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Die Blutige Sonne stand groß und tief am Horizont und warf schräge, hochrote Strahlen auf die Mauern von Burg Ambervale. An den Toren und auf den Zinnen standen die Männer in Habachtstellung. Zelte, Postenketten und Behälter mit Proviant erstreckten sich auf den weiten Feldern bis zum Osten, wo einst Sommermärkte abgehalten worden waren. Eine Schwadron Lanzenträger übte unter den gebrüllten Befehlen eines Offiziers, während andere sich beeilten, schweißnasse Pferde trocken zu reiben, Ausrüstung zu säubern und den Boden für die Waffenübungen des nächsten Tages glatt zu rechen. Aus den Kochgruben stieg Rauch auf. Im Süden schmiegte sich ein Dorf, in dem noch hektische Betriebsamkeit herrschte, ans Flussufer. Eine Windbö trug den Geruch von Brot heran, das gerade fürs Abendessen frisch gebacken wurde.

Rumail von Neskaya trieb sein Pferd an, obwohl das müde Tier, die Heimat vor Augen, keines Ansporns mehr bedurfte. Bei seiner Annäherung erscholl ein lauter Ruf. An der Schwelle zur Burg traten zwei Wachen zur Seite und begrüßten ihn mit der aus Furcht geborenen Ehrerbietung, an die er schon so lange gewöhnt war. Als er durch das Ausfalltor zwischen den jüngst verstärkten Toren ritt, schaute er kurz zu den Zwillingsbannern von Ambervale und Linn hinauf und bemerkte die leuchtende Stickerei, die frisch geölten Angeln, allerorten Beweise für Disziplin und Bereitschaft. Jetzt, da er durch eine Ehe mit Verdanta Blutsbande geknüpft hatte, konnte er seine Aufmerksamkeit Acosta zuwenden, vielleicht sogar den entlegenen Provinzen Aldarans. Und von dieser Bergfestung aus den Bergkönigreichen, und von denen wiederum den Tieflanden von Valeron und den Liegenschaften der Hastur, Ja, sein Bruder würde sich über seine Nachricht freuen.

Im Hof begegnete er einer schnatternden Schar von Dienstmägden mit weißen Hauben und Schürzen, die Eimer schwingend zum Brunnen gingen. Andere Bedienstete trugen Körbe mit grün-goldenen Sommerkürbissen und Körbe mit dampfenden Rundbroten und Fleischklöpsen in die Küche.

Rumails Kreuz schmerzte, als er sich aus dem Sattel schwang und die Zügel einem Diener in makelloser Livree übergab. Die jahrelange Arbeit in den Türmen hatte Raubbau mit seiner körperlichen Leistungsfähigkeit getrieben, und doch hätte er diesen Preis gern noch Tausende von Malen bezahlt. Sollten gewöhnliche Menschen ihn doch für einen Zauberer halten; ihr abergläubisches Entsetzen war eine bessere Behandlung, als er sie als verarmter Bastard jemals erfahren hatte. Sogar die Hochachtung, die man ihm als Gesandter seines Bruders, als Stimme des Königs, entgegenbrachte, verblasste im Vergleich mit dem berauschenden Gefühl der Macht, das seine eigenen Fähigkeiten in ihm hervorbrachten.

Der Coridom von Burg Ambervale hieß Rumail mit einer tiefen Verbeugung willkommen und geleitete ihn persönlich zu seinen Unterkünften, statt diese Aufgabe an einen Untergebenen zu delegieren. Nachdem er gebadet, sich rasiert und ein Festmahl aus gebratenem Truthahn mit Brombeerkompott und weichem weißem Brot zu sich genommen hatte, wurde Rumail bei seinem Bruder vorstellig.

Damian Deslucido, König von Ambervale und nun auch von Linn und morgen von Wer-weiß-was-noch, saß in seinem geschnitzten Hochstuhl auf einem Podium und plauderte mit seinem Coridom und zwei Männern, die Rumail nicht kannte, die vermutlich aber dem niederen Adel angehörten. Dem Schnitt ihrer Westen und den geprägten Lederriemen an den Stiefeln nach stammten sie möglicherweise aus Linn. Leere Schwertscheiden hingen von ihren Gürteln.

