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Vier Jahre später ritten die drei Freunde zusammen über die Hügel in der Umgebung von Tramontana. Die Beute einer morgendlichen Falkenjagd, ein Paar Waldhühner für das Mittsommerfest, hing von ihren Sätteln. Die Männer hatten auch Körbe, gefüllt mit Berggänseblümchen, Himmelsblumen und sogar einem oder zwei Stängeln cremig weißer Bellisma, die zu Geschenkpäckchen für die Frauen im Turm arrangiert werden konnten. Keiner hatte nach der Mittsommertradition Frauen in seiner Verwandtschaft zu ehren, wie Hastur, der Herr des Lichts, die Gebenedeite Cassilda mit Früchten und Blumen geehrt hatte. Doch Coryn freute sich schon auf Lianes Gesicht, wenn er ihr die Flussopale gab, die er für sie gesucht hatte, die Art Geschenk, die er Kristlin gemacht hätte.

Nun ritten Coryn und Liane unbeschwert wie Bruder und Schwester zusammen und sahen zu, wie Aran vorauspreschte, sein Körper in geschmeidigem Einklang mit den ausgreifenden Schritten des Pferdes. An diesem Morgen hatte Coryn Aran seine prächtige schwarze Armida-Stute geliehen, ein Geschenk seines Vaters vom vorigen Winter. Es war dasselbe Pferd, das Petro auf seiner unglückseligen Mission zu den Storns während des schrecklichen Feuers geritten hatte.

Aran, noch schlaksig und mit so dunklen Wimpern, dass die meisten Mädchen neidisch auf ihn waren, ritt mit den Händen auf den Oberschenkeln, die Zügel locker. Die Stute reckte den Hals und brach in einen Galopp aus, die Läufe hoch erhoben und den Schweif wie eine Standarte im Wind.

Coryn lachte. »Sie will laufen!«

»Womit hast du sie gefüttert? Mit Drachenknochen?«, rief Aran zurück. Von unsichtbaren Fesseln befreit, griff das Tier immer weiter aus. Aran hob seine behandschuhte Linke, und der Verrin-Falke, der an der Grenze seines Sichtfelds geschwebt war, stieg nun in Kreisen herab, um sich mit ihm zu treffen. Wie viele seines Clans hatte Aran die Gabe, die Donas, mit Tieren geistigen Kontakt herzustellen.

Coryn zügelte sein Reittier und schloss die Augen, um der Verschmelzung von Tier, Vogel und Mensch leichter folgen zu können. Eine Hand kroch zu seinem Sternenstein an der Silberkette um seinen Hals. Trotz seiner Schutzhülle aus dicker Seide pulsierte er vor Energie, als er seine Gedanken auf den Freund richtete.

Der Wind strich durch sein dichtes Haar, verlieh ihm Flügel und wischte Freudentränen aus seinen Augen. Eine Macht durchströmte ihn, die ihm den Eindruck vermittelte, er könnte für immer laufen, fliegen und reiten. Von allen Geschenken, die Arans Freundschaft mit sich gebracht hatte, war dies das kostbarste.

Liane brachte ihr Pferd auf eine Höhe mit Coryns, den Damenfalken mit seiner Haube auf dem Handgelenk. Die Jahre hatten ihre Nase gerader werden und ihre Sommersprossen verblassen lassen, sodass sie jetzt zwar gut aussah, aber nicht unbedingt hübsch. Doch wenn Coryn sie anschaute, sah er das Feuer hinter ihren grünen Augen, den Mut, mit dem sie alles anpackte. Sie war eine fähige Überwacherin geworden und hatte, wie Kieran einst voraussagte, schon bei mehr als einer Gelegenheit in den Matrix-Kreisen über Coryns Wohlbefinden gewacht.

»Das ist nicht fair!«, sagte sie und folgte der schwarzen Stute mit den Augen. »Ich kann den Weg einer einzelnen Blutzelle durch den Körper eines Menschen verfolgen, doch so sehr ich mich auch bemühe, ich kann nicht mit ihm mithalten.« Sie meinte Arans Einssein mit Pferd und Falke. Obwohl sie Energonflüsse in einem menschlichen Körper überwachen und manipulieren konnte, war sie in der Empathie, der Fähigkeit, die Emotionen anderer zu spüren, erheblich weniger bewandert und besaß bloß ein geringes Maß an Telepathie für ihre Arbeit im Zirkel.

