Читать книгу Der Untergang von Neskaya - Marion Zimmer Bradley - Страница 8
2
ОглавлениеAls die Asche endlich durchkämmt und jedes noch glimmende Scheit gelöscht war, als jene, die so hart gegen das Feuer vorgegangen waren, Zeit fanden, sich auszuruhen und ihre Verbrennungen und Prellungen zu versorgen, hielt Lord Beltran Leynier ein Freudenfest ab. Er lud nicht nur seinen Haushalt, sondern jeden Mann und jede Frau auf seinem Grund und Boden ein und jeden Kleinbauern mit seiner Familie, eine ungewöhnliche Geste des Edelmuts.
An diesem Abend erstrahlte die große Halle der Burg im Kerzenschein. Tessa und Margarida hatten sie mit Gewinden aus Spätsommerlilien und Girlanden in Braun und Blau geschmückt, den Farben der Leyniers. Der Coridom Padraic hatte alle verfügbaren Tische der Burg zu einem »T« mit langem Stamm angeordnet, an dessen Kopfende, wie es sich gehörte, Lord Leynier saß und Rumail zu seiner Linken auf dem Ehrenplatz.
Coryn saß einige Plätze entfernt, zwischen Eddard und dessen junger Frau einerseits und Margarida andererseits. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, als ihm ein leckeres Gericht nach dem anderen aufgetragen wurde: das unter leichter Flamme geröstete Bullenkalb, der mit Nüssen und Äpfeln gefüllte Truthahn, die frisch gebackenen Brotlaibe, die nach Rosmarin und Knoblauch rochen, und die mit Honig glasierten letzten Winterkürbisse. Er hatte ja nicht gewusst, dass Speisen so gut schmecken konnten. Außer der zermürbenden körperlichen Arbeit der letzten Woche lag auch seine Übelkeit hinter ihm, sodass er jetzt einen Heißhunger hatte.
Als die Tabletts mit den Fleischgerichten abgeräumt und von den Honigkuchen nur noch Krümel übrig waren, ließ Lord Leynier eine weitere Runde Wein für jeden Gast auftragen, sogar für die Kinder. In der erwartungsvollen Stille stand er auf und hob seinen Kelch.
»In dieser Zeit des Frohsinns entbieten wir unserem verehrten Besucher unsere Gastfreundschaft und unseren tief empfundenen Dank. Rumail von Neskaya, Eure Anwesenheit hier und Eure Taten im Kampf gegen das schlimmste Feuer seit Menschengedenken verleihen dem Sprichwort S’dia shaya neue Bedeutung. Ihr habt uns große Gunst erwiesen.«
Rumail nickte und erwiderte förmlich: »S’dei par servu. Ich für meinen Teil schätze mich glücklich, nach Kräften geholfen zu haben. Mein Bruder Damian Deslucido, der die Kronen von Ambervale und Linn trägt, ist der Ansicht, dass mit großer Macht noch größere Verantwortung kommt. In einer solchen Zeit der Not konnte ich nichts Geringeres tun, als meine volle Unterstützung anzubieten. Wie mein Bruder glaube auch ich, dass die Gabe des Laran bestimmte Verpflichtungen mit sich bringt. Manche behaupten sogar, es werde eine Zeit kommen, in der die Turmbewohner ihre Talente allein dem Frieden und nie mehr dem Krieg widmen werden.«
»Der Krieg ist schon schrecklich genug, wenn er nur mit Schwert und Pfeilen ausgetragen wird«, sagte Beltran Leynier grimmig. »Aber kein Mensch kann sich gegen diese Teufelswaffen behaupten, es sei denn, er befehligt sie selbst.«
Padraic hatte Coryn die Geschichte erzählt, wie sein ältester Bruder, der Erbe von Verdanta werden sollte, in der letzten Schlacht gegen die Storns von Callarma getötet worden war. Seine Onkel, die beiden überlebenden Brüder Beltrans, waren in einem Hinterhalt umgekommen, als sie Waffenstillstandsverhandlungen führen wollten. Sein Vater hatte Recht, so sicher, wie der nächste Winterschnee kam. Weder Callarma noch High Kinnally noch sonst jemand würde es wagen, Verdanta im Angesicht der überlegenen Laran-Waffen herauszufordern.
