Читать книгу Der Untergang von Neskaya - Marion Zimmer Bradley - Страница 10
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ОглавлениеCoryn hätte es vorgezogen, ohne Frühstück und großes Getue nach Tramontana aufzubrechen, doch da Dom Rumail am selben Tag abreiste, blieb das Personal die halbe Nacht wach und bereitete ein ungewöhnlich reichhaltiges Mahl vor, alles von Apfelkrapfen mit Zimt bis zu fetten Würstchen. Er hatte viel mehr gegessen, als er wollte, hauptsächlich deshalb, weil Rumail ihm vorgehalten hatte, dass Appetitlosigkeit eines der gefährlichsten Anzeichen für die Schwellenkrankheit sei. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn Tessa ihn mit ihren Kräutern heimgesucht hätte.
Dann, während sie noch bei Tisch saßen, hielt Beltran eine weitere Rede, um Rumail zu danken, und danach noch eine über Coryns besondere Gabe. Coryn hatte die Redewendungen alle schon gehört: »Familienehre« und »adeliges Verhalten«. Sein Körper wollte nicht still halten, so sehr er sich auch bemühte. Er wollte von hier verschwinden, hin zu den Abenteuern, die ihn sicher erwarteten.
Kristlin saß an ihrem üblichen Platz, hatte Ruella die Stirn geboten und sich einen alten Kittel mit entsprechendem Unterzeug angezogen. Ihre Augen waren gerötet, und sie schniefte. Rumail nahm ihre kleine Hand in seine und sagte: »Möge die Verbindung dieser Kinder unseren Ländern fortdauernde Freundschaft und Wohlstand bringen. Möge sie der Bote einer neuen Welt sein, einer, in der Brüder nicht mehr Krieg gegeneinander führen, sondern gemeinsam unter einem König leben und sich alle der gleichen gerechten Herrschaft beugen.«
»Friede und Glück unseren Kindern und deren Kindern ist unser innigster Wunsch«, erwiderte Beltran.
»Die Frage ist«, murmelte Petro, als sie die Festtafel verließen, »welchem König und wessen Auffassung von Gerechtigkeit?«
Coryn, dessen Magen vom üppigen Essen schon rebellierte, wandte sich seinem Bruder zu. Sie hatten sich ein wenig abgesetzt und sprachen mit gesenkter Stimme. Gewöhnlich achtete er wenig auf Petros Auslassungen, doch nun fragte er: »Meinst du, König Damain – oder Dom Rumail – sind vielleicht …« Er brachte es nicht über die Lippen, zu sagen: sind vielleicht Tyrannen? Er wusste wenig von König Damian Deslucido, doch Rumail erfüllte ihn mit einem Unbehagen, das er nicht in Worte kleiden konnte.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Petro. »Dom Rumail war uns immer ein guter Freund, und über diesen Damian habe ich noch nichts Nachteiliges gehört. Meine Vorbehalte gelten jedem König. Wenn einer über so viele herrscht, wem ist er dann verpflichtet? Wenn ein gewöhnlicher Mensch ungerecht behandelt wird – wenn ein Bauer hungert, weil königliche Soldaten ihm das Getreide rauben, oder einem Waldbewohner die Hand abgehackt wird, weil er sich nicht schnell genug vor dem König verbeugt –, was bleibt ihm dann anderes übrig, als zu den Waffen zu greifen? Und was könnte den König dann noch daran hindern, sich gegen sein eigenes Volk zu wenden? Aber das sind gefährliche Gedanken, kleiner Bruder. Behalt sie für dich. Versprich es mir.«
Coryn schluckte, nickte und dachte an sein eigenes undeutbares Misstrauen gegenüber Rumail.
Die Gruppe ging weiter in den Hof, wo Rumails Pferd und Packtier schon bereitstanden und sie erwarteten, sowie Coryns Pferd Tänzer und ein Chervine, beladen mit allem, was ein junger Mann sich nur wünschen konnte, der in einen Turm eintreten wollte, von einer wattierten Steppdecke bis zu einer wohltuenden Winterbeerenlotion, Dosen mit kandierten Feigen und Kandiszucker, sogar einem Satz Rohrflöten, um sich die langen Winterabende zu vertreiben.