»Was soll’s«, seufzte sie. In der Enge des Turms war es unmöglich gewesen, ihre Gefühle für Aran geheim zu halten, und auch nicht den Umstand, dass er ihr nur brüderliche Zuneigung entgegenbrachte. Eine kurze Nacht lang waren sie Liebende gewesen, an Neujahr, wenn alle gewohnten Schranken in der Turmgemeinschaft fallen. Was für Liane ein ekstatisches Erwachen gewesen war, hatte Aran lediglich als Teil des gemeinsamen heiligen Ritus des Festes betrachtet.

Coryn, durch seinen Kontakt mit Aran sensibilisiert, spürte den Schmerz von Lianes Verlangen. Wenn sie Kristlin gewesen wäre, hätte er sich verpflichtet gefühlt, mit Aran darüber zu sprechen. Doch er wusste, wenn er etwas unternähme, würde Liane fuchsteufelswild werden und sich gedemütigt fühlen. Sie war eine ausgebildete Überwacherin, eine Leronis. Wie sie Coryn schon bei mehr als einer Gelegenheit nachdrücklich klargemacht hatte, war er nicht der Hüter ihres Gewissens. Außerdem hatte ihre Bewahrerin festgestellt, dass sie die Kanäle, die ihre sexuelle Energie beförderten, nur rein zu erhalten brauchte, und die Lage würde weder für sie noch für Aran gefährlich werden. Wenn man ihr nicht einmal zutraute, solche grundlegenden Vorsichtsmaßnahmen für ihren eigenen Körper zu ergreifen, wie sollte sie dann für das Leben und die Gesundheit ihrer Mitarbeiter Verantwortung tragen können?

Es war eine gute Sache, überlegte Coryn, dass diese Unabhängigkeit bei Frauen nur im Turm gefördert wurde, sonst würden die Männer von Darkover ihre Anweisungen bei jeder Gelegenheit in Frage gestellt sehen.

Coryns Pferd zerrte an den Zügeln, begierig, in den Stall zu seinem Weizen zurückzukehren. »Also gut«, sagte er laut und ließ das Tier in einen leichten Trab verfallen. Er legte den Kopf schräg und suchte den Himmel nach seinem Falken ab, rief nach ihm. Da war er, die Riemen wehten an seinen Füßen, und er genoss träge die Aufwinde des Nachmittags. Erneut rief Coryn und bedeutete dem Falken zurückzukommen.

Mit einem Schrei, der das Blut eines Banshee zum Gefrieren gebracht hätte, legte der Vogel die Schwingen an und stürzte sich Richtung Erde.

Coryn schlug das Herz bis zum Hals. Öffne deine Schwingen!, dachte er verzweifelt. Mach schon, bevor es zu spät ist! Der Körper des Vogels füllte sein Gesichtsfeld aus, als er nun immer schneller fiel, größer und größer wurde.

NEIN!

»Coryn, was ist?«, rief Liane, von Entsetzen gepackt. »Stimmt etwas nicht?«

»Der Falke …« Er blinzelte, und plötzlich war der Himmel leer, während der Falke mit den Schwingen schlug und sich auf seinem ausgestreckten Arm niederließ. Die Klauen umschlossen seinen Handschuh. Helle, tief liegende Augen betrachteten ihn ruhig.

»Dem Falken geht es gut«, sagte Liane spöttisch. »Was ist passiert? Was spürst du?«

»Ich … ich weiß es nicht.« Nicht einmal Kieran konnte Coryns gestaltlose, düstere Albträume aufdecken, die oft nur aus einem Gefühl der Gefahr und dem Zwang bestanden, dass er nicht über sie reden dürfe.