Nach einer kaum merklichen Pause setzte Rumail seine Rede fort, wobei seine Stimme zu einem formellen, honigsüßen Tonfall wechselte: »Im Namen von Damian Deslucido dem Unbesiegbaren, König von Ambervale und Linn, übermittle ich Euch die herzlichsten Grüße und Ehrenbezeigungen. Er schickt Euch diese Geschenke als Zeichen seiner hohen Wertschätzung.«
Padraic in seiner Rolle als Coridom reichte Rumail ein Päckchen von der Länge eines Männerarms und etwa halb so dick, in ein tiefblau gefärbtes Tuch eingeschlagen, das den Glanz von teurer Spinnenseide aufwies. Rumail nahm das Päckchen entgegen, sodass der schillernde Stoff herunterglitt und ein Kästchen aus gehämmertem Kupfer enthüllte. Gemurmel erhob sich am Tisch angesichts solcher Reichtümer, denn Kupfer war das kostbarste unter allen seltenen Metallen auf Darkover.
Mit einer einzigen raschen Bewegung öffnete Rumail das Kästchen und ließ in einer Kaskade alles herausfallen: Päckchen mit Gewürzen, Ballen mit bestickter Spitze aus Dalereuth, Perlenketten aus Temora und ein prächtiges Stück polierter Bernstein, in der Form eines Wolkenleoparden geschnitzt. Margarida, die schöne Dinge liebte, klatschte entzückt in die Hände, genau wie Eddards Frau.
Lord Leynier stattete sichtlich erstaunt in ebenso formeller Rede seinen Dank ab. Rumail fuhr fort, indem er den eigentlichen Grund seiner Mission darlegte, den jedermann an der Tafel schon kannte: den Heiratsantrag von König Damians Erben Prinz Belisar an eine Leynier-Tochter. Was er nicht laut sagte, aber ebenfalls schon jeder wusste, war, dass die Vermählung von der Fähigkeit des Mädchens abhing, Kinder dieser Art mit besonders starkem Laran zu gebären. Beim ersten Antrag dieser Art war Tessa, die einzige Tochter im heiratsfähigen Alter, sehr empört gewesen.
»Ich werde nicht für die verfluchten Zuchtpläne eines Mannes die Barragana spielen!«, hatte sie in einem ungewöhnlichen Temperamentsausbruch erklärt, denn sonst war sie immer das sittsamste unter den Mädchen.
»Es handelt sich um eine achtbare Ehe Di Catenas«, hatte ihr Vater sie berichtigt, »und nicht um einen ungerechten Handel.« Obwohl er mächtig genug war, die Vermählung zu erzwingen, setzte er seine Autorität nur selten ein, wenn seine Kinder anderer Auffassung waren. »Du würdest das, was du zur königlichen Blutlinie beiträgst, gegen ein Leben in Luxus und relativer Sicherheit eintauschen.«
Eddards Frau, die vor weniger als einem Jahr eingeheiratet hatte und mittlerweile sichtlich schwanger war, hatte ein sanftes Gemüt und als Mitgift erstklassiges Ackerland in die Ehe eingebracht. Ihr Zustand hatte verhindert, dass sie das Lager der Feuerkämpfer aufsuchte, doch es war lediglich eine Frage der Zeit, bis sie die Rolle der Lady von Verdanta übernahm. Tessa würde irgendwann heiraten müssen, um einen eigenen Hausstand zu gründen.
»Du wärest Königin«, erinnerte Coryn sie. Das klang nach einer großartigen Sache.
»Dich hat niemand gefragt, du …« Tessa unterbrach sich und errötete heftig.
»Wir heiraten aus Überlegung, nicht aus Wunsch«, sagte Beltran. »Liebe zwischen einem Mann und seiner Frau kommt später oder gar nicht, wie die Götter es wollen. Inzwischen tut ein jeder für die Familie, was er kann, denn nichts ist stärker als die Blutsbande.« Er ließ den Gedanken, der allen durch den Kopf ging, unausgesprochen, dass Bündnisse, die nicht von fruchtbarer Vermählung getragen werden, sich nur zu oft als wertlos erweisen. Der Wert einer solchen Verbindung sprach für sich selber, im Namen der kleineren Besitztümer, die König Damian schon Treue geschworen hatten.
Letzten Endes erklärte Tessa, als sie sich Luft verschafft hatte, dass sie diesen Belisar heiraten werde, wie es ihre Pflicht sei. Allerdings nur, beharrte sie, wenn er freundlich und einigermaßen ansehnlich sei.
