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1.3.6Ästhetische Kritik unter einer ethikdidaktischen Perspektive: Die wesentliche Rolle des Kunstwerks und der unterrichtlichen Darstellungsformen für eine kritische Betrachtung und Reflexion der ethischen Urteile der Schüler
ОглавлениеWer klug ist, beschäftigt sich nach der Ansicht des Aristoteles mit guten, werthaften und schönen Dingen.130 Er strebt darüber hinaus auch danach, schöne und gute Handlungen auszuführen, weil sie ihm Freude bereiten.131 Demnach hat für Aristoteles das schöne Handeln einen »sittlichen Sinn.«132 Im Theater ist das auch daran zu beobachten, dass die Zuschauer sich an schönen und guten Handlungen erfreuen und diese auch so beurteilen.
Die ästhetische Darstellung des Schauspiels menschlichen Handelns besitzt folglich die Kraft, unseren ethischen Blick zu schulen. Diese Möglichkeit nutzt der Lehrstückunterricht, weil die Schüler hier aufgefordert sind, sich klarzumachen, warum sie diese oder jene Handlung und Lebensweise als schön, gut oder wertvoll beurteilen. Nach den Gründen ihrer ethischen Urteile können sie aber nur deshalb suchen, weil sie das Schauspiel menschlichen Handelns bei vielen Gelegenheiten beobachtet und dabei auffällige Regelmäßigkeiten bemerkt haben. Das heißt: Die Schüler besitzen bereits ein ethisches Urteilsvermögen, auf das sie zurückgreifen können, wenn der Lehrer ihnen exemplarische Situationen menschlichen Handelns vor Augen führt, die sie bewerten sollen.
Die ästhetischen Darstellungen im Lehrstückunterricht haben zunächst die Funktion, dass die Schüler ihr eigenes Wissen, das sie hinsichtlich dieser exemplarischen Situation besitzen, auch äußern können. Damit können sie indirekt auf die Muster und Gestalten aufmerksam werden, die ihnen dabei auf der Bühne ihrer Imagination erscheinen. Hier wird ihr ethischer Blick gebildet, und zwar schon dadurch, dass sie auf diese Weise zuallererst die Gebilde und Gestalten, die ihnen bei der Betrachtung der dargestellten Situation in den Sinn kommen, bemerken und von ihnen Notiz nehmen.
Die ethische Blickschulung beginnt mit einer Aufmerksamkeitsverlagerung auf die Gebilde und Imaginationen, die ihnen beim Blick auf die Figuren und Konstellationen der exemplarischen Situation vorschweben. Diese imaginären Gebilde und Gestalten lassen sich von den Schülern in der Imagination noch deutlicher bestimmen.133 Zudem lassen sich die Einbildungen ganz nach Belieben verändern, bearbeiten und neu figurieren. Der Lehrer kann allerdings durch die Abwandlungen der dargestellten Situation und dadurch, dass er von den Schülern eigene Darstellungsleistungen abverlangt, ihren Blick immer wieder auf neue Aspekte lenken – solange, bis das Gebilde ihnen derart deutlich und klar vor Augen steht, dass sie es auch sprachlich angemessen zur Darstellung bringen können. In der Imagination wird somit ihr ethischer Blick gebildet. Darauf verweist Herbart in seinem Aufsatz zum »ABC der Anschauung« mit der folgenden Pointe: »Es ist Aufmerksamkeit auf die Gestalt, wozu vorzugsweise das Sehen gebildet werden muß.«134
Die imaginationsgeleitete Darstellungsarbeit, die den Schülern abverlangt wird, hat demnach die Funktion, den ethischen Blick zu schulen. Dabei sind sie nicht allein; machen sie sich nämlich gegenseitig auf das aufmerksam, was ihnen jeweils auffällt, kommt es zu einem Dialog, in dem sich die Unterschiedlichkeit ihrer Ansichten zeigt und in dem sie ihre Differenzen wiederum mit eigenen Mitteln darstellen können. So wird für sie greifbar, was sie hinsichtlich dieser dargestellten Handlung, Lebensweise und Situation wirklich denken. Sie versichern sich in der Imagination der Situation der Gestalt, die ihren Blick auf die Situation maßgeblich prägt.
Diese Blickschulung kann so lange dauern, bis alle Beteiligten gemeinsam das Muster der Situation klar vor Augen haben und durchschauen, warum sie selbst jeweils so und nicht anders darüber denken. Entscheidend ist dabei, dass die Verständniserweiterung nur vor dem Hintergrund der gemeinsamen Betrachtung der dargestellten Situation im Unterricht gelingen kann. Sie ist die Bühne, auf der die Schüler solange mit ihrem Blick aufmerksam herumwandern können, bis sie in der gemeinsamen Imagination den Typos der Situation – die maßgebende Form oder den Grundriss der Handlungssituation – erkannt und bestimmt haben. Erst dann besitzen die Schüler nach Herbart eine ›reife‹ Anschauung der Dinge:
Auch läßt wirklich der aufmerksame Blick nicht eher ab, als bis er sich der Imagination versichert hat. – Man sehe ein Tier, einen Menschen, – oder noch besser, eine Landkarte an, (bei welcher die Schwierigkeiten, wegen der unregelmäßigen Formen, fühlbarer werden). Man wende den Blick wieder ab, und versuche sich das Gesehene vorzustellen. Man schaue wieder hin: und man wird empfinden, wie das schon vorgezogene Bild der Imagination von der erneuten Anschauung corrigiert wird. Wiederholt man dies einigemal, so hört endlich die Anschauung auf, das Bild zu berichtigen; nun ist sie reif.135
Herbart teilt mit Aristoteles die Auffassung, dass das (ethische) Lernen hauptsächlich in der Imagination stattfindet. Bei allen epistemologischen Differenzen, die zwischen ihnen bestehen,136 sind beide Verfechter einer Schulung der Phantasie oder der Einbildungskraft. Und beide haben auch die große Bedeutung der ästhetischen Darstellungsformen für das imaginative Lernen erkannt. Denn sie sind sich darin einig, dass man die Schüler epagogisch leiten und ihnen folglich etwas vor Augen führen muss, wenn man sie dazu bringen will, die Gestalten und Muster der typischen Situationen menschlichen Handelns zu studieren und ihr Verständnis schrittweise in der reflexiven Auseinandersetzung mit den dargestellten Situationen zu präzisieren. Gelingt die gezielte Ausforschung ihrer Imaginationen, entdecken sie dabei – im besten Fall – die typischen Grundrisse und Grundmuster ethischen Handelns. Dann ist es nachher für die Schüler auch leicht, die typischen Konstellationen und Figurationen menschlichen Handelns in der aktuellen Wahrnehmung wiederzuerkennen, weil sie beim Aufstöbern und Untersuchen ihrer Phantasiegebilde gelernt haben, worauf sie achten müssen: »Der Sinn findet leicht, wenn der Geist zu suchen versteht; – man faßt Unterschiede scharf und von selbst, wo man zuvor wußte, was zu unterscheiden sei.«137