»Wenn du es nicht weißt, müssen wir es eben herausfinden«, sagte Liane mit ihrer üblichen Pragmatik und wendete den Kopf des Pferdes zum Turm. »Wenn das wieder mein Bruder ist, ziehe ich ihm bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren! Ich schwöre, er hat nicht mehr Verstand als eine Kuh, die gegorene Äpfel gefressen hat!«

Ihr ältester Bruder hatte, als er volljährig geworden war, nicht eine, sondern zwei Töchter gezeugt. Es war eine Schande, hatte Coryn bemerkt, dass sein eigener Vater nichts davon wissen wollte, Eddards Sohn mit einer von ihnen zu vermählen. Ein Bündnis durch Heirat würde dem langen Gezänk ein Ende bereiten. Doch da Kristlin Belisar Delucido versprochen war, gab es keinen Grund für Lord Leynier, woanders nach Bündnissen zu suchen.

Sie trieben die Pferde, so rasch es die Sicherheit erlaubte, den Hügel hinab, durch einen engen, bewaldeten Pass und dann über die sanften Hänge, die zum Turm von Tramontana führten. Graue Steinmauern schimmerten in der Mittagssonne. Sie waren den ganzen Morgen auf Falkenjagd gewesen und hatten es genossen, den Tag zu vertändeln. Im Bereich des Stalles hielten sie an.

Aran stand beim Falkner und schwatzte mit ihm. Er unterbrach sich, das Gesicht vor Sorge gespannt. Bevor er etwas sagen konnte, wandte Coryn sich an den Falkner, der sich schon um die Vögel kümmerte und Lianes Damenfalken auf eine Stange im Freien setzte.

»Hat sich … gibt es Neuigkeiten?«, fragte Coryn.

»Hier ist alles ruhig.« Der Mann zog den Kopf ein und verschwand mit dem Falken, der Coryn begleitet hatte, in der Dunkelheit des großen Käfigs.

Coryn hantierte an den Riemen seines Falknerhandschuhs. Seine Finger zitterten, als er die Knoten zu lösen versuchte, bis Aran es nicht mehr mit ansehen konnte und das Durcheinander geschickt entwirrte.

»Bredu.« Aran trat näher, Kummer in den Augen mit den dunklen Wimpern, und berührte mit den Fingerspitzen Coryns freien Handrücken. »Was ist mit dir?«

Nach dem freudigen Verschmelzen am Morgen stand Coryn noch in leichtem Kontakt mit seinem Freund. »Ich habe gesehen … gespürt, wie etwas Schreckliches geschah. So etwas habe ich nicht mehr gefühlt, seit … nun, seit der Zeit, bevor ich hier eintraf.«

Ich sah den Falken abstürzen, so wie ich das Feuer sah.

Er schloss die Augen und strengte sich an, die blassblauen Flammen nicht zu sehen, die aus seinen Händen züngelten, die Arme hinauf, Richtung Herz. Ein Aufkeuchen sagte ihm, dass Aran, mit ihm durch diese federleichte körperliche Berührung vereint, die Vision des abstürzenden Falken jetzt ebenfalls gesehen hatte. Ohne nachzudenken entriss Coryn ihm die Hand und wünschte sich dann, es nicht getan zu haben. Dies war sein Freund, sein geschworener Bruder, nicht irgendein Fremder.

Die Vorfreude auf das kommende Fest hing in der Luft wie Weihrauch. Gelächter drang aus der Unterrichtsstube der Novizen, und ein Lied erklang aus der Küche. Zwei von Lianes engsten Freundinnen, ebenfalls Überwacherinnen, die jedoch in anderen Kreisen arbeiteten, drängten sie, ihr beim Schmücken der Haupthalle zu helfen. Sie blickte Coryn an, die Brauen leicht erhoben.

»Nein, geh nur«, sagte er und rang sich ein Lächeln ab. »Und vielen Dank für deine Anteilnahme.«

»Ach du!« Ganz ähnlich seiner jüngsten Schwester, schob Liane die Unterlippe vor und stolzierte mit ihren Freundinnen davon.

»Komm«, sagte Coryn in heiterem Tonfall zu Aran. »Erfreuen wir das Herz des Kochs mit diesen Waldhühnern und anschließend die Herzen unserer Schwestern mit Mittsommergeschenken.«

Auf Grund der Ausbildung in Turmdisziplin wandte Aran sich ab. Vielleicht glaubte er Coryns unbeschwerten Worten nicht, aber er hatte genug Verstand, seine Gedanken für sich zu behalten, und dafür war Coryn ihm dankbar.