»Ihr habt hier mehrere Töchter«, sagte Rumail, während sein Blick von Tessa, der hinreißenden Dunkelhaarigen, die, den Dutt tief im Nacken von einer silbernen Schmetterlingsspange gehalten, gleichmütig am Tisch saß, zu Margarida mit ihren Sommersprossen und der Stupsnase wanderte, die in einen Kittel gekleidet war, den sie selber bestickt hatte, und dann für einen kurzen Moment hoch zur Galerie, wo Kristlin zusammen mit den anderen jüngeren Kindern zusah. »Mein Bruder äußert die Bitte, dass man mir erlauben möge, alle zu prüfen, um festzustellen, wie stark und geeignet das Laran des jeweiligen Mädchens ist.«
Coryn schaute rasch zu Margarida. Sie hatte die Augen niedergeschlagen, doch er sah ihre Verärgerung. Sie war erst vierzehn.
»Ich hatte angenommen, dass lediglich Tessa geprüft wird«, sagte Beltran mit krauser Stirn. »Sie ist nicht nur die Älteste, sondern auch im besten Heiratsalter.«
Rumails Miene blieb ausdruckslos, als er erwiderte: »Aber das beste Alter muss nicht unbedingt die beste Wahl sein. Lasst uns wenigstens die Frage nach dem Laran-Potenzial der Mädchen klären, bevor wir unsere Verhandlungen weiterführen.«
»Wenn es wirklich erforderlich ist, steht es Euch frei, sie auf jede erdenkliche Weise zu untersuchen, die sich für eine Maid und einen unverheirateten Mann, der nicht ihr Verwandter ist, schickt«, sagte Beltran mit einer Spur Bitterkeit in der Stimme.
»Es ist erforderlich«, sagte Rumail. »Das Laran kann schlummern oder blockiert sein oder einfach nur ein Potenzial für die nächste Generation bilden.« Coryn erkannte am veränderten Tonfall des Mannes, dass er jetzt mit der Autorität eines ausgebildeten Laranzu sprach. »Ich versichere Euch, dass ich nichts tun werde, was in irgendeiner Hinsicht die Ehre Eurer Töchter in Misskredit bringen könnte, noch werden Schmerzen damit verbunden sein. Und Ihr, Damisela Margarida, dürft Eure Amme dabeihaben, wenn Ihr das wünscht.«
Margarida hob den Blick und sagte beherzt: »Ich benötige keine Amme mehr, Vai dom.«
»Dom Beltran«, fuhr Rumail fort und beugte sich leicht vor, »es gehört nicht zu meiner Mission, Eure Söhne zu testen, doch ich hätte gern die Erlaubnis, den jungen Coryn zu untersuchen. Ich glaube, er könnte das Donas, die Gabe, ebenfalls haben.«
Beltran nickte zustimmend und bedeutete, dass die Tische abgeräumt und die abendlichen Lustbarkeiten beginnen mögen. Tessa spielte die Rryl besonders gut und hatte eine klare, liebliche Stimme. Petro, der kein Talent zum Singen besaß, begleitete sie auf der Schoßtrommel und Margarida auf einer kleinen Rohrflöte.
Als Coryn einen gepolsterten Stuhl für Tessa hinstellte, spürte er Dom Rumails Blick auf sich ruhen. Vielleicht war dieses Gespür schon eine Art Laran. Durchaus möglich, dass er eines Tages doch mit seinem Sternenstein einen Gleiter fliegen würde. Bilder des Schwabens und Segelns brachen über ihn herein, während er aus dem Blickwinkel eines Adlers auf Wald und Wiese hinabsah. Inbrünstig betete er zu Aldones, dass es wahr werden möge.
Dom Rumail wurde für seine Tests die kleine Kammer zugewiesen, die im Winter immer zum Aufhängen der Bettwäsche diente. Den ganzen nächsten Morgen untersuchte er die Mädchen, wobei er mit Tessa begann. Coryn sah sie erst an diesem Abend wieder, denn Eddard schickte ihn fort, damit er auf der Suche nach brennenden Scheiten, die sich im Erdreich eingegraben hatten, die Ränder der früheren Feuersbrunst abritt. Das Abendessen war zwanglos, wie gewöhnlich an Werktagen; es gab heiße Fleischpasteten, strengen Chervine-Milchkäse und getrocknete Obstriegel, Nussbrot und Schüsseln mit Hafergrütze und pikanter Soße, die in der Küche bereitstanden. Dort begegnete Coryn auch den beiden jüngeren Mädchen und Petro, die miteinander schwatzten.
