Читать книгу Der Untergang von Neskaya - Marion Zimmer Bradley - Страница 16
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Оглавление»Der alte Mann und das Mädchen sind also tot.« Damian Deslucido stand mit seinem Bruder auf dem Balkon seiner Privatgemächer. Der Herbst wich rasch dem Winter, und selbst in Ambervales geschützten Tälern blies der Wind schon mit eisiger Schärfe. Damian war zu lange müßig gewesen und hatte den barmherzigen König gespielt, und seine Untätigkeit wurmte ihn.
Rumail zog den Mantel enger um sich und antwortete nicht. Es war ein Jammer, überlegte Damian, dass sie seinem Bruder auf die Schliche gekommen waren, bevor er das Laran-Gerät hatte fertig stellen können, der das Mädchen beschützten sollte. Damian hatte nicht vorgehabt, die Lungenfäule so bald zu entfesseln, doch der alte Lord Leynier hätte Rumails Vertreibung aus Neskaya nur wieder als Entschuldigung genutzt, um alles hinauszuzögern. Damian hatte entschieden durchgreifen müssen. Sie hatten die Seuche unter hohen Kosten und Bestechungsgeldern, damit nichts durchsickerte, von einem nicht offiziellen Turm in der Nähe von Temora erworben, und es war nicht Rumails Schuld, dass sie außer Kontrolle geraten war. Aber es änderte sich nichts am Ergebnis – Verdanta in Trümmern, reif für die Übernahme.
Eigentlich war es ein grandioser Plan gewesen. Wenn der Vater und die Brüder durch die Lungenfäule gestorben oder wenigstens so weit geschwächt gewesen wären, dass sie keine wirksame Verteidigung mehr hätten aufbringen können, wären die Armeen von Ambervale siegreich in Verdanta einmarschiert. Das Alter des Mädchens oder seine Wünsche hätten keine Rolle mehr gespielt. Die Hinhaltetaktik und das Versöhnlichstimmen des Balgs und seines senilen Erzeugers hätten ein Ende gehabt. Durch die Rechtmäßigkeit der Ehe hätte Verdanta sofort ihnen gehört, nicht erst in vier oder fünf Jahren, worauf dieser törichte Lord Leynier die ganze Zeit gesetzt hatte.
Als Junge hatte Damian sich einmal das Lieblingspferd seines Vaters ausgeliehen, einen riesigen, flachsfarbenen, unbezähmbaren Hengst, nur um zu sehen, wie weit und wie schnell er auf ihm reiten konnte. Das Pferd war durch Felder geprescht, die im Glanz des jungen Weizens und der jungen Gerste standen, und die Hufe hatten große Erdklumpen aufgewirbelt. Damian erinnerte sich jetzt noch an den Wind, der in seinen Ohren gepfiffen, an die raue Mähne, die sein Gesicht gepeitscht hatte. Bis in die Berge waren sie geprescht, wie besessen.
Die Kraft des Pferdes schien grenzenlos zu sein. Jeder umgestürzte Baumstamm, jeder Graben, Steinhügel und Flusslauf schien die Wildheit des Tieres noch zu erhöhen. Schaum spritzte vorn auf Damians Hemd. Auf einer Hügelkuppe brachen sie durchs Dickicht und standen für einen Moment wie erstarrt vor einem langen, mit Felsen übersäten Abhang. Damian packte die Zügel fester. Seine Beine zitterten vor Erregung. Der Abhang war gefährlich steil, und der felsige Untergrund bot nur ungenügenden Halt.
Aber der Hengst duckte den massigen Schädel und preschte weiter. Er jagte die Hügelkuppe hinunter und stürmte hangabwärts, als wären ihm alle Dämonen aus Zandrus neun Höllen auf den Fersen. Einen Schwindel erregenden Augenblick lang schwebte das Pferd in der Luft, so steil war der Hang. Dann landete es mit einem Stoß, der Damian durch Mark und Bein fuhr. Er wurde fast aus dem Sattel gerissen. Der Knauf grub sich in seinen Magen, als er über den verschwitzten, gekrümmten Nacken nach vorn ruckte. Das Pferd schlitterte, stolperte und hechtete weiter. Das Metall seiner Hufeisen schlug Funken aus dem Gestein.