Der Morgen des Mittsommers war klar und ungewöhnlich warm. Endlich regnete es einmal nicht. Coryn gähnte, als er aus seinem Zimmer nach unten ging. Der Wechsel der Jahreszeiten markierte das Ende seiner Zeit an den Relais, bei denen man immer nachts aktiver war, wenn Nichttelepathen schliefen, und er freute sich schon auf den zusätzlichen Schlaf. Er war früh genug aus dem Bett gekrochen, um Blumenkörbe für Liane und Bettina vor deren Türen zu hinterlassen und auch einen für Bronwyn, doch der Rest der Nacht war unruhig und von hektischen Träumen erfüllt gewesen.

Seine Stimmung hob sich, als er die Haupthalle betrat. Die jüngeren Frauen hatten sie mit Girlanden geschmückt. Er bemerkte Lianes herrlichen Einfall mit den neu hergestellten Kerzen, und er dachte daran, wie Margarida immer die Halle in Verdanta geschmückt hatte. Als die Morgensonne in schrägen Bahnen durch die klaren Glasfenster schien, stieg aus dem wärmer werdenden Bienenwachs ein schwacher Honiggeruch auf.

Das Frühstück hatte schon begonnen und würde noch einige Zeit dauern, denn es war Frühstück und Mittagessen in einem. Die Tafeln bogen sich unter Körben mit Honigkuchen, Gewürzbrot, Maisfladen und süßen, glasierten Brötchen, umgeben mit Tabletts voll kalten Rindfleischs, hauchdünn geschnitten und mit Senfsoße angemacht, mit Kräutern versetztem Käse, getrockneter Obstpaste, zu Ringen geformt wie kleine Berggipfel und dann mit gemahlenem »Nussschnee« bestäubt, blockweise Butter und Schalen mit Cremespeisen. Das Ale, würzig erhitzt oder gekühlt und mit Brombeergeschmack, floss reichlich, denn von niemandem wurde heute erwartet, dass er arbeitete.

An der vordersten Tafel saß Kieran mit den anderen beiden Bewahrern, Bronwyn und den älteren Technikern. Sie blieben diskret unter sich und würden sich früh am Morgen zurückziehen, um den jungen Leuten Gelegenheit zu geben, sich an dem Fest zu erfreuen.

Coryn setzte sich auf seinen üblichen Platz zwischen Aran und Marcos, einem kräftigen älteren Matrix-Mechaniker ohne rechtes Feuer, dessen Gesichtsnarben und Tieflandakzent von einer unangenehmen Vergangenheit kündeten. Ständig tadelte er die Jüngeren für dies oder jenes – das Verbreiten von Gerüchten, das Spielen von Streichen und den Mangel an Ernsthaftigkeit. Aran zog ihn immer damit auf, dass er humorlos sei, bis Marcos ihn endlich in Ruhe ließ.

Liane, die bei ihren Freundinnen an einer anderen Tafel saß, gestikulierte fröhlich, während sie die Geschichte von Durramans fabelhaftem Esel erzählte. In dieser Fassung war das Tier in einen Schneesturm geraten und hatte in der Zeltbehausung eines kurzsichtigen Mönchs Unterschlupf gesucht, der ihn, betrunken mit Mittwinterwein, für den heiligen Valentin hielt. Die Mädchen lachten schallend über die Possen des alten Tiers.

Einer der Novizen scherzte, dass es bei diesem Wetter sicher zu einem Geisterwind käme, und ein anderer meinte, dass sie zu Mittsommer keiner Hilfe bedürften, um ihren Spaß zu haben.