»Es war, als ob man …« Margarida hob die Hände in einer schwingenden Geste. »… als ob man auf einer Wolke tanzt.«
»Du meinst, er hat dich eingeschläfert?«, sagte Petro mit finsterer Miene. »Was ist daran so großartig?«
»Du bist ja nur eifersüchtig, weil du nicht auch an die Reihe kommst«, sagte Coryn.
»Bin ich nicht«, sagte Petro. »Ich will gar nicht, dass ein alter Zauberer in meinem Geist herumstöbert. Wer weiß, was er tut, wenn er drin ist? Er könnte deine Gedanken lesen … all deine hässlichen kleinen Geheimnisse. Wie würde es dir gefallen, wenn alle wüssten, wie du damals Tessas Haarbürste angezündet und dann in die Latrine geworfen hast?«
Coryn schlug Petro auf die Schulter, während Kristlin kicherte. »Also das ist damit passiert. Tessa war für einen Zehntag wütend wie Durramans Esel, weil sie dachte, sie hätte die Bürste verloren.«
Bevor Kristlin fragen konnte, wie Coryn die Bürste in Brand gesetzt hatte, sagte Margarida: »Was Dom Rumail tat, war recht angenehm. Irgendwie traumhaft.«
»Also, mir hat’s nicht gefallen«, erwiderte Kristlin und schob die Unterlippe vor. Kritisch zog sie die Brauen zusammen. »Es fühlte sich an wie … ich weiß nicht, wie eine Schlange klingt, wenn sie über verdorrtes Laub kriecht.«
»Du? Was weißt du schon?« Coryn grinste. »Du hast ja noch nicht einmal einen Sternenstein. Du bist bloß ein kleines Mädchen, das in einer Jungenhose herumläuft – wem hat sie eigentlich gehört? Bruder Domenic?«, spottete er, unfähig der Versuchung zu widerstehen.
»Was geht es dich an, solange sie nicht dir gehört?«, entgegnete sie und entwand sich ihm, als er die Arme ausstreckte, um sie zu kitzeln.
Einer der Hausdiener kam herein und erklärte, wenn Master Coryn fertig gegessen habe, möge er doch bitte Dom Rumail aufsuchen. Mit vor Aufregung flauem Gefühl im Magen begab Coryn sich in den Wäscheraum. Die Luft roch schwach nach Zeder und Goldgras, die man verwendete, damit die Tücher gut rochen und um die Motten fern zu halten. Eine Hand voll Kerzen erfüllte den kleinen Raum mit sanftem Schein. Rumail saß auf einem Hocker, die Hände locker im Schoß gefaltet. Auf einem niedrigen Tisch lagen zusammengefaltete Decken und bildeten ein Kopfkissen.
»Soll ich mich hinlegen?«, fragte Coryn.
»Noch nicht, junger Herr. Ich habe ein paar Fragen an dich. Ich habe deine Abstammung schon studiert, darauf brauchen wir also nicht einzugehen. Wie lange hast du schon Anfälle von Benommenheit und Orientierungslosigkeit? Bereitet die Übelkeit dir Essprobleme? Hattest du visuelle Störungen, bei denen Dinge nicht die richtige Form oder Farbe hatten oder nicht stillhalten wollten?«
»Ich habe keine …« Coryn biss sich auf die Lippe. Er hatte geglaubt, seine Schwäche gut verborgen zu haben. Eddard hatte während der Feuersbrunst nichts bemerkt oder es jedenfalls nicht der Rede wert gefunden. »Das ist die Aufregung, mehr nicht. Es hat nichts mit, na ja, irgendwas anderem zu tun.« Aber das klang selbst in seinen Ohren wenig überzeugend.