Damian blieb nichts anderes übrig, als durchzuhalten. Die Zügel waren nutzlos geworden, denn nichts hätte dieser verrückten, taumelnden Jagd hangabwärts Einhalt gebieten können. Er hatte nicht einmal die Zeit zu beten. Die Finger in die Pferdemähne gekrallt und das Rauschen von Blut in den Schläfen, spürte er, wie die heiße, rohe Gewalt des Tiers auf ihn überging.
Ein unheimlicher Frieden war über ihn gekommen, einer, an den er sich bis zum heutigen Tag erinnerte und dem er immer noch nachtrauerte. Sein Körper hatte sich in perfekter Harmonie mit dem des Hengstes bewegt. Ohne nachzudenken hatte er sich jeder Landung, jedem Taumeln und hoch fliegenden Sprung angepasst. Er hatte nicht mehr an einen Sturz und seinen Tod gedacht, oder auch nur daran, endlich den Fuß des Abhangs zu erreichen – nur an die unbändige Freude der Bewegung. Nie zuvor – und seitdem äußerst selten – hatte er sich so inbrünstig mit dem Leben verbunden gefühlt. Jede Faser seines Seins hatte vor Genuss vibriert.
Das war das Geheimnis von allem, im Krieg und in der Liebe ebenso wie wenn man ein durchgegangenes Pferd ritt: jedes Hindernis so zu nehmen, wie es gerade kam. Im Augenblick verwurzelt zu sein, nicht in der unveränderlichen Vergangenheit oder einer ungewissen Zukunft. Wenn seine Pläne für eine unblutige Eroberung Verdantas scheiterten, dann würde er eine andere Möglichkeit finden. Verdanta war der Schlüssel für den umgebenden Gebirgszug der Hellers und das Tor nach Acosta – Acosta, das er eingenommen haben musste, bevor alle Länder, die daran grenzten, in die tödlichen Fänge der verfluchten Hastur gerieten.
Aber Krieg bedurfte der Planung, des sorgfältigen Abwägens von Stärken und Verbindlichkeiten. Rumail war jetzt eine Gewähr für beides.
Wie aufs Stichwort betraten mehrere Personen das Zimmer mit dem Balkon, auf dem er und Rumail standen.
»Ah, mein Sohn und mein erfahrener General«, sagte Damian in heiterem Tonfall. »Ich bin gespannt, welche Eingebungen sie für unsere gegenwärtige Situation haben.«
Sie zogen sich Stühle an einen runden Tisch aus polierter Goldkiefer, auf dem Gestelle mit aufgerollten Landkarten und Kästen voller Rechnungsbücher standen. Ein Diener stellte Kelche mit dünnem Wein ab und verschwand so lautlos wieder, wie er gekommen war.
»Wie lautet Eure Einschätzung von Verdanta?«, fragte Damian den Anführer seiner Generäle, einen Mann, der früher so blond gewesen war, dass Gerüchte aufgekommen waren, er sei von Geburt Trockenstädter. Die Jahre, die Witterung und unzählige Schlachten hatten sein Haar grau gefärbt und sein Gesicht rissig werden lassen wie gebleichtes Leder. Seine Männer nannten ihn den Gelben Wolf. Damian, dem es gefiel, einen Wolf in seinen Diensten zu haben, unternahm nichts dagegen.