Coryns Begleiter, ein Viehhändler namens Einäugiger Rafe, wartete neben seinem Reittier. Niemand wüsste, wie er sein Auge verloren hatte, obwohl das andere so blass aussah, als wäre durch zu langes Starren in die Sonne alle Farbe herausgebrannt worden. Coryn kannte den Mann nicht sehr gut, hatte kaum ein paar Sätze mit ihm gewechselt. Den Gerüchten nach, die in der Burg kursierten, war Rafe in seiner Jugend Söldner gewesen, und er machte durchaus den Eindruck, als könne er einhändig eine kleine Armee besiegen. Das in einer zerschlissenen Lederhülle an den Schenkel gebundene Langmesser hatte ihm gute Dienste geleistet.
Als die letzte Runde der Verabschiedungen und herzlichen Wünsche sich dem Ende zuneigte, beugte Rumail sich zu Coryn vor. »Wenn ich dich mit meinen freimütigen Worten erschreckt habe, so sollten diese nur verhindern, dass du deine schweren Symptome zu leicht nimmst.«
Rumails Nähe jagte Coryn einen Schauder über den Rücken. Erleichtert wandte er sich Margarida zu, die ihn ein letztes Mal umarmen wollte. Dann begab er sich zu Tänzer und griff nach dem Zügel, um aufzusitzen.
Rumail hielt ihn mit einer einzigen, federleichten Berührung auf dem Handrücken zurück. »Du fühlst dich jetzt besser, wie ich sehe. Kirian hat manchmal eine anhaltende, heilende Wirkung. Aber das Reisen, auch für einige wenige Tage, kann dieses heikle Gleichgewicht gefährden.«
Er machte eine Geste zu Rafe. »Wenn der junge Herr einen erneuten Anfall von Schwellenkrankheit erleiden sollte, musst du dafür sorgen, dass er gut isst und warm gehalten wird. Wenn er die Orientierung verliert – nicht weiß, wo er ist, dich nicht mehr erkennt, verwirrt zu sein scheint oder nichts mehr zu sich nimmt –, dann musst du ihm das hier geben.« Rumail hob ein kleines Glasfläschchen hoch, halb voll mit einer farblosen Flüssigkeit. Er verstaute es in einem Ledersäckchen mit Baumwollschnur und reichte es Rafe. »Nur immer einen Löffel voll. Wenn er noch reiten kann, reitet mit aller Kraft zum Turm. Unter keinen Umständen darfst du ihn zurücklassen. Hast du verstanden?«
Rafe steckte das eingepackte Fläschchen wortlos in seine Satteltaschen, die Miene so ausdruckslos wie immer. Er brauchte anscheinend keinen ausländischen Zauberer, der ihn über seine Pflichten belehrte.
Kristlin warf sich in Coryns Arme. Ausnahmsweise hatte er einmal keine tröstenden Worte für sie. Als er sich lösen wollte, zog sie ihn noch einmal an sich. Rumail streckte die Hand aus, um ihr über den Kopf zu fahren, doch sie zuckte zurück.
»Rührt mich nicht an.« Kristlin hob das Kinn, ihre Augen blitzten. »Nicht Ihr seid mein versprochener Gemahl, sondern Prinz Belisar, der König sein wird.«
»Trotzdem musst du höflich zu Dom Rumail sein, der dein Verwandter sein wird«, sagte Tessa, die hinter sie getreten war, steif. »Und eine Königin muss zu allen höflich sein, besonders zu einem Laranzu mit großer Macht.«
»Sobald Coryn aus dem Turm zurück ist, werden wir ihn haben, dann brauchen wir keinen anderen mehr!«
Tessa errötete und stammelte eine Entschuldigung für das Benehmen ihrer jüngeren Schwester. Rumail tat ihre Worte mit der Bemerkung ab: »Sie ist noch ein Kind, das schon ihren großen Bruder vermisst. Ich überlasse sie deiner Obhut und Vormundschaft, Damisela.«
Coryn schwang sich auf Tänzers Rücken und verabschiedete sich noch ein letztes Mal bei seinem Vater. Als er aus dem Hof ritt, geführt von Rafe, stürmte Kristlin hinter ihm her. Sie klammerte sich an seinen Steigbügel.