»Euer Majestät«, sagte einer von ihnen, als Rumail sich näherte, »die Abgaben sind einfach zu hoch. Wir haben nicht genug Arbeiter, um die Ernte einzubringen. Seit Eurem … seit dem Krieg sind unsere Kornkammern nicht wieder gefüllt worden.«

»Darüber reden wir später. Wenn erst der Frieden gesichert ist, dürften die satten Bäuche mit Sicherheit folgen.« Damian entließ den Mann mit einer Geste. Als der Coridom die beiden Männer aus dem Audienzsaal geleitete, ging Damian die Stufen des Podests hinab und umarmte seinen Bruder.

Wie schon viele Male zuvor, war Rumail erstaunt, was für ein einnehmendes und gleichzeitig unkompliziertes Wesen Damian hatte. Nicht unbedingt gut aussehend, strahlte er etwas aus, was tiefer reichte, etwas, das die Menschen anzog und sie mit seinen Visionen erfüllte. Man hätte es Charisma oder Glamour nennen können, obwohl diese Worte es nicht genau trafen, denn dann hätte Rumail sich mit seinem Laran davor schützen können. Nein, es war etwas anderes. In Gegenwart seines Bruders schmolz jeder Unmut über seinen geringeren Rang dahin, und er überließ sich bereitwillig Damians Sache.

Und was für eine Sache das war! Ihr Vater, der unbetrauerte König Rakhal, hatte Ambervale halb zerfallen zurückgelassen, und das Volk darbte auf Liegenschaften, die keine Früchte mehr trugen, um für seine Spielschulden, seine Frauen und seine Suche nach dem Elixier des ewigen Lebens zu bezahlen. Das Nachbarreich Linn hatte schon viele der ertragreichsten Felder zwischen ihnen annektiert.

Nun hatte Linn sich Damian unterworfen, und die Bauern bestellten ihr Land ohne die Drohung durch Haftfeuer oder einer der anderen Teufeleien, die das vom Krieg zerrissene Zeitalter der Hundert Königreiche erfüllt hatte. Alles erblühte unter Damians goldener Sonne. Nur einige Unverbesserliche knurrten über die bewaffnete Streitmacht, die erforderlich war, um diesen Frieden zu bewahren.

»Also, Bruder, welche Neuigkeiten bringt Ihr mir aus Verdanta? War der alte Mann vernünftig?« Damian legte Rumail den Arm um die Schulter, da er nicht an die Etikette gebunden war, die den gelegentlichen körperlichen Kontakt unter Telepathen einschränkte, und schritt mit ihm durch die Halle zu den Privatunterkünften.

»Verdanta fügt sich Euren Bedingungen«, entgegnete Rumail, und sein Tonfall drückte den Respekt aus, den er seinem Lord schuldig war. »Ihr hattet Recht …«

Rumail stockte, als der junge Belisar auf sie zugestürmt kam. Seine Stiefel polterten auf dem Steinboden zwischen den Streifen des kostbaren Ardcarran-Teppichs. Mit seinem rot angelaufenen Gesicht und seinem goldenen Haar sah Belisar jünger aus als sechzehn. Seine Augen strahlten hell und blau wie Sternensteine und brachten sicher das Herz jeder Maid zum Schmelzen, obwohl Rumail sich in solchen Belangen nicht gern ein Urteil erlaubte. Seine eigenen Liaisons in Neskaya und Dalereuth, dem Ort seiner Ausbildung, waren kurzlebig und unbefriedigend gewesen. Niemand traf daran die Schuld, denn wie viele Telepathen fand er die körperliche Intimität ohne tiefere Sympathie enttäuschend, und keine Frau hatte ihn bisher für sich einnehmen können.

»Wie alt ist sie? Ist sie hübsch?« Dann erinnerte Belisar sich an seine Verantwortung als ältester Sohn und Erbe und richtete sich auf. Er verneigte sich vor Rumail, eine genau bemessene Geste gegenüber einem Älteren und Verehrten, der rangmäßig unter einem stand.