»Es herrscht weiter Chaos«, antwortete der Gelbe Wolf. »Der verderbliche Einfluss der Seuche hat sich gelegt, doch von Ordnung sind sie noch weit entfernt. Meine Späher konnten bis in Sichtweite der Burg reiten, ohne zur Rede gestellt zu werden. Sie haben gesehen, wie die Ernte auf den Feldern verrottet, wie die Bäume sich unter der Last des ungepflückten Obstes biegen, wie das Vieh hungrig in den Pferchen schreit. Dieser Eddard Leynier könnte mit der Zeit ein fähiger Herrscher werden, denn er scheint beliebt zu sein und sich zumindest mit der Bekämpfung von Waldbränden auszukennen. Nur jemand, der als Anführer ein wahres Genie ist …«, ein Blick aus seinen hellen Augen traf Damian, »… und dem Aldones’ Glück zur Seite steht, könnte das Volk unter diesen Bedingungen einen.«
»Wenn wir jetzt gegen Verdanta zögen, könnten wir es immer noch mit minimalen Verlusten einnehmen«, sagte Belisar. »Wir müssten nur zuschlagen, bevor sie ihre Verteidigung wieder aufgebaut haben.«
Damian blickte seinen Sohn und Erben stolz an. Der Junge war vielleicht impulsiv, aber er hatte einen klaren Verstand, wenn er beschloss, ihn zu benutzen. Die Jahre hatten ihm ein gerüttelt Maß an Einsicht beschert und seiner knabenhaften Weichheit Abhilfe geschaffen. Auch wenn die Sache mit der Lungenfäule nicht so verlaufen war wie ursprünglich beabsichtigt – mit etwas Glück, an das der Gelbe Wolf felsenfest glaubte, konnten sich sogar noch bessere Gelegenheiten ergeben. Belisar mit seiner raschen Auffassungsgabe und seiner markanten, männlichen Schönheit wäre an diese abgeschmackte kleine Landpomeranze ohnehin vergeudet gewesen. Nun stand es ihm frei, woanders eine viel vorteilhaftere Wahl zu treffen.
»Die Eroberung Verdantas ist nicht das eigentliche Problem, Euer Hoheit«, erklärte der Gelbe Wolf ohne eine Spur von Besserwisserei. Er deutete auf eine auseinander gerollte Landkarte. »Das besteht eher in der Möglichkeit, dass ihre Nachbarn, die Storns von High Kinnally, die Gunst des Augenblicks für sich nutzen.«
Rumail, der an diesem Abend wenig gesprochen hatte, meldete sich zu Wort. »Zwischen den beiden Familien herrscht wenig Liebe. Ihr werdet Euch erinnern, dass High Kinnally, als ich Verdanta besuchte, um die Töchter auf ihr Laran zu untersuchen, ihnen gerade seine Hilfe bei einem Waldbrand verweigert hatte und nicht einmal bereit gewesen war, ihnen freies Geleit nach Tramontana zu gewähren. Wie bei so vielen dieser armseligen Bergfehden reicht ihr Streit länger zurück als die Erinnerung aller Beteiligten, und jede neue Generation hat die Feindschaft wieder aufleben lassen. Ich habe noch nie gehört, dass jemand versucht hätte, diese Kluft zu überwinden, oder dass von einer Seite der Wunsch nach Frieden laut geworden wäre.« Er blickte angewidert drein. »Wenn man es ihnen erlaubte, würden sie den geringsten Anlass nutzen, um einander mit Haftfeuer oder Schlimmerem zu bombardieren.«
»Unterdessen sterben Menschen, und ihre Familien verhungern aus einem Grund, an den sich niemand mehr erinnert«, sagte Damian. »Es wird für alle ungleich besser sein, wenn sie unter einem einzigen König vereint sind. Keine ständigen Rachefeldzüge mehr, keine unnötigen Hungersnöte.«
»Dann halten wir uns also zurück und lassen zu, dass High Kinnally über Verdanta herfällt, damit sie sich gegenseitig aufreiben und sich unserer größeren Übermacht desto rascher beugen müssen?«, warf Belisar ein, erpicht darauf, zum Thema zurückzukehren.
Damian schüttelte die Vision eines ruhmreich geeinten Darkover ab und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ein interessanter Gedanke. Sag mir, was damit nicht stimmt.«
»Sire?«
»Jeder Plan, egal wie geschickt und gut durchdacht, hat seine Fallstricke«, sagte Damian. »Da du mit deinem so prompt bei der Hand warst, solltest du uns jetzt vielleicht auch alle Punkte nennen, die schief gehen könnten. Sozusagen als Übung.«
»Nun …« Belisar schluckte schwer. »Wir können am Ende zwei Feinde haben, nicht nur einen. High Kinnally und Verdanta könnten ihre Streitigkeiten begraben und sich gegen uns als ihren gemeinsamen Feind wenden.«
Damian nickte. Belisar hatte vielleicht eine etwas dramatische Ader, aber er besaß Verstand. Tatsächlich schien er damit sogar besser zu fahren, als wenn er sich seine Worte vorher überlegte.