»Ich würde dich ja mitnehmen, wenn ich könnte, Chiya«, sagte er.
Ihre Unterlippe bebte, doch sie schüttelte den Kopf. »Ich will nicht in einen Turm, nicht einmal mit dir. Ich will für immer hier bleiben.«
Aus einem Impuls heraus sagte er: »Ganz unten in meiner Truhe liegt eine geschnitzte Seifenholzschachtel. Hebst du sie für mich auf? Wenn du mich dann vermisst, kannst du sie zur Hand nehmen; dann weißt du, dass ich an dich denke.«
Sie strahlte, nickte und ließ seinen Steigbügel los. Seine Hand glitt in die Innentasche seiner Weste, wo er das Taschentuch seiner Mutter verstaut hatte. Solange es dort sicher ruhte, war auch er sicher.
Als Rafe zum Mittagessen anhielt, hatten Sonne und frische Luft, zusammen mit der Übung des Reitens, Coryns Übelkeit durch das zu üppige Frühstück beseitigt. Sie ritten noch im Verdanta-Land, doch im Verlauf der Stunden waren die Umrisse der Berge weniger vertraut geworden. Der Pfad hatte sich an Felsformationen entlanggewunden, die pockennarbig vor lauter Höhlen waren, durch Wiesen mit braun versengtem Gras und hinab in Täler voller Farne und Dorngestrüpp. Sie hielten, um am Rand eines Baches die Pferde saufen zu lassen und sich auszuruhen.
Coryn setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm, pflückte einen der gelb gefleckten Rindenpilze, die darauf wuchsen, und knabberte an seinem restlichen Nussbrot und Käse. Einst war dieser Abschnitt des Waldes weit und tief gewesen, und angeblich sollten hier Waldläufer ihr Unwesen treiben, doch der Fluss war zu einem bloßen Rinnsal geworden, und zu seinen Lebzeiten hatte noch niemand diese scheuen Wesen mit eigenen Augen gesehen. Vielleicht würde er eines Tages zurückkommen und nach ihnen suchen. Er würde ja nicht für immer im Turm bleiben … oder? Er seufzte, streckte sich und stand auf, um sich noch einen Apfel aus den Satteltaschen zu holen.
»Ihr habt einen gesunden Appetit«, sagte Rafe.
»Ja, ich fühle mich großartig.« Coryn biss von dem Apfel ab. Er gehörte zur Ernte vom letzten Herbst und hatte seine Knackigkeit verloren. Schon den ganzen Morgen hatte Coryn nach der passenden Gelegenheit für ein Gespräch gesucht. »Rafe … du bist doch einer von meines Vaters Leuten, nicht wahr, nicht einer von Dom Rumails?«
Die Mundwinkel des alten Soldaten spannten sich leicht. Coryn hatte richtig vermutet, dass er sich nicht gern von einem fremden Laranzu Befehle erteilen ließ. Er hatte das verpackte Fläschchen Kirian angefasst, als wäre es von der Magie des Zauberers besudelt.
»Und wir wissen beide, dass ich kein Kindermädchen mehr brauche«, fuhr Coryn fort. »Ich glaube … ich glaube, es wäre weniger kränkend für uns beide, wenn ich das Kirian an mich nähme, das Fläschchen, das er dir gab, und es bei Bedarf selber benutze. Dann musst du nicht gleichzeitig auf mich und auf den Weg achten.«
Er hatte halbwegs erwartet, dass Rafe Einwände erhob, doch der Mann nickte, holte das Ledersäckchen aus seiner Satteltasche und reichte es ihm.