Dabei dürfen oder sollten die im Unterricht zur Anwendung kommenden ästhetischen Darstellungsformen und Kunstwerke durchaus einen negativen oder ambivalenten Charakter haben. Falstaff ist gerade deshalb als exemplarische Figur geeignet, weil er – wie im Film von Welles138 – aufgrund seines ambivalenten Charakters das Potential dazu hat, die moralischen Ansichten der Schüler zu verstören, und zwar bestenfalls so sehr, dass sie darüber zu einer kritischen Betrachtung ihrer eigenen Überzeugungen und ihrer eigenen Lebenswirklichkeit bewegt werden können. Betrachten sie zum Beispiel eine Filmszene, dann können sie das Handeln der Filmfiguren schließlich erst einmal völlig selbstvergessen deuten und bewerten, denn obwohl ihnen dabei ihre eigenen Maßstäbe klarwerden, müssen sie diese nicht direkt auf ihr eigenes Handeln und auf ihre eigene Lebensweise anwenden. Sie machen vielmehr in Ruhe und ohne irgendeinen Selbstrechtfertigungsdruck Entdeckungen, die ihren Blick auf die Welt und auf die moralischen und sozialen Verhältnisse verändern.139
Durch die Art und Weise, wie die moralischen Verhältnisse beispielsweise in Orson Welles’ Film »Falstaff – Glocken um Mitternacht« dargestellt werden, können die Schüler gleichwohl zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den geltenden Maßstäben bewegt werden – auch zu einer Kritik an den normativen Maßstäben der aristotelischen Ethik. Das bedeutet, die normativen Kriterien der Moraltheorien können mit Hilfe der ästhetischen Darstellung exemplarischer Situationen nicht nur verdeutlicht und geklärt, sondern durchaus auch kritisiert werden. Diese Form der kritischen Reflexion ist oft nachhaltiger als das Ergebnis einer diskursiven Auseinandersetzung, »weil die normative Dimension in den dargestellten Situationen selbst zum Vorschein kommt.«140 Welles hat die Handlungen der Protagonisten im Film ja nicht zufällig so dargestellt, sondern er hat die Filmszenen derart gestaltet, dass die Gründe und Motive der handelnden Figuren darin auch sichtbar werden.141
Welles nutzt die Möglichkeit der filmischen Darstellung des Schauspiels menschlichen Handelns zu einer ästhetischen Kritik an der moralischen Ideologie der Gesellschaft, in der er selbst lebt. Er baut darauf, dass sich dem Zuschauer in der Distanz und durch die kunstgerechte Inszenierung der dargestellten Ereignisse die moralische Relevanz des Gezeigten indirekt erschließt. Dabei können die Schüler selbstverständlich auch auf ihre Wirklichkeit aufmerksam werden. Aber es bleibt für sie der unbedingt nötige Spielraum des »eigenen Reagierenkönnens«142 offen, was im besten Fall dazu führt, dass die Einsicht in die Möglichkeit ganz unterschiedlicher Reaktionen nicht wieder ausgeblendet werden kann. Dieser Spielraum ermöglicht es ihnen darüber hinaus, verschiedene Lebensweisen zu schätzen und vielleicht auch Regeln anzuerkennen, die gewöhnlich nicht anerkannt werden.
Das Prinzip der moraldidaktischen Umsetzung und Konkretisierung der ästhetischen Kritik ist selbstverständlich auf alle Kunst- und Darstellungsformen anwendbar, sofern denn jeweils das formspezifische Potential berücksichtigt wird. Ein Film funktioniert anders und kann etwas anderes als etwa die Literatur oder die Malerei. Auch wenn Aristoteles mit der moraldidaktischen Absicht der ästhetischen Darstellung menschlichen Handelns sicher ein Problem gehabt hätte, ist das darin verborgene Potential von einigen Nachfolgern seiner Tragödientheorie deutlich gesehen und zu diesem Zweck auch in Anspruch genommen worden.143 Bei Herbart wird die ästhetische Darstellung in moralischer Hinsicht vollends didaktisiert; sie ist das eigentliche Instrument der Gewissensbildung. Deshalb sieht er es sogar als eine Pflicht des Erziehers an, dass er dem Kind die Welt und das menschliche Handeln mit ästhetischen Mitteln zur Darstellung bringe – durchaus mit all ihren Eigenheiten, also auch die menschlichen Schwächen und Schlechtigkeiten:
Aber das Gemälde, was er (der Erzieher, hinzugefügt M. Z.) aufstellen soll, hat keinen Rahmen; es ist offen und weit, wie die Welt. Daher fallen hier alle Eigenheiten, wodurch sich die Gattungen der Poesie unterscheiden; und nackt und bloß steht jedes Schwache und jedes Schlechte, was sich sonst mit der Absicht des Kunstwerks entschuldigt. Das Gewissen geht mit in die Oper! wie sehr immer der Dichter protestiere. Ihn bannt der Erzieher aus seiner Sphäre, gestützt auf Plato’s Ansehen, – wo nicht die Wahrheit, die Deutlichkeit des Schlechten zur Läuterung des Besseren, zur Erhöhung des Guten dienen kann und dienen will.144
Herbart vertraut noch ganz auf die Wahrheit, die sich in den ästhetischen Darstellungsformen und in der Kunst zeigt und die uns zu besseren Menschen machen soll. Vielleicht ist dieser moraldidaktische Anspruch an die Kunst überzogen und nicht mehr zeitgemäß. Vielleicht liegt das Potential einer ästhetischen Darstellung des Schauspiels menschlichen Handelns heute gerade darin, dass die Schüler die Ambivalenz des menschlichen Lebens und der menschlichen Entscheidungen auszuhalten lernen. Dann wäre bereits das Aushalten-Können von Differenz ein Zeichen für moralische Reife, verkörpert in einer Persönlichkeit, die aus Erfahrung weiß, dass es viele berechtigte Standpunkte gibt, und die gelernt hat, die moralische Qualität dieser Standpunkte anzuerkennen. Eine solche persönlichkeitsbildende Lernerfahrung ist möglich, wenn der Schüler die eigene Souveränität in moralischen Fragen nicht einsam, sondern in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit exemplarischen Situationen menschlichen Handelns entwickelt hat. Weil die Lehrstückdidaktik voraussetzt, dass das ethische Lernen nichts anderes sein kann als eine gemeinsame Schulung der Phantasie und Einbildungskraft, darf sie damit rechnen, dass die Konfrontation mit der Darstellung dieser Handlungen in einer ästhetischen Form die Entwicklung zur moralischen Reife nicht unerheblich fördern kann.145 In diese Tradition ordnet sich Hannah Arendt ein, wenn sie diesen Gedanken so präzisiert:
Vielmehr gilt es, mit Hilfe der Einbildungskraft, aber ohne die eigene Identität aufzugeben, einen Standort in der Welt einzunehmen, der nicht der meinige ist, und mir nun von diesem Standort aus eine eigene Meinung zu bilden. Je mehr solche Standorte ich in meinen Überlegungen in Rechnung stellen kann und je besser ich mir vorstellen kann, was ich denken und fühlen würde, wenn ich an der Stelle derer wäre, die dort stehen, desto besser ausgebildet ist dieses Vermögen der Einsicht – das die Griechen φρόνησις (phronesis), die Lateiner »prudentia« und das Deutsch des 18. Jahrhunderts den Gemeinsinn nannten – und desto qualifizierter wird schließlich das Ergebnis meiner Überlegungen, meine Meinung sein.146
Der Lehrstückunterricht nach dem Prinzip der aristotelischen Epagoge will einen Beitrag zur Entwicklung der prudentia leisten. Diesen Anspruch kann er geltend machen, weil er die exemplarische Betrachtung und die gemeinsame Interpretation des Schauspiels menschlichen Handelns in den Mittelpunkt stellt und weil der epagogische Unterricht nach diesem Konzept als ein Drama gestaltet wird, in dem die Schüler auftreten und das darstellen können, was sie dabei entdecken.