»Seid mir gegrüßt, Onkel. Wie lief Eure Mission?«

»Jeder nahm an, dass die älteste Tochter die beste Kandidatin wäre«, sagte Rumail, während sie weiter den Gang entlanggingen. »Aber Beltran war freundlich genug, gleich drei von ihnen zu zeugen, damit wir unsere anderen Ziele auch noch verfolgen können. Die jüngste hat ein latentes Potenzial der Eigenschaften, nach denen wir in ihren Nachkommen suchen. Ich habe sie bis auf die genetische Ebene hinab untersucht, trotz ihres beträchtlichen Widerstandes. Letzten Endes, glaube ich, wird sie sich den Wünschen ihres Vaters beugen. Das Handbinden hat sie gehorsam über sich ergehen lassen. Die ältere Tochter, eine gewöhnliche und langweilige Närrin, wird dafür sorgen, dass sie so erzogen wird, wie es sich für eine Königin geziemt.«

»Erzogen? Wie – wie alt ist sie?«, fragte Belisar und bemühte sich, ein Stirnrunzeln zu unterdrücken.

»Acht oder neun, glaube ich.«

Belisar wirkte entsetzt. »Sie ist ja noch ein Baby!«

»Nun, mein Junge!« Damian lachte herzhaft und schlug Belisar zwischen die Schulterblätter. »Dann wirst du wohl noch eine Weile warten müssen, bis sie mit dir das Bett teilen kann.«

»Vater …«

»Oh, aber es ist ja nur deine Braut, auf die du warten musst!«, sagte Damian. »Bei einem Gemahl wie dir, der so viel älter ist, wird sie schon davon ausgehen, dass er gewisse Erfahrungen mitbringt, nicht wahr?«

»Vater!«

»Lasst dem Jungen seine Würde«, sagte Rumail. In den Türmen hätte ein Knabe in Belisars Alter schon mehrere Liebesaffären hinter sich gehabt, allerdings nicht, wenn er aktiv in einem Kreis mitarbeitete. Sowohl sexuelle Verbindungen als auch Phasen der Enthaltsamkeit durch intensive Laran-Arbeit wurden als natürlich angesehen und mit größtem Respekt behandelt, nie mit diesem derben Spott.

»Es gibt noch mehr Neuigkeiten«, fuhr Rumail fort.

Sie erreichten die Privatunterkünfte der königlichen Familie. »Kommt, gehen wir hinein«, sagte Damian. »Du auch, Belisar. Da deine Heirat ein politisches Bündnis zur Folge haben wird, musst du dich in der Staatskunde üben.«

Als sie drin waren, entließ Damian den jungen Pagen und befahl den Wachen, sich ein wenig von der Tür zu entfernen, damit sie miteinander sprechen konnten, ohne dass jemand mithörte.

Im Gegensatz zum Audienzsaal war Damians Sitzungszimmer reich mit Teppichen und Wandbehängen in schmückenden Farben, Ledersesseln und Fußschemeln ausgestattet. Der Kaminsims aus Meeresmarmor, der den ganzen weiten Weg von Temora hierher verschifft worden war, glühte wie eine lebendige Perle im Schein des kleinen Sommerfeuers. Auf dem niedrigen Tisch aus uraltem Holz, den das Alter so blank gerieben hatte, dass es schon schwarz aussah, stand eine Schüssel aus geblasenem Glas, die frisch geschälte Nüsse und kandierte Früchte enthielt.

Damian rekelte sich im größten Sessel und nahm sich eine Hand voll Nüsse. Auch Belisar nahm Platz, jedoch auf der vordersten Kante seines Sessels.

»Ich bin wegen eines Heiratsvertrags nach Verdanta gereist, wie Ihr wisst, aber ich fand dort einen noch viel größeren Schatz vor. Einer der Jungen hat außergewöhnlich starkes Laran, das sich gerade entwickelt. Ich überzeugte seinen Vater, dass er mir erlauben müsse, ihn zu testen, wobei ich den Vorwand der Schwellenkrankheit nutzte, an der er tatsächlich leidet, und zwar recht stark, um das Ausmaß seines erwachenden Talents festzustellen. Als ich ihn testete, als sein Geist für meinen offen war … erinnert Ihr Euch noch an unsere Debatte über einen … anderen Gebrauch der Familiengabe?«

Damian ruckte hoch. In dem Augenblick des Schweigens, der darauf folgte, fielen Nüsse unbeachtet auf den Teppich. Der König blickte rasch zum Gesicht seines Sohns, zu den Fragen, die darin geschrieben standen.