»Es hat sehr viel mit dem Erwachen des Laran zu tun.« Nun klang in Dom Rumails Stimme eine eisige Strenge durch. Coryn spürte düster, dass etwas Mächtiges von dem Laranzu ausging. »Und es ist nichts, wofür man sich schämen müsste oder das man leicht nehmen dürfte. Es sind die Symptome der Schwellenkrankheit, die sich oft einstellt, wenn in der Pubertät die Laran-Kräfte erwachen. Je stärker die Beschwerden, desto mächtiger ist das Laran.«
»S-soll das heißen, ich habe es?«, platzte Coryn heraus. Die Ungeduld ließ seine Nerven beben. »Laran?«
»Durchaus möglich, Chiyu. Das wollen wir hier herausfinden. Sag, was geschieht, wenn du in deinen Sternenstein schaust? Hol ihn heraus und zeig es mir.«
Coryn packte den Stein aus, und sein Blick richtete sich auf das wabernde blaue Licht in der Mitte. Er hatte das eigenartige Gefühl hineinzufallen, tiefer und tiefer zu gleiten. Schon nach wenigen Momenten erfüllte ihn dieser Übelkeit erregende Schwindel, der ihm inzwischen nur zu vertraut war. Sein Magen verkrampfte sich, und kalter Schweiß brach ihm aus.
»Genug! Wende jetzt den Blick ab!«
Coryns Finger zitterten, als er den Sternenstein wieder im Seidenbeutel verstaute. Zögernd beantwortete er Rumails Fragen über die Symptome, die in der letzten Jahreszeit, wie er zugab, immer schlimmer geworden waren.
»Ist sie sehr gefährlich, diese Schwellenkrankheit?«
»Sie könnte es werden, wenn sie unbehandelt bleibt«, erwiderte Dom Rumail. »Aber ich habe schon junge Leute in den Turm eintreten sehen, die erheblich schlimmere Fälle waren als du, und auch ihre Fähigkeiten haben sich zur vollen Blüte entfaltet.«
»Was – was muss ich tun?«
»Im Augenblick legst du dich einfach hin und entspannst dich, so gut du kannst. Überlass den Rest mir.«
Als Coryn sich auf die gepolsterte Bank setzte, nahm das Schwindelgefühl zu. Er schloss wie gewünscht die Augen und spürte die Berührung einer Fingerspitze zwischen den Brauen. Die Welt wurde wieder stabiler. Wenig später spürte er eine Wärme in seiner Magengrube, die das Rückgrat hinaufkroch. Seine Arme und Beine wurden schwer und dann leicht. Er schien auf einer gazeartigen, sonnenbeschienenen Wolke zu schweben. Seine Muskeln waren entspannt, als wäre er triefnass aus einer heißen Quelle wie jener gestiegen, die Eddard auf dem Wolkenkappen-Berg entdeckt hatte. Die Gedanken wogten angenehm durch seinen Geist, substanzlos wie Gespenster. Kein Wunder, dass es Margarida gefallen hatte, sie neigte ohnehin zu Tagträumereien.
Ein- oder zweimal wurde Coryn sich des Klangs von Rumails Stimme bewusst, obwohl er die Worte nicht verstehen konnte. Hin und wieder hatte er auch den Eindruck, als habe sich das Innere seines Kopfes in sein Schlafzimmer verwandelt und noch jemand anderes bewege sich darin. Ob Mann oder Frau, konnte er unter dem nebelhaften grauen Schleier nicht sagen. Er verspürte nur eine traumhafte Gleichgültigkeit und nicht das geringste Gefühl der Störung.
Der Besucher trieb durch den Raum, nahm den geschnitzten Muschelkamm von seinem Platz auf der Ablage, zog eine kupferne Strähne zwischen den Borsten hervor und steckte das Haar in eine unsichtbare Tasche. Dann bückte er sich, um die Truhe am Fußende von Coryns Bett zu öffnen.
Coryn beobachtete jetzt in günstiger Lage, mit dem Kopf auf seinem Kissen, wie der Besucher nacheinander alle Kleidungsstücke herausnahm – seine Feiertagstunika aus dem Linex der Trockenstädte, seinen besten Wintermantel aus fest gewebter blauer Wolle mit dem Besatz aus Wolkenleopardenfell, die Weste und Hose aus geschmeidigem, puterrot gefärbtem Leder, die einmal Eddard gehört hatten und ihm nicht mehr passten, einen Dolch mit abgebrochener Spitze, eine Schachtel aus Seifenholz mit seinen eingravierten Initialen, die mit kindischen Kinkerlitzchen gefüllt war – Flussopalen von erbärmlicher Qualität in einem Beutel, den Tessa ihm zum sechsten Geburtstag genäht hatte, Pferd und Reiter aus Reisig, einem Taschentuch mit eingesticktem Kirschmuster, das einmal seiner verstorbenen Mutter gehört hatte.
Der Besucher legte alle Sachen bis auf den Dolch und das Taschentuch sorgfältig wieder zusammen und verstaute es in der Truhe.