3Theodor Schulze definiert ein Lehrstück wie folgt: »Ein Lehrstück ist eine dramaturgisch gestaltete Vorlage für eine begrenzte, in sich zusammenhängende und selbständige Unterrichtseinheit mit einer besonderen, konzept- und bereichserschließenden Thematik. Die Unterrichtseinheit, auf die sich die Lehrstückvorlage bezieht, ist zeitlich begrenzt. Sie hat in der Regel einen Umfang von 10 bis 20 Unterrichtsstunden.« (Theodor Schulze: Lehrstück-Dramaturgie. In: Hans Christoph Berg/Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik. Neuwied, Kriftel und Berlin 1995, S. 361–420, hier S. 361.) Das Konzept des Lehrstücks wird im Folgenden noch genauer bestimmt werden (vgl. unten, 1.2 und 1.3).
4Siehe Anhang 4.1. Download: https://meiner.de/ethik-in-szene-setzen_materialien.
5Siehe Anhang 4.2. Download: https://meiner.de/ethik-in-szene-setzen_materialien.
6Siehe »Tabellarischer Verlaufsplan des Lehrstücks. Übersicht über die Unterrichtseinheiten und die darin angestrebten Klarheiten«. Download: https://meiner.de/ethik-in-szene-setzen_materialien.
7Der Terminus »Lehrer« bezieht sich hier und im Folgenden auf alle Geschlechter. Er wird aufgrund der besseren Lesbarkeit gewählt und beinhaltet selbstverständlich keine Wertung. Das Gleiche gilt auch für die Verwendung der Wörter »Schüler«, »Leser«, »Student« und »Fachdidaktiker« usw.
8Mario Ziegler: Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik. Würzburg 2014, S. 144 (Fußnote 43). Hervorhebungen von M. Z.
9Jürgen Kaube: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? Berlin 2019, S. 90.
10Ebd., S. 92.
11Ebd., S. 93.
12Heinz Klippert: Methoden-Training. Übungsbausteine für den Unterricht. Weinheim und Basel 2005 [15. Auflage].
13Vgl. Jürgen Kaube: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? S. 93.
14Vgl. beispielsweise Thüringer Lehrplan für den Erwerb der allgemeinen Hochschulreife: Ethik (2012). Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, S. 28 ff. und S. 32 ff., unter: www.schulportal-thueringen.de/media/detail?tspi=2838 (Stand: 03.09.2020). Der Thüringer Lehrplan ist, wie viele andere Lehrpläne auch, kompetenzorientiert, die Lehrstückdidaktik wie gesagt inhaltszentriert. Die von mir gewählte thematische Zuordnung folgt also nicht – wie viele Lehrpläne – der Logik der Kompetenzentwicklung, sondern darf eher als Versuch verstanden werden, dem Lehrplan die nötige inhaltliche Tiefe zu verleihen. Dabei lassen sich die Themen des Lehrstücks besonders gut dem Bereich der Anthropologie zuordnen: »An einem beispielhaften Schwerpunkt lernt der Schüler, wie sich der Mensch in verschiedenen Erfahrungshorizonten und Lebenswelten verstanden hat und versteht. […] In der Auseinandersetzung mit der Wesensbestimmung des Menschen in ihrer historischen und kulturellen Bedingtheit gewinnt der Schüler Hilfe für seine eigene Orientierung. Dabei befragt er auf der Grundlage ausgewählter philosophischer Positionen Argumente auf ihre Gültigkeit, prüft offen gebliebene Fragen und bezieht aktuelle Diskussionen ein.« (Ebd., S. 32).
15Vgl. beispielsweise ebd., S. 21, unter: s. Anm. 12. Zum Beispiel im Themenfeld: »Der Schüler in sozialen Beziehungen – Ich und Wir. In der Auseinandersetzung mit verschiedenen Menschenbildern und ethischen Grundpositionen reflektiert der Schüler seine eigene Position und entwickelt Vorstellungen von einem gelungenen persönlichen und gesellschaftlichen Leben.« (Ebd.)
16Wolfram Hogrebe: Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen. Berlin 2009, S. 11.
17Etwas holzschnittartig darf man wohl sagen, dass die meisten der ethikdidaktischen Konzepte eine Wissensform implizieren, die sich hauptsächlich an der Logik und der Mathematik orientiert. Daher werden auch vor allem das logische Argumentieren und die Fähigkeit, begriffliche Unterscheidungen treffen zu können, als rationalitätssichernde Kompetenzen angesehen. Vgl. unten, 2.7.2 und 3.
18Wolfram Hogrebe: Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, S. 11.
19Ebd.
20Vgl. Hans Christoph Berg/Ueli Aeschlimann/Astrid Eichenberger: Lehrstückunterricht. Exemplarisch – Genetisch – Dramaturgisch. In: Jürgen Wiechmann (Hrsg.): Zwölf Unterrichtsmethoden. Vielfalt für die Praxis. Weinheim und Basel 2002, S. 111.
21Ebd., S. 111 f.
22Gottfried Hausmann: Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts. Heidelberg 1959.
23Der Unterschied zwischen »dramaturgisch« und »dramatisch« ist begrifflich so zu verstehen, dass ersteres die Inszenierungspraxis des Lehrers meint, letzteres dagegen das Erleben der Schüler.
24Vgl. Kirsten Meyer: Kompetenzorientierung. In: Julian Nida-Rümelin, Irina Spiegel, Markus Tiedemann (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Band I: Didaktik und Methodik. Paderborn 2017 [2. Auflage], S. 104–113, hier S. 104.
25Der damit verbundene »Inhaltsverlust« ist ein fächerübergreifendes Problem, das auch einen bildungspolitischen Hintergrund hat, den Gruschka sehr klar herausstellt: »[D]ie altehrwürdige Debatte über die Ziele und Inhalte schulischer Erziehung und Bildung gilt in den Augen der Reformer als überwunden mit dem nunmehr weltweit geltenden Konzept einer auf »Literacy« ausgerichteten Kompetenzentwicklung. Das Konzept teilt mit den »Wissensdomänen« im muttersprachlichen, fremdsprachlichen, mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich mit, was man mindestens können muss, um in die fortgeschrittene Wirtschaftsgesellschaft integriert werden zu können.« (Andreas Gruschka: Verstehen lehren. Ein Plädoyer für guten Unterricht. Stuttgart 2011, S. 10.)
26Jürgen Kaube: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? S. 99.
27Ebd., S. 103.
28Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969. Herausgegeben von Gerd Kadelbach. Frankfurt am Main 1971, S. 116.
29Ekkehard Martens: Einführung in die Didaktik der Philosophie. Darmstadt 1983, S. 8.
30Das Vorgehen in diesem Buch hat daher auch eine Ähnlichkeit mit dem Konzept der »situativen Didaktik«, und zwar deshalb, weil hier von der ›konkreten Lehrpraxis‹ ausgegangen wird. Analog zur »situativen Didaktik« werden im Lehrstückunterricht Szenen und Situationen »in exemplarischer Bedeutung [verwendet]: Implizit wenden Schülerinnen und Schüler Denkschemata an, indem sie sich eine konkrete Situation vorstellen. Solche Denkschemata können in der reflexiven Betrachtung von Situationen entdeckt werden. Situationen dienen also der Aufklärung über zugrunde liegende Denkmodelle.« (Michael Fröhlich/Klaus Langebeck/Eberhard Ritz: Philosophieunterricht. Eine situative Didaktik. Göttingen 2014, S. 23.) Im Gegensatz zur »situativen Didaktik« werden die beispielhaften Situationen hier allein dafür verwendet, dass die Schüler ein bestimmtes philosophisches Denkmodell, nämlich das aristotelische, verstehen und zugleich kritisch beurteilen können. (Vgl. ebd., S. 23.)