»Aran, hast du schon gehört?« Cathal, einer der Mechaniker, ein schlaksiger junger Mann, der entfernt mit den Aldarans verwandt war und dies durch sein feuerrotes Haar beweisen konnte, rief von der Tafel hinter ihm: »Ich meine den neuesten Skandal in Neskaya!«

»Gerüchte haben noch keinem etwas genützt.« Mit finsterer Miene schüttelte Marcos den Kopf. »Erst recht keine, die man zu Mittsommer an den Relais hört …«

»Sei doch nicht so ein vertrockneter greiser Mopp!«, sagte Aran und hob den Alekrug in Richtung des alten Mannes. »Heraus damit, Cathal!«

Coryn hob eine Braue angesichts der kränkenden Worte seines Freundes. Aber es war viel Ale geflossen, und das hatte Aran noch nie vertragen.

»Einer ihrer älteren Laranzu’in, der Bastardbruder des Königs von Ambervale, du weißt doch wer?«

Rumail! Ein Schauer jagte über Coryns Rücken.

»Ja, gab es da nicht mächtig Stunk, als sie ihn vor zwei Jahren zur Bewahrerausbildung schickten?«, sagte Aran.

»Sie haben ihn mit einer Matrix-Falle erwischt, einer unüberwachten.« Obwohl er vom vielen Ale schon ganz undeutlich sprach, verriet Cathals Stimme seinen Abscheu.

Coryn schüttelte den Kopf und wünschte, er selbst hätte nicht einmal die wenigen Schlucke Ale getrunken. Wie jeder andere Schüler in Tramontana war auch er in ungesetzlichen Matrices geschult, wie man sie erkannte und sicher damit umging, bis ein Kreis, der unter strenger Kontrolle arbeitete, sie vernichten konnte. Eine Matrix-Falle konnte auch rechtmäßig benutzt werden, wie der Schleier von Hali, der nur jenen mit echtem Comyn-Blut den Zutritt gestattete.

»Sie haben gesagt …«, Cathal senkte dramatisch seine Stimme, »er habe eine erschaffen, die auf eine bestimmte Person geeicht sei, eine, die alle Bewegungen einfriert … sogar den Schlag des menschlichen Herzens.«

»Oh, also wirklich«, schnaubte Aran. »Etwas so Aufwändiges kann man nicht lange verborgen halten. Es würde sicher auf den Schirmen einer der beiden großen Türme – Hali oder Arilinn – auftauchen. Welcher Narr würde schon versuchen, damit durchzukommen?«

»Na ja, vielleicht hatte er nicht vor, sie im Turm zu behalten. Vielleicht erschuf er sie für seinen Bruder. Es heißt, dass König Damian den Ehrgeiz hat, sich über seine Grenzen hinaus zu erweitern.«

Inzwischen hatten die Novizen am Nachbartisch ihre eigenen Gespräche eingestellt und lauschten eindringlich. Liane hielt inne, ihre Worte verklangen.

»Das stimmt«, sagte einer von Cathals jungen Freunden. »Warum sollte man den ganzen Aufwand mit der Herstellung von Haftfeuer betreiben, wenn man einfach nur eines dieser … dieser Dinger … in die Burg seines Feindes zu schleusen bräuchte? In dem Durcheinander könnte man locker einmarschieren …«

Ein Aufschrei erhob sich am Tisch.

»Was sagt er?«

» Ein Aldaran-Attentäter?«

»Neskaya erschafft Mordwaffen?«

»Das ist lächerlich!«

Cathal hob die Hände. »Ich habe nur gesagt, was ich hörte …«

»Und was du hörtest, ist das Geplapper schusseliger Waschweiber«, stieß Marcos hervor. »Siehst du, wie leicht der Ruf eines Mannes mit wenigen Worten beschädigt werden kann? Während wir hier sitzen, ist dieser Laranzu, wer immer er auch ist, innerhalb eines Herzschlags von einem untadeligen Fremden zu einem Dämon geworden, der die Absicht hat, mit Hilfe seiner Laran-Fähigkeiten einen Unschuldigen zu ermorden.«

»Wir wissen nicht einmal, ob es überhaupt eine Matrix-Falle gab«, ergänzte einer der jüngeren Männer.

»Und selbst wenn es sie gäbe«, fuhr Marcos hartnäckig fort, »was, wenn dieser Mann sie gar nicht erschaffen hat, sondern ein anderer?«

»Was, du nimmst ihn in Schutz?«, sagte Cathal.