Coryn wartete, bis Rafe ins farndichte Unterholz gegangen war, um sich zu erleichtern. Neben dem Bach kauernd, entkorkte er das Fläschchen. Ein schwacher Limonenduft stieg daraus empor. Er leerte den Inhalt, spülte das Fläschchen aus und füllte es mit frischem Wasser. Niemand konnte auf den ersten Blick erkennen, dass sich etwas verändert hatte. Er schob das verpackte Fläschchen wieder in seine Weste, gleich neben das gefaltete Taschentuch.
Als er sich wieder auf sein Pferd schwang, hatte Coryn den Eindruck, als sei eine große Last von ihm genommen. Er hatte sich aus Rumails Griff befreit. Er begab sich in einen Turm, um sein Laran ausbilden zu lassen, um zu lernen, wie man mit seinem Sternenstein einen Gleiter flog, und vielleicht auch noch, um das Geheimnis zu erfahren, wie man mit weit entfernten Türmen sprechen oder Haftfeuer herstellen konnte. Er sang und scherzte den ganzen Tag lang. Obwohl Rafe nicht gerade ein geselliger Mensch war, musste er doch hin und wieder schmunzeln.
Spät abends am vierten Tag veränderte sich die Landschaft. Coryn und Rafe ritten nun zwischen öden, von Felsen bedeckten Bergketten. Ein Dunstschleier hing am Himmel. Die Luft wurde eiskalt und bekam einen metallischen Geschmack. Donner grollte, leise und verschwommen. Die Pferde wurden auf dem schmalen Pfad nervös, und das gewöhnlich so ruhige Pack-Chervine schüttelte schnaubend sein Haupt.
Coryn zügelte sein Pferd auf Rafes Zeichen hin. Der alte Soldat hob den Kopf und wandte sich nach Norden. »Schätze, das kommt aus Richtung Aldaran. In alten Zeiten haben sie hier Wetterzauber betrieben. Vielleicht tun sie’s immer noch. Wir suchen uns besser eine Bleibe.«
Tänzer wieherte und schlug mit dem Schweif, zerrte ein wenig am Zügel. Coryn trieb ihn an. Das war eindeutig kein gewöhnlicher Sturm; der Geschmack des aufkommenden Windes, die jähe Kälte, das Prickeln in seinem Nacken – alles wies darauf hin, dass hier Laran am Werk war. Er hatte noch nie etwas von Wetterzauber gehört, und Aldaran, obwohl Furcht erregend, hatte immer den Eindruck, sehr weit entfernt zu sein.
Sie trieben die Pferde um die Biegung des Berges. Die Hufe klapperten auf losem Geröll und schickten einen Gesteinshagel hangabwärts. Der Donner nahm zu.
Coryn hob den Blick zu dem nichts sagenden weißen Himmel, sah jedoch keinen Blitz. »Rafe …«
Der Alte, der an der Spitze ritt, zügelte auf einmal sein Pferd, sodass es tänzelte. Im nächsten Moment sank Coryn der Mut. Die gesamte Hügelflanke lag unter einem Bergsturz begraben. Statt eines schmalen Pfades, der zu beiden Seiten von kargem Erdreich mit gelegentlichen Felsblöcken und Sträuchern gesäumt war, steil, aber begehbar, sahen sie sich einem Haufen zerklüfteter Felsen gegenüber, von denen manche den Pferden bis zur Brust reichten. Weiter oben war die gesamte Felswand eingebrochen und abgerutscht. In dem v-förmigen Spalt am Fuß des Berges standen noch das Dickicht und einige zerzauste Bäume.
Ein Blitz zuckte über den Himmel, und abermals krachte der Donner. Wolken, grau und aufgedunsen, zogen aus dem Norden heran und bauten sich von einem Moment zum anderen beträchtlich auf. Der Wind, der jetzt noch kälter wehte, peitschte in Coryns Gesicht.
»Wo entlang?«, rief er Rafe zu und hob die Stimme, um den Wind zu übertönen.
Der Mund des alten Söldners verzerrte sich, als er sein Pferd hangabwärts richtete. Das Pferd wieherte und weigerte sich einen Augenblick lang, bis Rafe es in einem engen Kreis herumgeführt und dem Tier seine Fersen in die Flanken gestemmt hatte.