31Der Lehrstückunterricht ist deshalb auch ein vorgedachter Unterricht: »Der nachdenkliche Unterricht ist ein vorgedachter, einer, in den zuvor Gedanken investiert worden sind. Nicht nur in die Unterrichtsfragen selbst und die Art zu begründen, warum es sinnvoll ist, sich mit einem bestimmten Stoff zu beschäftigen, sondern auch in der Frage, was typische Antworten, Schwierigkeiten, Beiträge der Schüler sein könnten.« (Jürgen Kaube: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?, S. 106.)
32Peter Bonati: Lehrkunstdidaktik und Lehrstücke – ihr Beitrag zu Didaktik und Unterrichtsentwicklung. In: Beiträge zur Lehrerbildung 21 (2003), S. 93–107, hier S. 100. Vgl. https://www.pedocs.de/volltexte/2017/13516/pdf/BZL_2003_1_93_107.pdf (Stand: 01.09.2020). Für den Hinweis auf den Artikel möchte ich mich bei Anne Gnielka bedanken, die in ihrer Examensarbeit auf die Kritik Bonatis an der Lehrstückdidaktik noch ausführlicher eingeht. Anne Gnielka: »Das Drama des Verliebens – Ein Unterrichtsbeispiel für Klasse 10 (S. 3 ff.).« Vgl. http://jenaerschule.de/wp-content/uploads/2018/06/Anne-Gnielka_Das-Drama-des-Verliebens.pdf (Stand: 01.09.2020). Die oben genannten »Grundsätze« der Lehrstückdidaktik werden in den einzelnen didaktischen Kommentaren genauer erläutert. Vgl. unten, 2.1.1, 2.4.1, 2.5.1 und 2.7.2.
33Peter Bonati: Lehrkunstdidaktik und Lehrstücke – ihr Beitrag zu Didaktik und Unterrichtsentwicklung, S. 100.
34Vgl. Martin Wagenschein: Verstehen lehren. Genetisch – Sokratisch – Exemplarisch. Weinheim und Basel 1999. Vgl. Martin Wagenschein: Ursprüngliches Verstehen und exaktes Denken I. Stuttgart 1970.
35Vgl. Hans Christoph Berg: Genetische Methode. In: ders./Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik. Neuwied, Kriftel und Berlin 1995, S. 349–360. Vgl. Theodor Schulze: Lehrstück-Dramaturgie. In: Hans Christoph Berg/Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik, S. 361– 420.
36Die Inhalte, die im Lehrstückunterricht vermittelt werden, sollten einen exemplarischen Charakter haben. Das heißt, dass das einzelne Beispiel, welches vom Lehrer ausgewählt wird, nach Ansicht von Martin Wagenschein ein »Spiegel des Ganzen« sein soll. (Martin Wagenschein: Verstehen lehren, S. 32.) Das exemplarische Phänomen hat einerseits die Aufgabe, die Aufmerksamkeit der Schüler auf sich zu ziehen. Andererseits dient es als Vergegenwärtigung einer in gewissem Sinne bereits vertrauten Erscheinung, die eine Fülle von Entdeckungen ermöglicht.
37Vgl. Gottfried Hausmann: Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts, S. 120. Der Vergleich des Lernvorgangs mit den Wirkungen des dramatischen Kunstwerks ist in der Lehrstückdidaktik nicht unüblich. Hausmann geht sogar so weit, »die Bildung als Drama zu verstehen.« (Ebd.)
38Der Lehrstückunterricht erfordert einen genetischen Lehrgang. Dieser zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass die Kenntnisse nicht durch den Lehrer vermittelt werden, sondern dass der Schüler durch die Auseinandersetzung mit einem besonderen Beispiel das Wesentliche der Sache selbst entdeckt. Daher muss im genetischen Lehrgang auch die »Sache reden« – und nicht (so viel) der Lehrer. (Vgl. Martin Wagenschein: Verstehen lehren, S. 81.)
39Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik. Zum Begriff der didaktischen Induktion. Darmstadt 1989, S. 29.
40Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens. München 2012, S. 133.
41Vgl. ebd.
42Vgl. ebd., S. 149. Meyer Drawe stellt mit Blick auf die heutigen Debatten des Lernens völlig zu Recht fest: »Diese Art passiver Intellektualität repräsentiert eine komplexe Struktur, die uns zu denken heute schwerfällt.« (Ebd.)
43Humberto R. Maturana/Francisco J. Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Bern und München 1987.
44Edmund Kösel: Die Modellierung von Lernwelten. Ein Handbuch zur Subjektiven Didaktik. Elztal-Dallau 1995 [2. Auflage].
45Vgl. Mario Ziegler: Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik, S. 71 ff. und S. 148 ff. In meinem Buch geht es vor allem um die didaktische Funktion der indirekt-dialogischen Nachschau, und zwar im Besonderen mit Blick auf die Aufdeckung des moralischen Wissens des Schülers. Dabei erläutere ich auch das Prinzip des Indirekten: Indirekt ist dieser methodische Zugriff insofern, als die Schüler nicht gezwungen sind, über sich selbst zu sprechen, sondern sich als moralisch Urteilende auf eine dargestellte Situation beziehen. Demnach setzen sie sich auch nicht der Gefahr der Bloßstellung aus. Indirekt ist dieser methodische Zugriff aber auch insofern, als er voraussetzt, dass die komplexe Vielfalt der Kriterien, die jeder Schüler hat, eben nicht als eine Reihe fertiger Grundsätze bereitsteht, die nur zur Sprache gebracht werden müssen. Vielmehr vollzieht sich die Reflexion der eigenen Überzeugungen, sprich: das moralische Lernen, nicht in der direkten Konfrontation, sondern durch die Vergegenwärtigung einer dargestellten Situation – also: in einer Nachschau – und die Deutungsanstrengungen des Betrachters. Erst auf diese indirekte Weise nehmen die eigenen Wertmaßstäbe des Betrachters Gestalt an und werden so auch erst begreifbar.
Vgl. hierzu auch Johannes Hachmöller: Platons Theaitetos. Ein Gespräch an Heraklits Herdfeuer, Würzburg 2015, § 121, S. 222 ff. Johannes Hachmöller setzt in seinem Buch zu Platons Theaitetos viel grundsätzlicher an; ihn interessieren vor allem die erkenntnistheoretischen und ontologischen Voraussetzungen dieser Art des Wissenserwerbs sowie die Rolle der unterschiedlichen Darstellungsformen beim Hervorholen der Kenntnisse, die jeder Mensch bereits besitzt.
46Aristoteles verwendet den Ausdruck der Epagoge im Kontext seiner Schriften an ganz unterschiedlichen Stellen: Vgl. Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt und erläutert von Christof Rapp. Erster und zweiter Halbband. Berlin 2002, Rhet. I, 2, 1357a 15 und II, 20, 1393a 26. S. 25 und S. 106. Aristoteles: Analytica Posteriora. Übersetzt und erläutert von Wolfgang Detel. Erster Halbband. Berlin 1993, An. Post. I, 1, 71a 1ff. S. 17. Aristoteles: Metaphysik. Nach der Übersetzung von Hermann Bonitz, bearbeitet von Horst Seidl. In: Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 5. Hamburg 1995, Met. II, 3, 995a 6ff. S. 39f. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf. Reinbek bei Hamburg 2015, NE, I, 2, 1095a 32ff. S. 47. und 1139b 25ff. S. 197. Er unterscheidet zwei Wege des Lernens: den epagogischen und den deduktiven. Das epagogische Lernen steht genetisch betrachtet am Anfang. Es hat also auch Vorrang vor dem deduktiven Weg, weil das philosophische Wissen so ursprünglich entstanden ist. Außerdem muss das beweisende Verfahren von Ausgangspunkten ausgehen, die selbst nicht durch dieses Verfahren zu gewinnen sind, sondern allein durch Induktion (epagoge). (Vgl. NE, 1139b 27. S. 197.) Es bleibt noch zu erwähnen, dass der Ausdruck der Epagoge an keiner Stelle begrifflich festgelegt ist. Er steht vielmehr in einem weiten Sinne für den induktiven Lernweg, also für die Hinführung zu einem Allgemeineren, für das Lernen anhand von Beispielen und überhaupt für die didaktische Kunst, eine Sache besser zu verstehen. (Vgl. dazu auch Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 33.)