»Und«, fuhr der Junge fort, »Verdanta könnte auch zu schnell fallen. Dann besäße High Kinally noch all seine Ressourcen und die Verdantas obendrein. Wir bekämen es mit einem geeinten Feind zu tun, der bereits auf den Kampf vorbereitet ist. Und auf seinem eigenen Gebiet kämpft. Ach, das sagte ich ja schon.«
»Unsere Streitkräfte könnten auch zu weit auseinander gezogen werden«, ergänzte Damian. »Das ist fremdes Gelände – Gebirgsland –, das beide bis ins Detail kennen. Sie sind besser ausgebildet und ausgerüstet, um darin zu kämpfen, als unsere Armeen. Wir hätten lange Versorgungswege und den Nachteil des unbekannten Terrains.«
»Aber jede kritische Situation bietet auch eine Chance«, warf der Gelbe Wolf ein. »Unser Plan sah doch gar nicht vor, High Kinnally anzugreifen, jedenfalls noch nicht. Es liegt zu weit entfernt, um gut regierbar zu sein.« Zu weit von Acosta entfernt, meinte er. »Wir hätten die gleichen Schwierigkeiten, es zu halten, wie bei Verdanta und könnten es uns nicht leisten, unsere eigenen Armeen dadurch zu schwächen, dass wir eine Besatzungsmacht zurücklassen, die groß genug ist, um unablässig Aufstände niederzuringen. Wir sollten Familienangehörige als Geiseln halten, um uns der Treue des jeweiligen Lords zu versichern, oder wir könnten einen der Lords – Leynier oder Storn – als Herrscher über beide Länder einsetzen.«
»Oh!« Damian gestattete sich ein dunkles Auflachen. »Das würde ihnen gefallen.«
»Sie würden ihre Wut aufeinander richten und nicht in einen Aufstand gegen uns investieren«, erwiderte der General.
Damian beugte sich über den Tisch und studierte die Landkarte, während er laut nachdachte. »Wir müssen Verdanta einnehmen, so oder so. Wir können es nicht halten, ohne uns High Kinnallys Hilfe zu versichern. Ob nun durch ein Bündnis oder durch Eroberung, wir müssen uns auch mit den Storns befassen.« Er blickte auf. »Ich möchte, dass drei Pläne ausgearbeitet werden: Erstens, wir kümmern uns zunächst um High Kinnally und gehen dann zu Verdanta über; zweitens, wir ziehen erst gegen Verdanta und hoffen auf einen leichten Sieg, um dann zu sehen, ob Kinnally sich zurückzieht oder wir sie auch unters Joch zwingen müssen; und drittens, wir folgen dem Vorschlag meines Sohnes und hetzen die beiden Länder aufeinander, sodass wir es nur mit dem geschwächten Sieger zu tun bekommen. Ich möchte aber unbedingt Ausweichpläne sehen, für den Fall, dass all diese Vorhaben scheitern.«
Als das Treffen beendet wurde und der Raum sich leerte, blieben Belisar und Rumail zurück.
Damian seufzte und lehrte seinen Kelch auf einen einzigen Zug. Der leicht saure Geschmack des dünnen Weins reizte seine Zunge, und er dürstete nach Stärkerem. Belisar betrachtete noch immer die Karte und zog mit dem Finger nachdenklich Verdantas Grenzen nach.
