Читать книгу Ethik in Szene setzen - Mario Ziegler - Страница 11
1.3.2Die epagoge als grundrissartige Typenlehre
ОглавлениеDie aristotelische epagoge ist eingebettet in eine Wahrnehmungstheorie. Dies zeigt sich auch an der Verwendung des Ausdrucks »Typos« (τύπος). Als Wahrnehmende können wir im Laufe unseres Lebens viele Entdeckungen machen. Das, was uns dabei auffällt, können wir als Menschen uns einprägen, weil wir ein Gedächtnis besitzen. Damit halten wir fest, was wir wahrgenommen haben und auf diese Weise können wir auch das Schauspiel menschlichen Handelns beobachten und dabei ebenfalls viele Entdeckungen machen. Zum Beispiel ist es uns möglich, festzustellen, dass es Menschen gibt, die einfach nicht bereit sind, sich anzustrengen und das Beste aus ihren Möglichkeiten zu machen. Solche Figuren oder ›Typen‹ von Menschen gibt es auch im Theater, beispielsweise in Shakespeares Stücken, wenn er den Schürzenjäger und Trunkenbold Falstaff kunstgerecht auftreten lässt.51 In seinen ethischen Abhandlungen nutzt Aristoteles wie ein Dichter die Möglichkeit, durch die Darstellung der Denk- und Lebensweise eines bestimmten Typus die Dimensionen menschlichen Handelns erkennbar zu machen, auf die er aufmerksam machen will. So lässt er zum Beispiel bei verschiedenen Gelegenheiten den phronimos auftreten,52 um zu demonstrieren, dass der Mensch durchaus die Möglichkeit hat, eine Situation klug einzuschätzen und sie besonnen zu bewältigen.
Aristoteles geht davon aus, dass wir mit solchen ›Typen‹ von Menschen bestens vertraut sind, weil wir ihnen im Leben auf eine irgendeine Art bereits begegnet sind. Nur erscheint das Typische an einem Menschen nirgendwo im Sichtbaren, sondern diese Muster begleiten uns in unserer Wahrnehmung solcher Menschen, ohne dass wir uns bewusst sind, wie wir zu diesem Wissen gelangt sind. Das heißt: Wir haben es zwar, aber es ist uns dennoch nicht bekannt; schon gar nicht in der Form von fertigen Sätzen und allgemeinen Regeln, mit denen es verfügbar und definiert ist. Weil dieses Wissen in unserer Seele vielmehr oft so tief versteckt ist, ist eine Methode nötig, mit der es gelingt, dieses Wissen aufzudecken, zu vertiefen und zur Klarheit zu bringen. Mit anderen Worten: Das für uns Bekannte soll auf diesem epagogischen Weg erkannt werden.
Dieses ursprüngliche Verständnis des Wortes »Typos« ist auch für Aristoteles maßgebend, wie Höffe herausstellt:
Ursprünglich bezeichnet »Typos« eine plastisch geformte sinnliche Gestalt: die Form als Instrument oder Produkt eines Prägens. Später entwickelt sich neben der konkreten eine fortlaufend abstraktere Bedeutung, bis das Wort jenen Umriss bezeichnet, der nur das Wesentliche seines Vorbildes wiedergibt: die Skizze […]. Bei Aristoteles geht die konkrete Bedeutung des Typos als einer plastischen Form nicht verloren.53
Der »Typos« steht also bei Aristoteles für die vielen umrisshaften und skizzenhaften Abziehbilder, die das Wesentliche eines Vorbildes wiedergeben und die jeder Mensch als einen Wissensfundus in seiner Seele besitzt. Das Wort »Typos« (τύποζ) wird sogar als »der methodische Schlüsselbegriff seiner Ethik«54 angesehen. Als Ethiklehrer kann man sich diesen methodischen Zugriff auf das Vorwissen zu Nutze machen – und zwar dadurch, dass man die Schüler dazu bringt, die konkrete Handlungsweise eines Menschen in moralisch relevanten Situationen zu erklären und nach eigenen Maßstäben zu beurteilen. Das gelingt dem Lehrer dann am besten, wenn er durch eine skizzenhafte Darstellung an der Tafel oder durch die Schilderung einer typischen Szene dafür sorgt, dass die entsprechenden Muster und Gestalten sich daraufhin als Imaginationen in ihrer Phantasie manifestieren.
Wenn der Lehrer beispielsweise die für Falstaff typische Lebensweise skizziert und dazu eine für ihn typische Geste als Karikatur an die Tafel zeichnet, darf er damit rechnen, dass die Schüler eine Phantombühne vor Augen haben, auf der ein Held von dieser Art auftritt und in einer Reihe von typischen Szenen vorführt, was in ihm steckt. Auf diese Weise greifen sie auf ihr primäres Wissen zurück, dass sie eigenständig bei der Beobachtung des Schauspiels menschlichen Handelns gewonnen und das sie demnach nicht von anderen Menschen übernommen haben.55 Bei der Nachschau auf das bereits Bekannte, die in der Regel im Rahmen einer gemeinsamen Betrachtung und Besprechung stattfindet, spüren die Schüler ihr Vorwissen auf. Und damit haben sie die Möglichkeit, auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck zu bringen, was sie dabei vor Augen haben und was sie zur Sprache bringen oder mit anderen Mitteln verständlich machen wollen.
Der methodische Zugriff auf das Vorwissen erwächst aus einem bestimmten Verständnis des Wissenserwerbs und somit aus einer bestimmten Art des Lernens, die Aristoteles als epagoge bezeichnet.56 Wer als Ethiklehrer seinen Unterricht nach dieser Methode gestaltet, betreibt das Fach Ethik »grundrißartig«57 – und zwar in dem Sinne, dass er gemeinsam mit seinen Schülern das Schauspiel menschlichen Handelns beobachtet, die Urteile darüber reflektiert und analysiert und auf diesem Weg zu grundrissartigen Einsichten in das menschliche Tun und Treiben kommt, die ihnen im Leben – sprich: außerhalb der Schule – als praktische Profile eine Hilfe sein können. Mehr kann der Ethikunterricht auch gar nicht erreichen.
Unter diesem Gesichtspunkt ist auch der methodische Einleitungsteil im ersten Buch der Nikomachischen Ethik (7. Abschnitt) sehr aufschlussreich – insbesondere dann, wenn man sich klarmacht, dass die Blickschulung im Ethikunterricht nur so aussehen kann, dass wir als Lehrer den Schülern Einsichten in die Grundrisse und Typen des menschlichen Handelns ermöglichen. Wir entwickeln mit ihnen also gemeinsam grundrissartige Orientierungsschemata58, mit deren Hilfe sie das moralische Handeln der Menschen genauer beurteilen und auch kritisch reflektieren können. Den Rest, der mit Blick auf das konkrete Handeln fehlt, können sie nämlich nur selbst hinzufügen. Das kann ihnen also auch niemand abnehmen. Allerdings darf man nach Ansicht von Aristoteles davon ausgehen, dass sie dazu in der Lage sind, wenn sie methodisch auf diese Weise geschult sind:
Auf diese Weise soll das Gut skizziert sein. Denn man muss wohl zuerst skizzieren und dann später die Details ausfüllen. Man sollte annehmen, dass jeder in der Lage ist, das fortzuführen und im Detail auseinander zu legen, was einmal gut skizziert ist, und dass die Zeit hierbei ein guter Entdecker oder Mitarbeiter ist […]; denn jeder kann hinzufügen, was fehlt.59