Coryn sog angesichts der Dreistigkeit des Vorwurfs den Atem ein. Sicher, Marcos war mit seinen Fähigkeiten nicht sehr weit gekommen, aber er war der Älteste von denen, die hier am Tisch saßen. Arans Frotzelei vorhin, mit einer gewissen Humorigkeit vorgebracht, hatte Coryn noch entschuldigen können, aber Cathal war jetzt bewusst beleidigend gewesen.

»Cathal …«, begann er.

»Ich kenne diesen Nedestro Deslucido nicht«, unterbrach Marcos ihn, »und ich habe mir auch noch keine Meinung hinsichtlich seiner Schuld oder Unschuld gebildet. Aber ich gründe mein Urteil nicht auf das Geplapper von Kindern, die vom Feiertagsale betrunken sind.«

Eines der Mädchen an Lianes Tisch keuchte auf.

»Wie kannst du es wagen, so über mich zu sprechen?« Cathal lief dunkelrot an und stieß sich vom Tisch zurück. Seine Bank scharrte über den Steinboden. Seine Hände ballten sich zu Fäusten.

»Hört auf, ihr beiden!«, rief Coryn. »Wenn ihr euch hören könntet! Seht ihr nicht, was das aus uns macht?«

Auf der anderen Seite erhob sich Kieran ohne ein Geräusch seiner langen Bewahrergewänder. Im Nu herrschte im ganzen Raum Schweigen.

Kierans helle Stimme, so gelassen sie auch war, klang wie eine Glocke durch die Halle. »Schluss mit den Gerüchten! Rumail, Damian Deslucidos Nedestro-Bruder, wurde tatsächlich aus dem Turm von Neskaya entlassen.«

Coryns Herz setzte aus. Kieran war immer sehr eigen mit seiner Wortwahl. Entlassen, hatte er gesagt, nicht beurlaubt oder freigestellt.

»Aber …«, platzte Cathals junger Freund heraus, »aber was ist denn geschehen? Stimmt die Geschichte über die Matrix-Falle?«

»Es schickt sich nicht, sich über das Unglück anderer auszulassen«, sagte Kieran so ernst, wie Coryn ihn bisher selten erlebt hatte. »Rumail wurde von seinem eigenen Bewahrer einer Befragung unterzogen, und entsprechende Maßnahmen wurden ergriffen. Wer von euch behauptet, in dieser Angelegenheit etwas zu wissen, was selbst Neskaya verborgen blieb? Wer von euch schlägt jetzt vor, der Hüter seines Gewissens zu werden?«

Cathal, der noch immer stand, ließ den Kopf hängen. Coryn sah ein Glitzern wie von Nässe im schattigen Gesicht des anderen Jungen. »Für die Gerüchte bin ich verantwortlich, Kieran. Ich habe die Geschichte gestern Nacht über die Relais vernommen. Statt sie für mich zu behalten oder sie Euch privat zur Kenntnis zu bringen, habe ich …« Er lief noch dunkler an und fand keine Worte mehr.

»Es ist nicht erforderlich, auch nur ein weiteres Wort darüber zu verlieren«, sagte Kieran. »Es wird keine Diskussion mehr darüber geben.«

Cathal sank auf seine Bank. Nach einem hässlichen Augenblick des Schweigens griff Aran von seinem Platz am Nebentisch zu ihm hinüber und tippte ihm leicht auf den Rücken. Die Atmosphäre entspannte sich unter dieser Geste spontaner Großzügigkeit. Eines der Mädchen an Lianes Tisch begann mit einer weiteren Geschichte über Durramans Esel.

Ein berauschendes Gefühl der Erleichterung stieg in Coryn auf. Rumail war fort von Neskaya, fort von den Türmen! Unter solchen Umständen – regelrecht hinausgeworfen worden zu sein – würde kein anderer Turm ihn mehr aufnehmen. Coryn brauchte sich keine Sorgen mehr zu machen, dass der eine oder andere von ihnen zu einem Turm geschickt werden könnte, in dem Rumail sich aufhielt. Ihm war so schwindlig, als hätte er einen ganzen Krug würziges Ale getrunken. Der Turm war sein wahres Zuhause, und endlich war er frei.

Der Untergang von Neskaya

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