Was hatte diese Person mit ihm vor, mit den Dingen, die sie sich genommen hatte, dem Haar, dem Dolch und dem Taschentuch? Coryn konnte nur mit wachsendem Entsetzen zusehen, wie der Besucher das Taschentuch auf seiner Brust über dem Herzen ausbreitete und das zusammengerollte Haar in die Mitte des Tuches legte.
Die Gestalt griff nach oben zu ihrer Kapuze, die den Kopf verhüllte, und riss sich mit einem jähen Ruck selber ein Haar aus. Sie verflocht es mit Coryns Haar und schlug es in das Taschentuch ein.
Das war nicht richtig, konnte nicht richtig sein! Coryn wollte sich verzweifelt bewegen, den Kopf wenden, laut schreien. Dom Rumail, helft mir! Aber seine Stimme und sein Körper blieben gelähmt, wie eingefroren.
Der Gesichtslose nahm den Dolch und hielt ihn über Coryns Bauch. Licht brach sich in der Spitze, die jetzt unbeschädigt war, mit blauem Glas an Stelle des abgebrochenen Stücks, das von innen heraus gespenstisch leuchtete.
Coryn blickte sich hektisch um, in der Hoffnung auf etwas, das er zu seiner Verteidigung verwenden konnte. Gleich darauf lag er nicht mehr in seinem Schlafzimmer. Eine weite graue Leere, trostloser als alles, was er sich vorstellen konnte, erstreckte sich endlos in alle Richtungen. Er empfand weder Wärme noch Kälte und spürte keine Materie unter sich. Über ihm dehnte sich ein gleichermaßen formloser Himmel aus, von gleichmäßigem, hellerem Grau, so weit sein Blick reichte. Der Ort war bis auf ihn selbst und den Besucher im grauen Gewand leer.
Die Dolchspitze drang mit Schmerzen wie von kleinen Nadelstichen in seinen Körper ein. Er spürte, wie sie seine Haut durchdrang, seine Muskeln, bis zu seiner Wirbelsäule und noch tiefer. In diesem Moment erkannte er, dass der Fremde ihn nicht töten würde, doch jeder Nerv, jede Faser des Körpers begehrte dagegen auf. Mit seiner neuen Fähigkeit spürte er, dass hinter den Worten etwas nicht stimmte. Vor seinen Augen wurde alles weiß.
Eine Drehung, ein Reißen, dann schlitzte der Dolch seinen Bauch auf. Er konnte nichts sehen, doch er spürte, wie etwas in sein tiefstes Inneres gelegt wurde.
Das Taschentuch! Mit meinem Haar – und wessen noch? Warum? Warum?
Gedankenfetzen und Bruchstücke von Erinnerungen wirbelten um ihn herum, als wäre er in einem Schauer aus Holzscheiten von einem explodierenden Harzbaum gefangen. Etwas tief in ihm löste sich von seinen Wurzeln.
Coryn schrie lautlos auf und wollte sich krümmen, um dem Schmerz zu entgehen. Alles, alles hätte er getan, nur um fortzukommen und diese schreckliche, quälende Falschheit nicht mehr zu spüren. Er warf sich in diese und jene Richtung, blind vor Verzweiflung.
Plötzlich tauchte ein Gang vor ihm auf. Er stürmte hinein. Die Wände schlossen sich um ihn und umgaben ihn von allen Seiten. Eine weiche graue Decke legte sich auf ihn, als er mit der Materie der Wände eins wurde. Endlich war er in Sicherheit. Auch wenn er nicht hinaus konnte, so konnte doch auch nichts und niemand hinein. Nichts konnte jetzt noch in ihn hineingreifen.
Im nächsten Moment war der Dolch fort. Hände schoben die Wundränder zusammen. Unirdische Wärme umschmeichelte den Schnitt und verschmolz die Ränder. Er holte tief und bebend Luft, Da war kein Schmerz. Einen langen Augenblick nach dem anderen war da nichts außer seinem eigenen Atem. Stille und Starrheit umgaben ihn.
Schwach spürte er in der Ferne, wie die Hände sich zurückzogen. In einem Körper, der nicht länger ihm gehörte, vergingen die feurigen Ströme zu Kühle.
Die Gestalt mit der Kapuze beugte sich vor, bis ihr Atem etwas gegen seine Wange hauchte.
»Du wirst nichts davon verraten. Nichts.«
NICHTS … NICHTS …
Dann erfasste ihn wahre Finsternis.