47Aristoteles: NE, I, 2, 1095b 1. S. 47. In den Zweiten Analytiken formuliert Aristoteles den lerntheoretischen und methodischen Grundsatz so: »Jede Unterweisung und jedes verständige Erwerben von Wissen entsteht aus bereits vorhandener Erkenntnis.« Aristoteles: Anal. post. I, 1, 71a 1. S. 17. Buck zieht daraus den richtigen Schluss, dass der epagogische Weg für Aristoteles den »eigentlichen Weg des Lernens« darstelle und dass der deduktive und syllogistische Weg diesem nachgeordnet sei. (Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 34.)
48Vgl. Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles. Berlin 1996, S. 104.
49Vgl. ebd. Für Aristoteles steht fest, dass sich die Methode nach dem Gegenstand zu richten hat, der damit untersucht werden soll. Es gibt also nicht ›eine‹ Methode, die gleichermaßen auf alle Gegenstände angewendet werden kann.
50Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, S. 107.
51Vgl. William Shakespeare: Die lustigen Weiber von Windsor. In: Anselm Schlösser (Hrsg.), Sämtliche Werke in vier Bänden, Bd. 1. Komödien. Berlin und Weimar 1989, S. 463–552. William Shakespeare: König Heinrich IV. Erster Teil und Zweiter Teil und König Heinrich V. In: Anselm Schlösser (Hrsg.), Sämtliche Werke in vier Bänden, Bd. 3. Historien. Berlin und Weimar 1989, S. 179–491. Falstaff spielt auf ganz unterschiedliche Weise und an ganz verschiedenen Stellen im Lehrstück eine zentrale Rolle: Vgl. unten, 2.7, 2.7.1. Außerdem tritt er als Kontrastfigur zu dem aristotelischen Helden des phronimos dann auf, wenn die Schüler die Normsetzung durch den phronimos kritisch reflektieren sollen. Vgl. unten, Epilog 2.9.
52Aristoteles: NE, II, 6, 1107a 2. S. 85. VI, 5, 1140a 25. S. 199. VII, 3, 1145b 17. S. 219. VII, 13, 1153a 27. S. 245. Der Typus des phronimos kommt im Lehrstück ebenfalls an unterschiedlichen Stellen und Zusammenhängen vor. Vgl. unten, 2.8 und 2.8.1.
53Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, S. 112.
54Ebd., S. 111 und 157.
55Auf den Unterschied zwischen einer epistemisch primären und sekundären Wissensform bin ich im Rahmen meiner Dissertation näher eingegangen. (Vgl. Mario Ziegler: Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik, S. 56 ff.)
56»Aristoteles nennt den aufsteigenden Weg »Hinführung«, ἐπαγωγή. Der Ausdruck, der von Aristoteles nicht in terminologisch fixierter Weise verwendet wird, meint nicht nur das Verfahren der Prinzipienforschung, sondern überhaupt jede Gewinnung eines Allgemeineren; und er meint auch nicht nur den einsamen Erkenntniserwerb, sondern ebenso die Verständigung, die einen anderen zu einem besseren Wissen hinführt […], überhaupt die rhetorische und didaktische Kunst der Überzeugung und Verdeutlichung mit Hilfe sinnfällig bekannter Beispiele.« (Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 33.)
57Höffe spricht in diesem Zusammenhang von der Ethik als einer »Grundriß-Wissenschaft«: »die Prinzipienforschung des Ethikers [ist] grundrißartig. Der Begriff einer Grundriß-Wissenschaft mag neu sein; befremden darf er nicht. Denn jede wissenschaftliche Erkenntnis setzt nach Aristoteles eine Bildung voraus, die befähigt, Genauigkeit nur so weit zu suchen, wie es die Natur des Gegenstandes gestattet.« Dieses Bildungsziel ist selbstverständlich auch für den Ethikunterricht grundlegend. Das bedeutet aber auch, dass die Schulung der Urteilsfähigkeit im Ethikunterricht nur auf einem epagogischen Weg ablaufen kann. Denn nur so können die Schüler Einsichten in die typischen Konstellationen menschlichen Handelns gewinnen, die sie befähigen, auch das konkrete Handeln zu beurteilen: »Aristoteles erklärt die Bildung als die Fähigkeit, auch neue Sachen zu beurteilen […]. Bildung ist kein Vorrat konkreter Kenntnisse, sondern der Besitz allgemeiner Gesichtspunkte, mit dem man auch zutreffend urteilt, wenn der konkrete Fall bislang unbekannt war.« (Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, S. 115.)
58Vgl. Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, S. 178 ff. Nach Höffe sucht die praktische Philosophie nach »Orientierungsschemata für das sittliche Handeln.« (Ebd., S. 178.)
59Aristoteles: NE, I, 7, 1098a 20–25. S. 57.
60Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 33.
61Ebd., S. 38. Vgl. auch Aristoteles: Rhet. II, 20, 1393a 26. S. 106.
62In der Regel hat für Kant das »Beispiel-geben« nur die Funktion, einen allgemeinen Begriff darzustellen oder zur Anschauung zu bringen. So schreibt er etwa in der Metaphysik der Sitten: »[E]in Beispiel ist nur das Besondere (concretum) als unter dem Allgemeinen nach Begriffen (abstractum) enthalten vorgestellt, und bloß theoretische Darstellung eines Begriffs.« (Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil. Neu herausgegeben und eingeleitet von Bernd Ludwig. Hamburg 2017 [3. Auflage], S. 130, § 52.) Allein bei der Bestimmung der ästhetischen Urteilskraft überwindet er diese einseitige Verwendungsweise. Hier macht er nämlich deutlich, dass sich durch das Beispiel auch etwas Allgemeines vermitteln lässt, das nicht im Begriff bereits enthalten ist bzw. das sich auch nicht allein durch den Begriff explizieren lässt. (vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Herausgegeben von Heiner F. Klemme. Hamburg 2009, S. 94.) Das Beispiel geht also mit Blick auf die ästhetischen Urteile nicht in der Funktion auf, einen Begriff bloß verständlich zu machen.
63Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 97.
64Jonathan Dancy: Moral Reasons. Cambridge/Mass. 1993, S. 112. Der Begriff der »praktischen Profile« stammt nicht von Aristoteles, sondern von Jonathan Dancy. Ich denke dennoch, dass er sich in diesem Zusammenhang sinnvoll verwenden lässt, weil er zum einen den Erfahrungsbezug beim Wissenserwerb betont. Zum anderen steht dieser Begriff im Kontext von Dancys wahrnehmungstheoretischen Überlegungen, die zeigen, wie der Prozess der Musterbildung abläuft und wie es möglich ist, dass wir im Laufe der Zeit ein »praktisches Profil« eines bestimmten Situationstyps entwickeln können. Vgl. Mario Ziegler: Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik, S. 64 ff.
65Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 98.
66Aristoteles: Met. I, 1a, 980a 21. S. 1. I, 3e, 984b 11. S. 11.
67Vgl. Johannes Hachmöller: Platons Theaitetos. Ein Gespräch an Heraklits Herdfeuer. § 84 und 85, S. 157 f. Hier wird die These des Theaitetos diskutiert, »ob das Wahrnehmen dasselbe wie das Erkennen ist«, wie es Theaitetos behauptet, »oder ob es etwas anderes ist.« (Ebd., S. 157.) Es stellt sich im Laufe des Gesprächs zwischen Sokrates und Theaitetos heraus, dass Theaitetos mit seiner These falsch liegt. (Vgl. ebd., § 105, S. 189 f.)
68Aristoteles geht also davon aus, dass wir als Wahrnehmende immer schon irgendetwas wissen; aber das, was wir da wissen, ist uns eben zumeist noch nicht klar: »Aber nichts, so glaube ich, hindert daran, wovon jemand Wissen erwirbt, auf eine Weise zu wissen, auf eine andere Weise jedoch nicht zu wissen. Absurd nämlich ist es nicht, wenn jemand in gewisser Weise weiß, wovon er Wissen erwirbt, sondern wenn auf diese bestimmte Weise, das heißt inwiefern er Wissen erwirbt und wie.« (Aristoteles: An. Post. II, 1, 71b 7–9. S. 18.)
69Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 42.
70Mario Ziegler: Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik, S. 59. Hier kritisiere ich eine solche Auffassung. Für Aristoteles und auch für Ross spielen die Erfahrungen ja vor allem deshalb eine so große Rolle, weil sie damit deutlich machen wollen, dass es sich bei der Einsicht in die allgemeinen Zusammenhänge gerade nicht um eine unmittelbare Einsicht handelt. Eine solche unmittelbare Erkenntnis der Prinzipien zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie als erfahrungsunabhängig angesehen werden muss. Das Konzept der intuitiven Induktion fußt aber auf der Erfahrung.
71Aristoteles: An. Post. II, 19, 100b 3–5. S. 84.
72Ebd., 19, 100a 5–8. S. 83.
73Vgl. Andrea M. Esser: Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, S. 88 ff.
74Man kann das aristotelische Konzept der intuitiven Induktion auch deshalb als dogmatisch ansehen, weil es mit einer Wesensbestimmung des Menschen verbunden ist, die schwierige metaphysische Voraussetzungen mit sich führt: »[D]ie aristotelische ›intuitive Induktion‹ [kann] ohne die entsprechende teleologische Ontologie nicht vollzogen werden, die dogmatische Setzung eines umfassenden menschlichen Telos.« (Andrea M. Esser: Eine Ethik für Endliche, S. 94.)
75Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, S. 115. Diese Auslegung wäre auch deshalb sinnvoll, weil auf diese Weise die Rede davon, dass »die Prinzipienforschung des Ethikers grundrissartig« sei, sehr viel verständlicher wird. (Ebd.)
76Ebd., S. 180.
77Ebd.
78Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 49.
79Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, S. 110.
80Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 48 f.
81Vgl. unten, 2.7.2.
82Vgl. Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 46 f.
83Vgl. Mario Ziegler: Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik, S. 73 f. Auf die didaktische Funktion des Indirekten im Rahmen der ethischen Urteilsbildung gehe ich an einer anderen Stelle des Buches genauer ein: Vgl. ebd., S. 132 ff. Käte Meyer-Drawe betont ebenfalls die zentrale Bedeutung des Indirekten mit Blick auf das erfahrungsgeleitete Lernen. Denn die große Schwierigkeit besteht hier ja gerade darin, die eigenen – vorsprachlichen – Erfahrungen in der Reflexion zur Sprache zu bringen: »Vorsprachliche Dimensionen kommen nur indirekt, lateral in den Blick. Der direkte Zugriff zerstört sie.« (Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, S. 206.)
84Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, S. 15.
85Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, S. 206.
86Ebd., S. 214. Meyer-Drawe geht es hier nicht allein um ethisches Lernen, sondern es handelt sich um eine »phänomenologische Theorie des Lernens«, in deren Zentrum die Erfahrung steht. (Ebd.)
87Vgl. Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, S. 180.
88Ob Aristoteles im Rahmen seiner Ethik einen Begriff von Willensfreiheit besitzt, ist sehr umstritten; denn »für die Tugend bzw. ›das Gute‹ kann sich der Handelnde gar nicht entscheiden – weder in einem prinzipiellen Akt noch nach Maßgabe von traditionellen Werten. Vielmehr ist er in seinem Entscheiden durch eine Art ›wesentlichen Strebens‹ (ὄρεξις) prinzipiell auf ›das Gute‹ gerichtet.« (Andrea M. Esser: Eine Ethik für Endliche, S. 120.) Aber der Handelnde ist gleichwohl insofern souverän, als er den »Freiraum« und auch den »Handlungsspielraum« besitzt, sich im Rahmen dieser von der Natur vorgegebenen Festlegung zu den gesellschaftlichen Maßstäben zu verhalten, und sie gegebenenfalls auch zu kritisieren. Dass Aristoteles diese Dimension der Freiheit in der Tat nur wenigen Menschen – wie dem phronimos – zuschreibt, ist wahrlich ein Problem. (Vgl. Andrea M. Esser: Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart, S. 126.) Aber dass der Mensch aufgrund seiner Naturanlage diesen Freiheitsspielraum grundsätzlich zur Verfügung hat, steht für Aristoteles außer Zweifel. Er benötigt keinen weltlosen Begriff von Autonomie, um vorsichtig über die Bereiche des Lebens sprechen zu können, »wo der Mensch […] von sich aus Ursprung von Handlungen sein kann.« (Arbogast Schmitt: Selbstständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer. Hermeneutische Untersuchungen zur Psychologie Homers. Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 1990, Nr. 5. Mainz und Stuttgart 1990, S. 68.)
89Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 45.
90Ross hat im Rahmen seiner intuitionistischen Ethik gezeigt, dass die Offenheit eines solchen Lernprozesses den Anspruch der auf diesem Wege aufdeckbaren Moralprinzipien auf Allgemeingültigkeit keineswegs ausschließt. Die Offenheit seiner Ethik wird beispielsweise daran deutlich, dass der von ihm aufgestellte Katalog von Moralprinzipien – oder prima-facie-Pflichten – keinesfalls endgültig abgeschlossen ist; auch nicht der Bildungsprozess, in dem sie deutlich werden. (Vgl. David Ross: The Right and the Good. Oxford 2002, S. 20.)
91Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 45.
92Wieland hat sehr klar deutlich gemacht, dass es für Aristoteles keinen grundsätzlichen Gegensatz zwischen der Erfahrung und dem Denken gibt: »Es bedeutet aber auch, daß der Gegensatz zwischen Erfahrung und Denken, den man von neuzeitlichen Voraussetzungen aus zu machen gewohnt ist, in der aristotelischen Philosophie gar nicht zu finden ist. Nur aus einer solchen Erfahrung der Dinge ist Denken möglich, und das Denken selbst ist bei Aristoteles nichts anderes als die vollendete Erfahrung der von ihm gedachten Gegenstände.« (Wolfgang Wieland: Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles. Göttingen 1962 [3. Auflage 1992], S. 38.)
93Vgl. Mario Ziegler: Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik, S. 148 ff.
94Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 47. Buck geht es in diesem Zusammenhang vor allem um die »Kraft« der negativen Erfahrung für das Lernen. Da es im epagogischen Unterricht immer wieder verstörende Momente gibt, die auch intendiert sind, in denen die Schüler ihre eigenen Irrtümer bemerken und aus ihnen lernen, darf man vorsichtig davon sprechen, dass auch hier in einer gewissen Weise die Negativität nicht prinzipiell aufgehoben oder gar aus dem Unterricht verbannt wird, sondern dass der »ganze Horizont der Erfahrung« der Schüler mit in den Blick kommt.
95Kant bezeichnet solche Gespräche, in der die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und Interessen der Teilnehmer im Mittelpunkt steht und die vermeintlich guten Absichten nur vorgeschoben werden, um selbst »gut« dazustehen, zutreffend als »Afterreden«. (Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil. Neu herausgegeben und eingeleitet von Bernd Ludwig [3. Auflage]. Hamburg 2017, S. 114, § 43.)
96Aristoteles: NE, I, 12, 1101b 12–22. S. 68.
97Vgl. ebd., 12, 1101b 25. S. 68.
98Das zeigt sich vor allem daran, dass die meisten Menschen nach gutem Ansehen bzw. nach Ehre streben und gerade darin das Ziel eines guten und gelingenden Lebens sehen. Vgl. Aristoteles: Rhet. I, 5, 1361a 25–27. S. 33. NE, I, 3, 1095b 23–30. S. 48 f.
99Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, S. 135.
100Vgl. Aristoteles: NE, VIII, 11, 1160a 1 ff. S. 268.
101Werner Jaeger: »Adel und Arete«, in: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. Erster Band. Berlin und Leipzig 1934, S. 32.
102Vgl. Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, S. 138. »Den relativ konstanten Rahmen setzt Aristoteles als Faktum an.«
103Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. Dritter Teil zu »Vom Leben des Geistes«. Aus dem Nachlass herausgegeben und mit einem Essay von Ronald Beiner. Aus dem Amerikanischen von Ursula Ludz. München 2017 [1985], S. 106.
104Vgl. unten, 2.4.
105Vgl. unten, 2.7 und 2.9.
106Johann Friedrich Herbart: »Über die ästhetische Darstellung der Welt, als Hauptgeschäft der Erziehung«, in: Pädagogische Schriften. Herausgegeben von Friedrich Bartholomäi, Erster Band, Zweite Auflage. Langensalza 1877, S. 196.
107Ebd., S. 199. Damit verbindet sich eine Kritik an der Ethik Kants. Herbart zweifelt als Pädagoge einfach daran, dass man das praktische Vernunftgesetz so lernen kann, wie Kant sich das vorstellt. Die Gewissensbildung ist für ihn vielmehr das Ergebnis einer ästhetischen Blickschulung: »Findend eine ursprünglich - praktische, also ästhetische, - Notwendigkeit: biegt der Sittliche sein Verlangen, um ihr zu gehorchen. Das Verlangen also war Glied eines ästhetischen Verhältnisses.« (Ebd., S. 195.) Deshalb soll der Erzieher ruhig den Mut und das Vertrauen haben, die weltlichen und menschlichen Zusammenhänge auf eine ästhetische Weise darzustellen: »Er könne, wenn er es recht anfange, jene Auffassung durch ästhetische Darstellung der Welt früh und stark genug determinieren, damit die freie Haltung des Gemüths nicht von der Weltklugheit, sondern von der reinen praktischen Überlegung das Gesetz empfange.« (Ebd., S. 199.)
108Vgl. unten, 2.4.
109Vgl. unten, 2.7.1.
110Teile dieses und des nächsten Abschnittes habe ich bereits in meinem Aufsatz »Die Kunst der Darstellung. Mimetische Lehrstückdidaktik nach Aristoteles« verwendet. In dem Band »Unterricht im Zeichen von Wahrnehmung und Darstellung. Philosophische Anstiftungen zu einer unzeitgemäßen Didaktik«, den ich gemeinsam mit Daniel Löffelmann im Jahr 2020 beim Verlag Karl Alber herausgegeben habe. Vgl. Daniel Löffelmann/Mario Ziegler: Unterricht im Zeichen von Wahrnehmung und Darstellung. Philosophische Anstiftungen zu einer unzeitgemäßen Didaktik. Freiburg/München 2020. S. 92–106.
111Aristoteles: Poetik. Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt. Berlin 2008, 1448b 20. S. 6. Im Folgenden greife ich auf die Übersetzung von Arbogast Schmitt zurück.
112Vgl. ebd., 1448b 6 ff. S. 6.
113Ebd., 1448b 15–17. S. 6.
114Wolfgang Welsch: Der Philosoph. Die Gedankenwelt des Aristoteles. München 2012, S. 363. Welsch stellt völlig zu Recht fest, dass für Aristoteles die genuin ästhetische Freude ebenfalls eine Erkenntnisfreude darstellt: »Für Aristoteles ist auch die Freude an ästhetischer Gelungenheit, obwohl sie keine Freude des Wiedererkennens ist, eine Erkenntnisfreude. Denn auch das ästhetische Gelungensein will ja erst einmal erforscht und erfasst, will erkannt sein.« (Ebd., S. 364.)
115Theodor Schulze: Lehrstück-Dramaturgie. In: Hans Christoph Berg/Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik, S. 375 und 376 f.
116In diesem Buch wird der Versuch gemacht, ausgehend von der aristotelischen Lehre einen Vorschlag für die methodische Gestaltung des Ethik- und Philosophieunterrichts zu entwickeln. Es soll gezeigt werden, wie die Fächer Ethik und Philosophie im Sinne einer aristotelisch geschulten Lehrstückdidaktik unterrichtet werden können. Daher kann man das Vorgehen zu Recht mit dem Etikett ›immanente Philosophiedidaktik‹ versehen, denn es handelt sich um ein fachdidaktisches Lehrkonzept, das die aristotelische Erkenntnislehre zur Grundlage hat und das davon ausgehend einen methodischen Weg aufzeigt, wie die Schüler zu philosophischen Einsichten geführt werden können. Vgl. Falk Bornmüller und Laura Martena: »Teachable Moments? Über das Lehren der Philosophie an der Universität.« In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (2020). Band 68. Heft 5. S. 793–801, hier S. 800. www.degruyter.com/document/doi/10.1515/dzph-2020–0054/html (Stand: 09.03.2021). Vgl. auch Philipp Richter (Hrsg.): Professionell Ethik und Philosophie unterrichten. Ein Arbeitsbuch. Stuttgart 2016, S. 10.
117Vgl. unten, 2.8.1.
118Wolfgang Welsch: Der Philosoph. Die Gedankenwelt des Aristoteles, S. 364.
119Aristoteles: Poetik, 1448a 1. S. 4.
120Vgl. Wolfgang Welsch: Der Philosoph. Die Gedankenwelt des Aristoteles, S. 365.
121Ebd.
122Aristoteles: Poetik, 1148a 16–18. S. 5. »Genau hier liegt der Unterschied zwischen Tragödie und Komödie: Die eine nämlich will Charaktere nachahmen, die dem heutigen Durchschnitt unterlegen, die andere aber solche, die ihm überlegen sind.« Wichtig ist noch zu erwähnen, dass die Komödie keinen bösen oder grundsätzlich schlechten Menschen darstellt, sondern nur lächerliche Charaktere, die auf eine bestimmte Weise ihr angestrebtes Handlungsziel verfehlen: »Die Komödie aber ist […] Nachahmung von zwar schlechteren Menschen – aber nicht in jedem Sinn von Schlechtigkeit, sondern ›nur‹ zum Unschönen gehört das Lächerliche. Denn das Lächerliche ist eine bestimmte Art der Verfehlung des ›Handlungszieles‹ und eine Abweichung vom Schönen, die keinen Schmerz verursacht und nicht zerstörerisch ist.« (1449a 32–36. S. 8.)