»Habt Ihr es ihm noch nicht gesagt?«, fragte Rumail. Sie hatten vereinbart, dass der Junge nicht im Ungewissen bleiben durfte. Aber Damian hatte offenbar seine eigenen Vorstellungen vom richtigen Zeitpunkt.

»Das erledige ich gleich.« Damian wandte sich seinem Sohn zu. »Dein Onkel meint diese spezielle Art von Laran, die nur wir Deslucido haben. Jedenfalls einige von uns. Ich besitze lediglich einen Hauch davon und Rumail den weitaus größeren Teil. Die Götter haben für unsere unterschiedlichen Geburtsrechte ohne Zweifel einen gerechten Ausgleich geschaffen.«

Bei Damians Gelächter lächelte Belisar höflich. Rumail, der schon seit Jahren nicht mehr auf diese gelegentlichen Sticheleien reagierte, fiel auf, wie die Augen des Jungen wachsam und bohrend wurden.

Belisar sagte mit unerwarteter Förmlichkeit: »Ihr habt mir erklärt, Onkel, dass mein eigenes Laran rezessiv sei, dass meine Söhne vielleicht welches einsetzen könnten, ich jedoch nicht. Und alle wissen, dass Ihr ein mächtiger Laranzu seid. Die Familiengabe der Deslucido …« – er zögerte – »… ist recht unterschiedlich verteilt. Wollt Ihr mich nicht wissen lassen, inwiefern und wie sie der Sache eines geeinten Darkover dienen kann?«

»Gewöhnliches Laran ist innerhalb seiner Grenzen recht nützlich«, sagte Damian zurückhaltend. »Gut, um Haftfeuer herzustellen, um Kriege zu führen oder um die Wunden zu heilen, die solche Kriege unvermeidlich schlagen. Der Geist ist schwach, und gewöhnliche Menschen können dadurch etwas sehen, was nur in ihren Albträumen lebt. Und ihre Albträume können in liebliche Träume verwandelt werden. Aber noch nie in der Geschichte dieser Welt waren wir in der Lage, den Geist der Menschen von falschen Auffassungen und Vorurteilen zu befreien

»Ihn befreien? Wie?«

Rumail rutschte unbehaglich umher. Damian hatte den Hang, sich von seinen eigenen idealistischen Reden mitreißen zu lassen und darüber zu vergessen, dass Macht seine Rechtfertigung in sich selbst trug. Die Menschen brauchten nicht zu verstehen, um zu glauben. Tatsächlich verzögerte Gerede die Handlungen nur zu oft, die für das allgemeine Wohl erforderlich waren. Es wurde Zeit, dass er das Gespräch an sich riss. »Hast du schon einmal einen Wahrheitsbann gesehen?«

Belisar war bei der Niederlage Linns dabei gewesen, als eine Leronis, jene von Linn, dazu gebracht worden war, blaues Licht heraufzubeschwören, das nur in Gegenwart von Wahrheit reglos auf dem Gesicht des Sprechers erstrahlte. In seinem Schein hatten der Lord von Linn und seine Vasallen Ambervale Treue geschworen, und König Damian wiederum hatte versprochen, dass sie sich nie und unter keinen Umständen dazu hinreißen lassen würden, gegen ihre Verwandten in Acosta in den Krieg zu ziehen. Ein festeres Band als einen Eid, der unter einem Wahrheitsbann geleistet worden war, gab es nicht.

»Ja«, sagte Belisar bedächtig, »er ist der Grund, weshalb ein Mann dem geschworenen Wort eines anderen vertrauen kann, und die einzige sichere Methode, sich bei einem Disput der Fakten zu vergewissern. Sonst könnte ein Mann verborgene Loyalitäten haben, insgeheim seine Bündnisse wechseln, das eine sagen und etwas anderes meinen.«

»Was, wenn …«, sagte Rumail, »was, wenn ein Vasall wahrhaft glaubte, etwas werde seinem Herrn dienen, es so inständig glaubte, dass nicht einmal ein Wahrheitsbann den Unterschied feststellen könnte? Was, wenn ein König sich nicht an die reine Wahrheit gebunden fühlte, sondern nur an die Erfordernisse einer höheren Berufung?«