Die Pferde stolperten den Hang hinab, folgten dem Bergsturz. Sogar das trittsichere Pack-Chervine strauchelte einmal. Nach wenigen Minuten machte Rafe ihm Zeichen, dass sie besser absitzen und ihre Tiere führen würden.
Nun erstreckten sich von einem Ende des Horizonts bis zum anderen dunkle, zornig wirkende Wolken. Blitze entfachten den Himmel, fast unmittelbar von ohrenbetäubendem Donner gefolgt. Tänzer wieherte und zerrte, die Ohren flach angelegt. Coryn tätschelte ihn und trieb ihn weiter. Das Pferd bewegte sich vorwärts, und sein ganzer Körper drückte Widerstreben und Angst aus.
Nässe klatschte auf Coryns Gesicht: riesige, eiskalte Tropfen. Innerhalb von Augenblicken wurde der Regen zu einem Wolkenbruch. Er kramte in den Packen des Chervine nach seinem Kapuzenmantel. Als er ihn endlich herausgezogen hatte, waren sein Hemd und seine Weste schon durchnässt.
Coryn rief Rafe zu, der keine Zeit damit vergeudet hatte, nach seinem Mantel zu suchen: »Wir müssen hier raus!« Durch den Regenschleier hindurch konnte er das Dickicht auf dem Talgrund erkennen. Es würde nicht viel Schutz bieten, aber mehr, als sie hier hatten.
Dann sah er – spürte er –, wie ein unsichtbarer Fluss die v-förmige Schlucht hinabtoste, mit jedem verstreichendem Moment schneller wurde und alles in seinem Weg mitriss – Menschen und Pferde ebenso wie Bäume.
»Ein Sturzbach!«, schrie Coryn.
Rafe hatte sein Pferd und das Packtier schon wieder hangaufwärts gelenkt. Tänzer und das Chervine machten es ihnen eifrig nach, als wären auch sie sich der Gefahr bewusst.
Wieder aufzusteigen war schwerer, als Coryn für möglich gehalten hätte. Seine Stiefel glitten auf dem lösen Geröll aus, das jetzt nass vom Regen war. Ein Stein gab nach und rutschte weg, als er darauf trat. Schmerz schoss die Außenseite seines Knöchels hoch.
Einige Minuten später verlor Tänzer den Halt und rutschte nach hinten in ein Kiesfeld ab. Die Vorderhufe des Pferdes bearbeiteten hektisch den Hang. Unten fluchte Rafe; einer der Kiesel musste ihn getroffen haben. Coryn ließ den Zügel fallen, statt zu riskieren, dass er abriss. Mit klopfendem Herzen sah er zu, wie der Braune noch einige Fuß weit rutschte und dann festsaß, mit der Hinterhand auf dem Boden. Weiß umringte seine Augen.
Coryn kletterte zu Tänzer hinab und nahm die Zügel auf. »Ruhig, ganz ruhig«, murmelte er und strich dem Pferd über das Fell. Tänzer erbebte bei der Berührung. Er spürte die Furcht des Tieres wie eine auf ihn einbrandende Woge. Doch je mehr er das Pferd beruhigte, desto ruhiger wurde er selber.
Der Regen kam in einem Sturzbach herab und machte es unmöglich, weiter als ein paar Meter zu sehen. Ein heftiger Wind blies und trieb die Tropfen tiefer in die Falten von Coryns Mantel. Einen schmerzenden Schritt nach dem anderen führte Coryn das Pferd den Abhang hinauf, dorthin, wo sein Pack-Chervine stand und den Schädel schüttelte, sodass in alle Richtungen Wasserspritzer davonflogen.
»Hat keinen Zweck weiterzureiten«, sagte Rafe, als er seine Tiere auf gleiche Höhe mit Coryn brachte. »Wir halten an und warten, bis es vorbei ist.«
Rafe hatte Recht. Es würde Stunden dauern, bis sie sich zum oberen Ende des Felssturzes hinaufgearbeitet und einen Weg durch das Geröllfeld gebahnt hatten. Selbst dann fanden sie sich vielleicht noch in genau der gleichen Lage ohne angemessenen Schutz wieder, noch ausgelaugter und hilflos dem Wetter ausgesetzt.
