische Blick auf die menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten hervortreten kann. Die anthropologischen Voraussetzungen der aristotelischen Ethik werden an seinem negativen Beispiel besonders eindrucksvoll deutlich. Der Grundriss der Ethik des Aristoteles – sein Strukturgitter zur ethischen Beurteilung menschlichen Handelns – kann somit von den Schülern anhand der beispielhaften Darstellung seines schwächlichen Charakters durchschaut werden. Darüber hinaus stellt das exemplarische Verfahren hier die geeignete Methode im Lehrstück dar, weil diese Einsicht in die aristotelische Denkweise nicht nur anhand des Beispiels, sondern vielmehr auch mit Hilfe der Darstellungen der Schüler, mit denen sie ihren eigenen Erfahrungs- und Urteilshorizont fassbar machen, gewonnen wird.128

Die Lehrstückdidaktik ist somit eine mimetische Didaktik, weil sie die Darstellungskunst zum grundlegenden Prinzip im Ethikunterricht erklärt. Lernen bedeutet hier, etwas zur Darstellung bringen – entweder geschieht dies durch den Lehrer, der den Schülern eine typische menschliche Handlungs- oder Lebensweise szenenhaft vor Augen führt, oder die Schüler sind selbst aufgefordert, das, was sie in einer Szene menschlichen Handelns erkennen, auch selbst darzustellen und verständlich zu machen. Weil der Lehrstückunterricht wie die Dichtung darauf abzielt, einen bestimmten Lebenstypus exemplarisch darzustellen, verfolgt er auch ein allgemeines Erkenntnisinteresse. Daher ist der Lehrstückunterricht auch ein philosophischer Unterricht, denn in der Philosophie geht es wie in der Dichtkunst darum, den allgemeinen Typus einer Situation oder einer Handlungs- und Lebensweise zur Darstellung zu bringen. Doch auch ein wesentlicher Unterschied zur Dichtung – genauer gesagt zur Tragödie – muss noch festgehalten werden. Die griechische Tragödie will nicht didaktisch sein.129 Demgegenüber werden die verschiedenen Darstellungsformen im Lehrstückunterricht ausdrücklich zu diesem Zweck eingesetzt.

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