Belisar bekam große Augen, während er von seinem Vater zum Onkel blickte und wieder zurück. Damian sah zu, wie sein Erbe sich einen Weg durch Rumails Andeutungen bahnte. »Habt Ihr eine Möglichkeit gefunden, den Wahrheitsbann zu besiegen?«

»Nicht ihn zu besiegen«, sagte Rumail, »denn die Wahrheit ist wohl kaum ein Feind, den es zu besiegen gilt. Wir erweitern die Definition und sprechen von einer größeren Wahrheit, einer tieferen Loyalität. Das ist die besondere Gabe der Deslucido.«

»Und ich, ich habe diese Fähigkeit auch?« Der Junge runzelte die Stirn und durchsuchte sein Gedächtnis nach einem Zeitpunkt, als er wegen eines Kinderstreiches gelogen hatte und es nicht herausgekommen war.

»Nein, mein Sohn«, sagte Damian. »Und ich auch nicht. Du und ich, wir sind wie ein Schloss, an sich nutzlos; doch Rumail hier, er hält den Schlüssel. Er kann in unseren Geist vordringen und diese Gabe auslösen. Und bei mir hat er das schon bei einer ganzen Anzahl von Gelegenheiten gemacht. Die Wirkung ist sehr präzise und zeitlich begrenzt.«

»Ihr … habt unter dem Wahrheitsbann gelogen

Ärger blitzte in Damians Augen auf, doch er sprach ruhig weiter, ohne sich gekränkt zu zeigen. »Du musst verstehen, dass das Ergebnis nicht Falschheit ist, nicht in diesem Sinne, wie die meisten Menschen es verstehen. Wahrheit ist auch nicht nur ein steriles Wiederkäuen von Tatsachen. Bedenke: Ist es wirklich gut, eine Wahrheit zu enthüllen, die zur Abspaltung eines Königreichs führt oder einen anständigen Menschen in den Tod schickt?«

Belisar blickte zu Rumail. Das Blut wich aus seinem Gesicht, ließ nur den blassen Widerschein des Sommerfeuers zurück, das aschfarbene Wangen umschmeichelte. »Aber wenn die Menschen nicht mehr glauben können, was unter einem Wahrheitsbann gesprochen wird, was werden sie dann überhaupt noch glauben? Werden nicht alle Verträge auf dem Spiel stehen, wenn das jemals bekannt wird?«

Damian hob eine Braue. »Dann müssen wir sicherstellen, dass keine albernen Gerüchte verbreitet werden. Gerüchte können die edelste Sache zerstören, und gewöhnliche Menschen lassen sich von ihren Ängsten leicht in die Irre führen. Sie bedürfen der Führung durch die Obrigkeit.«

Belisar nickte. Sein Gesicht nahm rasch wieder seine normale Farbe an; er erholte sich schnell. Der Junge war gescheit, fand Rumail, wenn auch eine Spur zu hochmütig.

»Manchmal«, ergänzte Rumail, »ist es erforderlich, ein Geschwür aufzustechen, damit es sauber verheilen kann, oder – um mit den Worten eines Gärtners zu reden – den vermoosten Strunk auszureißen und neu zu pflanzen.«

»Ich verstehe, weshalb Ihr bis jetzt gewartet habt, um mir das zu sagen«, wandte Belisar sich an Damian. »Und ich werde Euer Vertrauen nicht missbrauchen. Die Götter haben uns mit dieser Gabe wahrlich gesegnet. Wir können das Angesicht von Darkover neu erschaffen! Natürlich müssten dann für uns andere Gesetze gelten als für gewöhnliche Menschen, da wir ja einer edleren Sache dienen. Aber was ist das für ein anderer Gebrauch, von dem Onkel Rumail sprach?«

»Rumail und ich haben die besonderen Gaben studiert, die in unserer Familien auftauchen«, fuhr Damian fort. »Wir haben oft darüber gesprochen, ob man eben diese Methode – den Glauben eines Menschen zu stärken, sodass er zu einer uneingeschränkt reinen Wahrheit wird – nicht auf die eine oder andere Weise für uns nutzen könnte.«

Rumail hatte sich mehr als einmal gewünscht, dass dies möglich wäre, aber bis auf seine engste Familie – Damian und sein Sohn – war der Einzige, bei dem er jemals festgestellt hatte, dass er die erforderliche Empfänglichkeit besaß, der junge Leynier.