Rafe stapfte, ohne eine Antwort abzuwarten, auf die Felsenbarriere zu. Aus dieser Nähe bot sie einen geringfügigen, aber merklichen Schutz vor dem Wind.
»Da!«, sagte Rafe.
Coryn konnte nicht erkennen, worauf der alte Soldat deutete, doch als sie weitergingen, sah er einen zerklüfteten Überhang, bei dem sich ein großer, flacher Felsen wie eine Tischplatte zwischen stützenden Wänden nach vorne schob. Er war kaum tief genug für sie beide, doch der Boden darunter wirkte einigermaßen trocken.
»Satteltaschen – hierhin. Decken – da.« Mit ein paar knappen Anweisungen richtete Rafe die kleine Unterkunft ein. »Rein!« Halb stieß er Coryn in den hinteren Bereich des geschützten Bereichs. »Raus aus den Klamotten!«
»Aber …« Coryn verkniff sich seinen Einwand. Hemd und Weste waren bis auf die Haut durchnässt, und jetzt, da er nicht mehr kletterte, drang Kälte hindurch. Hier unter dem Felsvorsprung, geschützt vor dem Wind, ging es besser, aber nicht viel. Auch er wusste, dass nasse Kleidung dem Körper Wärme entzog, sogar wenn es draußen gar nicht so kalt war.
Er legte seinen Mantel zur Seite, der dick genug war, um innen noch trocken zu sein. Zitternd zog er seine Stiefel und die nasse Kleidung aus. Ein jäher Windstoß schnitt wie eine Messerklinge über seine nackte Haut. Im nächsten Moment drückte Rafe ihm ein Bündel in die Hände – sein Winterhemd und eine Hose aus weicher, dicker Wolle, die Rafe irgendwie aus den Tiefen eines Chervine-Bündels hervorgekramt hatte.
Als Coryn seine trockene Kleidung endlich angezogen hatte, war Rafe schon neben ihm und hatte das Chervine gezwungen, sich hinzulegen, sodass sein Körper den schlimmsten Wind abhielt. Die Pferde, unweit der Öffnung angebunden, nahmen mit gesenkten Köpfen und zwischen den Rümpfen eingeklemmten Schweifen Posen griesgrämiger Standhaftigkeit an.
Abermals brandete Donner auf, der sich im Geröllfeld brach. Coryn hätte nicht zu sagen vermocht, aus welcher Richtung er kam. Der Regen verdoppelte seine Stärke; der Lärm nahm einen härteren Klang an.
Hagel.
Coryn warf über die Schulter des Chervines einen Blick auf die Eiskügelchen. Er fröstelte wieder.
»So ist’s besser«, sagte Rafe freundlich und legte seine eigenen Decken um Coryn.
Ein jäher ohrenbetäubender Lärm, lauter als Donner, ließ Coryn hochzucken. Sein Blick richtete sich nach draußen auf graues Licht. Der Lärm nahm zu, als rammte ein Riese Felsen in die Bergflanke über ihnen.
Auch Rafe saß jetzt kerzengerade da und griff nach den Zügeln des Chervines Das Tier stieß ein entsetztes Blöken aus, als es sich aufrappelte. Rafe packte den Kopf des Chervines und benutzte ihn als Hebel, um es wieder nach unten zu drücken, auf die Seite.
Coryn sah eine Anzahl Felsen die Bergflanke hinabpoltern. Ihr Aufprall war ringsum im Gestein zu spüren, durch die Erde selbst. Der Regen fiel in schrägen Bahnen, dann wieder gerade von oben oder als Gischt, die sein Gesicht mit halb gefrorenen Tropfen bedeckte.
Der äußerste Rand des Überhangs splitterte mit einem widerhallenden Krachen. Eines der Pferde wieherte laut und verstummte dann jäh. Coryn zuckte zusammen und zog seine Beine an. Jede Faser in seinem Körper fieberte danach, sofort hier zu verschwinden!