123Ebd., 1451a 36-b 1. S. 13.
124Vgl. unten, 2.7 und 2.9.
125Vgl. Aristoteles: Poetik, 1461b 11–13. S. 39. »Im Blick auf das, was für die Dichtung wesentlich ist, ist nämlich etwas Unmögliches, das überzeugt, dem Möglichen, das keinen Glauben findet, vorzuziehen. Denn es ist vielleicht unmöglich, dass es so schöne Menschen gibt, wie Zeuxis sie zu malen pflegte – aber es ist das bessere Verfahren: denn das Beispielhafte muss besser sein.«
126Das Stilmittel der Übertreibung ist für Aristoteles schon deshalb erwünscht, weil uns das Staunen offensichtlich Vergnügen bereitet. Beobachten kann man das schon beim alltäglichen Geschichtenerzählen: »Das aber, was Staunen erregt, ist angenehm. Das kann man daran sehen, dass alle beim Geschichtenerzählen übertreiben, weil sie Gefallen finden wollen.« (Aristoteles: Poetik, 1460a 18. S. 35.)
127Vgl. Fußnote 52.
128Zum Beispiel dadurch, dass die Schüler selbst eine Drehbuchszene schreiben sollen, in der der charakterliche Wandel Falstaffs zum Besseren so dargestellt werden muss, dass die Zuschauer im Theater dazu ermuntert werden, ihm ein Lob auszusprechen. Vgl. unten, 2.7.1.
129Schadewaldt stellt deutlich heraus, dass für Aristoteles die griechische Tragödie und auch die anderen Kunstformen keine didaktische oder pädagogische Funktion hatten. Das schließt aber für ihn nicht aus, dass die Kunst eine moralische Kraft besitzen kann; nur ist es eben nicht ihr eigentliches Ziel, die Menschen moralisch zu bessern. (Vgl. Wolfgang Schadewaldt: Die griechische Tragödie. Tübinger Vorlesungen, Band 4. Unter Mitwirkung von Maria Schadewaldt, herausgegeben von Ingeborg Schudoma. Frankfurt am Main 1991, S. 33 f.)
130Vgl. Aristoteles: NE, VI, 13, 1143b 21–23. S. 212.
131Vgl. Aristoteles: NE, IV, 2, 1120a 30f. S. 131.
132Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, S. 106.
133Genau darauf macht uns auch Goethe aufmerksam, wenn er in »Shakespeare und kein Ende« dessen Dichtkunst näher zu bestimmen versucht: »Shakespeare nun spricht durchaus an unsern innern Sinn; durch diesen belebt sich zugleich die Bilderwelt der Einbildungskraft, und so entspringt eine vollständige Wirkung, von der wir uns keine Rechenschaft zu geben wissen; denn hier liegt eben der Grund von jener Täuschung, als begebe sich alles vor unsern Augen. Betrachtet man aber die Shakespeareschen Stücke genau, so enthalten sie viel weniger sinnliche Tat als geistiges Wort. Er läßt geschehen, was sich leicht imaginieren läßt, ja was besser imaginiert als gesehen wird. Hamlets Geist, Macbeths Hexen, manche Grausamkeiten erhalten ihren Wert erst durch die Einbildungskraft, und die vielfältigen kleinen Zwischenszenen sind bloß auf sie berechnet.« (Johann Wolfgang von Goethe: Schriften zur Literatur: Shakespeare und kein Ende. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band XII. Schriften zur Kunst, Schriften zur Literatur, Maximen und Reflexionen. Hamburg 1967. S. 287–298, hier S. 288.)
134Johann Friedrich Herbart: »Pestalozzi’s Idee eines ABC der Anschauung«. In: Pädagogische Schriften. Herausgegeben von Friedrich Bartholomäi, Erster Band, Zweite Auflage. Langensalza 1877, S. 83.
135Ebd., S. 87.
136Der größte Unterschied besteht sicherlich darin, dass für Herbart die Begriffe eine andere Bedeutung haben. Für ihn als Kantianer ist die Rolle der Begriffe beim Lehren klar bestimmt. (Vgl. Johann Friedrich Herbart: »Pestalozzi’s Idee eines ABC der Anschauung«, S. 88. Vgl. auch Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 12 ff.)
137Johann Friedrich Herbart: »Pestalozzi’s Idee eines ABC der Anschauung«, S. 88.
138Orson Welles (Regie): Falstaff – Glocken um Mitternacht, Spanien 1965 (2013 Zweitausendeins). Vgl. unten, 2.9.
139Vgl. Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München 2001, S. 187 f.
140Mario Ziegler: Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik, S. 154.
141Vgl. ebd.
142Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens. München 2003, S. 302. Seel verdeutlicht diesen »Spielraum des Reagierenkönnens« für den Betrachter am Beispiel von Gewaltdarstellungen in der Kunst.
143Im Achtundsiebzigsten Stück seiner Hamburger Dramaturgie stellt Lessing Folgendes fest: »[S]o muß die Tragödie, wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von beiden Extremis des Mitleids zu reinigen vermögend sein; welches auch von der Furcht zu verstehen.« (Lessings Werke in fünf Bänden. Hamburgische Dramaturgie (Bd. 4). Karl Balser und Thomas Höhle (Hrsg.). Berlin 1988 [10. Auflage], S. 380.) Der moralische Zweck der Tragödie besteht für ihn also darin, ›unsere‹ Affekte so zu regulieren, dass wir weder zu viel noch zu wenig Mitleid oder Furcht empfinden.
144Johann Friedrich Herbart: »Ueber die ästhetische Darstellung der Welt, als das Hauptgeschäft der Erziehung«, S. 203.
145Goethe hat diesen Gedanken ganz wunderbar in seinen »Maximen und Reflexionen« zum Ausdruck gebracht: »Echt ästhetisch-didaktisch könnte man sein, wenn man mit seinen Schülern an allem Empfindungswerten vorüberginge oder es ihnen zubrächte im Moment, wo es kulminiert und sie höchst empfänglich sind. Da aber diese Forderung nicht zu erfüllen ist, so müßte der höchste Stolz des Kathederlehrers sein, die Begriffe so vieler Manifestationen in seinen Schülern dergestalt zum Leben zu bringen, daß sie für alles Gute, Schöne, Große, Wahre empfänglich würden, um es mit Freuden aufzufassen, wo es ihnen zur rechten Stunde begegnete. Ohne daß sie es merkten und wüßten, wäre somit die Grundidee, woraus alles hervorgeht, in ihnen lebendig geworden.« (Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen: Erkenntnis und Wissenschaft, 441. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band XII. Schriften zur Kunst, Schriften zur Literatur, Maximen und Reflexionen. Hamburg 1967. S. 418–467, hier S. 426.)
146Hannah Arendt: »Wahrheit und Politik.« In: Ursula Ludz (Hrsg.): Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München 1994, S. 327–370, hier S. 342. An anderer Stelle betont Arendt ebenfalls die Ausbildung der Einbildungskraft zur Schulung des Einsichtsvermögens; hier legt sie den Fokus allerdings noch mehr auf das Verstehen, das mit Hilfe der Einbildungskraft gefördert werden soll. (Vgl. Hannah Arendt: »Verstehen und Politik.« In: Ursula Ludz (Hrsg.): Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München 1994, S. 110–127, hier S. 126 f.)