Als Belisar ihn verdutzt ansah, sagte Rumail: »Stell es dir wie ein Fenster zum Geist des jungen Leynier vor, zum tiefsten Inneren seines Laran. Er wird eine Ausbildung in einem Turm erhalten, wie es sich gehört. Ich habe dafür gesorgt. Bei seinem Talent dürfte er weit kommen, vielleicht sogar Bewahrer werden.«

Rumail konnte nicht verhindern, dass ein Unterton von Verbitterung in seiner Stimme erklang, denn das war auch sein Bestreben gewesen; wenn diese Narren in Neskaya seinen Wert nur hätten erkennen können. Aber solche Gedanken brachten nichts. Eine der unausgesprochenen Absichten seiner Reise war es gewesen, auch noch den letzten Gerüchten einen Riegel vorzuschieben, einer alten Torheit, einen jungen Schüler »ungebührlich beeinflusst« zu haben. Das war alles lächerlich. Niemand konnte bestreiten, dass er sich nach Kräften für das Wohl des Jungen eingesetzt hatte, und doch war er für seine Methoden gerügt worden, so einfach und geradlinig sie auch gewesen waren. Wenn ein Bewahrer das Gleiche getan hätte, wäre er dafür gepriesen worden. In wenigen Monaten würden sie erkennen, wie dringend sie ihn in den Matrix-Kreisen der höheren Ebenen nötig hatten, und ihn bei seiner Rückkehr willkommen heißen. Das nächste Mal würde er diskreter Vorgehen.

Er richtete seine Gedanken wieder auf die Gegenwart und fuhr fort: »Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, wenn wir einen solchen Verbündeten am dringendsten benötigen, brauche ich nur das Fenster im Geist des jungen Leynier zu öffnen und unsere Wahrheit auszusprechen. Er muss dann auf sie hören.«

»Muss?« Belisar hob eine Braue.

»Muss. Auf die Stimme seines eigenen Gewissens oder das Flüstern seiner Geliebten. Er wird darauf hören und gehorchen, weil er es von ganzem Herzen und mit aller Inbrunst glauben wird. Wir werden einen Bewahrer, vielleicht den mächtigsten auf Darkover, als unseren treuesten Verbündeten haben.« Er hielt inne und ließ die Worte einsinken. »Egal, in welchem Turm er dient, egal, um welches Bündnis es geht.«

Damian schloss die Augen, als dächte er angestrengt nach. Ein Lächeln breitete sich allmählich auf seinem Gesicht aus. »Bruder, Ihr habt Recht. Ihr habt uns einen viel größeren Schatz gebracht als ein einzelnes kleines Königreich! Belisar, was hältst du vom Genie deines Onkels?«

Belisar grinste. »Ich finde, es wäre ein Mordsspaß, wenn wir einen handzahmen Bewahrer hätten, der uns aufs Wort gehorcht!«

»Sag das nie mehr!«, tobte Rumail. »Denk so etwas nicht einmal! Ein Bewahrer kann durch seinen bloßen Willen unvorstellbar mächtige Kräfte kanalisieren und lenken. Glaubst du, Haftfeuer, das vom Himmel regnet, oder die Wurzelpest, die einen Wald eingehen lässt, sind die schlimmsten Gräueltaten des Krieges? Was glaubst du wohl, warum die Aldarans so gefürchtet sind, da oben auf ihrem Berg?«

»Beruhigt Euch, Bruder«, mischte Damian sich ein. »Das ist kein Kinderspiel und keine Tändelei, aber es ist auch nicht die Vision der Zukunft, der wir uns alle verschworen haben. Wir müssen die Macht erlangen, unsere Träume wahr werden zu lassen, zum Wohl aller Völker. Seid versichert, wir werden sie weise nutzen.«

»Folgt mir«, fuhr Damian fort und stand auf, »lauschen wir ein wenig der Musik, sie wird uns über die Nacht hinweghelfen. Morgen ist ein neuer Tag, einer, für den wir dank Eurer vortrefflichen Arbeit jetzt besser gerüstet sind als jemals zuvor.«

Der Untergang von Neskaya

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