Als Coryn hastig zum Ausgang kroch, streckte Rafe seinen freien Arm nach ihm aus und erwischte ihn am Mantelkragen. Der Junge fuhr unter dem mächtigen Griff des Alten herum. Einen Moment lang wand er sich ebenso hilflos wie das Chervine.
»Keine Chance, hier rauszukommen.« Rafe deutete mit dem Daumen zum Bergsturz und brüllte über das Tosen hinweg: »Einzige Hoffnung – es durchstehen.«
Coryns Blick richtete sich auf die Bergflanke gegenüber. Von den Pferden fehlte jede Spur. Einige herabprasselnde Steine waren klein wie Kiesel, andere wuchtig. Wenn einer von denen ihn traf oder auch nur einer der faustgroßen Steine, ein Zufallstreffer gegen Schläfe oder Rückgrat, ein Ausrutscher auf dem nassen Boden …
Er schauderte, zog die Knie an und verschränkte die Arme über dem gebeugten Haupt. Im nächsten Moment spürte er, wie Rafe zu ihm kam und seinen Körper zwischen Coryn und die herabprasselnden Steine brachte.
Hilfe … Hilfe …, ging es durch Coryns Sinn. Die Silben pulsierten im Rhythmus seines rasenden Herzens. Ohne nachzudenken griff er nach dem Beutel, der seinen Sternenstein enthielt. Seine Finger gruben sich durch die Falten aus Seide, um den Kristall zu umklammern. Er erwärmte sich sofort unter seiner Berührung.
Hilfe … Hilfe …
Für einen Augenblick glaubte Coryn, eine Antwort zu vernehmen, doch er war sich nicht sicher. Der Aufruhr draußen schien nachzulassen. Kurze Zeit später konnte er sogar die Geräusche einzelner Steine unterscheiden.
Er hob den Kopf. Felsen versperrten drei Viertel des Eingangs. Im Zwielicht sah er, dass der Regen zu Niesel geworden war, dann zu Nebel. Ganze Sekunden vergingen, in denen keine Steine mehr herabpolterten.
Als mehrere Minuten lautlos verstrichen waren, richtete Rafe sich auf, reichte Coryn die Zügel seines Chervines und kletterte auf die Öffnung zu. Er musste erst einen Haufen Felsen zur Seite schaffen, um hindurchsteigen zu können. Doch als er die Öffnung erweiterte, fiel dadurch auch nicht mehr Licht in die kleine Höhle.
Coryn kroch weit genug nach vorn, um zu erkennen, dass es Nacht geworden war. Eine verirrte Bö strich mit eisigen Fingern über sein Gesicht. Die Temperatur sank schnell.
Einige Minuten später kam Rafe zurück. Selbst in der Dunkelheit konnte Coryn sehen, dass er die Stirn gerunzelt hatte.
»Nicht gut. Die ganze Bergflanke ist herabgestürzt. Es gibt keinen Weg um sie herum. Wird Stunden dauern, hier rauszuklettern.« Er griff nach den Satteltaschen mit ihrer Wegzehrung und gab Coryn ein Päckchen. »Wir bleiben heute Nacht hier.«
»Die Pferde? Sind sie …«
Rafe schüttelte kaum sichtbar den Kopf. »Keine Spur.«
Tänzer … Und Rafes zwei Packtiere, unschuldige Wesen, die sie in Gefahr gebracht hatten. Coryns Herz verkrampfte sich schmerzhaft. Sie könnten sich gerettet haben, sagte er sich, aber er glaubte es nicht.
Obwohl er keinen Hunger hatte, gelang es Coryn, etwas Dörrfleisch und Obstnussriegel zu essen und einige Schlucke Wasser zu sich zu nehmen. Sein Magen schien explodieren zu wollen, doch schließlich entspannte sein erschöpfter junger Körper sich wieder. Er versank in einen unruhigen Schlaf. Im Traum wanderte er unter einem eintönigen Himmel nackt über eine Eisplatte und lag hilflos da, während sich lodernd eine schattenhafte Gestalt im Mantel näherte. Feuer raste die bewaldeten Hänge hinauf, Feuer regnete vom Himmel …
Feuer nagte an ihm, seltsame blaue Flammen. Schaudernd versuchte er ihnen auszuweichen, doch je mehr er sich entfernte, desto höher und näher züngelten die Flammen. Ihre grellen Lohen verzehrten alles, was sie berührten. Von den ausgestreckten Fingern lief das blaue Feuer an seinem Arm hinauf. Das Fleisch seiner Hand verkohlte und ließ geschwärzte, rauchende Knochen zurück.
»Hilfe! Feuer! Helft mir!«, rief er, während er das Feuer mit seiner gesunden Hand auszuschlagen versuchte. Sofort fing auch sie Feuer.
Die Flammen verlangsamten ihren Lauf, als sie sich einen Weg in ihn hineinbahnten, in eine Schulter und tiefer noch, zum Kern seines Körpers. Er schrie jetzt ernsthaft, seine Panik ein Gestalt gewordener Laut. Seine Schreie hallten in seinem Schädel wider. In der Ferne rief jemand einen Namen, den er undeutlich als seinen eigenen erkannte. Je hektischer er auf die blauen Flammen einschlug, desto heftiger brannten sie. Wenn er hinauslief, würde der Regen sie vielleicht löschen …
»Coryn! Coryn, mein Junge, was ist denn? Hier ist kein Feuer! Kein Schaden, seht Ihr?« Eine düstere Gestalt griff nach ihm, schattenhafte Finger schlossen sich um seine Arme. Seine verkohlten Knochen zerbrachen unter dem Druck.
»Nein! Nein!« Coryn warf sich verzweifelt nach hinten, fort von der Gestalt. Entsetzt beobachtete er, wie das blaue Feuer schon ihre Hände hinaufloderte. Nun mussten auch jeden Moment die Wände der Unterkunft Feuer fangen.
Dann wurde er festgehalten, in einer derben Umarmung, so unbeugsam wie Stein. Ein Glasfläschchen wurde zwischen seine Zähne gezwängt und Flüssigkeit in seinen Mund gegossen. Er spotzte, schluckte einen Teil hinunter, doch den größten Teil spuckte er aus. Der Magen drehte sich ihm um. Er wandte sich gerade noch rechtzeitig ab, erbrach sich und würgte immer wieder, bis nichts mehr kam. Seine Augen tränten, und bitterer Speichel füllte seinen Mund.
Er hörte eine Stimme, so leise und sonor, dass er nur einige Wendungen verstand. »Heiliger Sankt Christophorus … Träger der Lasten … Beschützer der Kinder … In deine Hand …«
Er blickte auf seine Hände hinab und sah, als wären die Bilder auf Gazeschichten gemalt, sie gesund und unversehrt, und darunter seine anderen Hände, seine Traumhände. Fetzen schwarz verbrannten Fleisches hingen an gesplitterten Knochen. Schmerz jagte seine Nervenbahnen entlang. Und noch immer brannte das Feuer, fraß sich durch die Muskeln seiner Brust, seiner Rippen, seines Herzens …
Evanda und Avarra, Aldones der Sohn des Lichts, selbst du, Zandru aus der Hölle – helft mir! Helft mir!
Wie aus weiter Entfernung flüsterte eine Stimme etwas in seinem Kopf. Es erinnerte ihn an kleine Silberglocken, lieblich und voll Licht. Wer bist du?
Wer er war? Einen panischen Augenblick lang konnte er sich nicht mehr an seinen Namen erinnern.
Das Feuer! Das blaue Feuer! Helft mir …
Halt durch, kleiner Bruder. Wir werden Hilfe schicken …
Obwohl die Stimme verklang, obwohl es nur wenige Worte waren, durchflutete Coryn ein Gefühl immenser Ruhe. Seine Muskeln entspannten sich und wurden schwer. Sein Körper erschlaffte in Rafes Armen, in den unsichtbaren Armen eines anderen. Die blauen Flammen loderten noch einmal auf, dann sanken sie in sich zusammen. Endlich schlief er ein. Diesmal kamen keine Träume.