»Sie werden sich beugen, beide«, sagte Damian. »Alles andere sind nur Details. Du ärgerst dich doch nicht über den Verlust deiner versprochenen Braut?«
»Nein, warum sollte ich?« Belisar zuckte mit den Achseln. »Ich kannte von ihr ohnehin nur ein schlecht getroffenes Porträt. Sie sah aus wie jedes andere Mädchen, das noch mit Puppen spielt. Ich habe immer gewusst, dass ich einmal für Ambervales Wohl heiraten muss, aber ich hatte auf ein geeigneteres Weib gehofft. Wenn Verdanta uns gehören kann, ohne dass ich das Bett mit einem verwöhnten Balg teilen muss, umso besser. Wie ich höre, ist eine der Storn-Töchter im heiratsfähigen Alter …«
»Eine solche Verbindung wäre jetzt nicht nur überflüssig, sondern auch unter deiner Würde«, schnitt Damian ihm das Wort ab. »Wir brauchen mit diesen Bergbauern nicht mehr zu schachern. Acosta ist der Schlüssel, und dort wirst du deine Braut finden. Ich hatte eigentlich nicht vor, so bald schon gegen sie zu ziehen, aber die jüngsten Ereignisse …« Er meinte Rumails Abreise aus Neskaya und die vorzeitige Entfesselung der Lungenfäule. »… haben den zeitlichen Ablauf verändert. Wenn wir Verdanta friedlich in Besitz genommen haben, werde ich mir alles nehmen, was die Götter mir als Geschenk darreichen.«
Belisar schaute verblüfft drein. »Aber Acostas Erbe ist ein Mann und frisch verheiratet. Mit einer Hastur-Tochter, glaube ich.«
»Du bist gut informiert«, sagte Damian. »Aber vielleicht ist dir nicht klar, dass sie auf Grund ihres höheren Ranges nach seinem Tod das Erbe antritt. Als Herrscherin kommt sie natürlich nicht in Frage. Bis auf diese dumpfbackigen Sandalenträgerinnen in Aillard kann keine Frau herrschen. Aber ihr nächster Gemahl schon.«
Langsam breitete sich ein Lächeln auf Belisars Gesicht aus. »Statt eines verzogenen Balgs bietest du mir also eine junge – erfahrene – Witwe an. Ist sie denn auch schön?«
»Sie ist vermutlich eine Furie, wie alle Hastur-Frauen«, sagte Rumail mit hämischem Grinsen. »Aber sie wird dir Söhne mit Laran-Gaben gebären. Dessen kannst du dir sicher sein.«
»Mindestens ein Dutzend!« Belisar lachte und warf dabei den Kopf zurück.
»Dann hinfort mit dir!«, sagte Damian zu seinem Sohn und lachte ebenfalls. »Setz dich mit meinen Offizieren zusammen und sieh zu, dass du aus ihren Planungen etwas lernst. Dein Onkel und ich haben noch anderes zu besprechen.«
In der Stille, die auf Belisars Abgang folgte, musterte Damian seinen Halbbruder. Rumails Laune zeigte sich in jeder tief eingegrabenen Falte seines Gesichts, in den hoch gezogenen Schultern und seinem eisigen Schweigen. Bis auf seine Bemerkung über das Hastur-Mädchen hatte er der Diskussion anscheinend wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wenn Rumail ihm von Nutzen sein sollte, konnte das so nicht weitergehen mit seinem Verdruss und seinem Schmollen. Sicher würde Rumail seine Verbannung aus dem Turm schließlich als Segen betrachten. Er war diesen Sandalenträgerinnen und ihren esoterischen Mythen weit überlegen. Aber der Zeitplan für die Eroberung hatte sich beschleunigt, und Damian konnte es sich nicht leisten, noch länger zu warten.
»Egal für welchen Plan wir uns entscheiden, wir werden weitsichtig Vorgehen müssen«, sagte Damian. Er betonte das Wort auf eine Weise, die deutlich machte, dass er damit Spionage meinte. »Ein Team von Wächtervögeln, die über dem Lager und den Nachschubverbindungen des Feindes kreisen, würde uns einen wertvollen Vorteil verschaffen. Solche Informationen könnten vielen Soldaten das Leben retten.«
»Ihr solltet wissen, dass ich mit Wächtervögeln keine Verbindung aufnehmen kann«, sagte Rumail. »Das ist keine Frage der Ausbildung, keine Fähigkeit, die jeder mit Laran erlernen kann. Man muss einen gewissen empathischen Kontakt mit den Vögeln haben, der mir abgeht.«
»Seit Ihr nach Hause gekommen seid, heißt es nur noch: Ich kann dies nicht, ich kann das nicht!«, fuhr Damian ihn an. »Seid Ihr auf einmal ein Krüppel geworden? Besitzt Ihr keine eigenen Kräfte? Existiert Ihr lediglich als Wurmfortsatz Eures kostbaren Turms?«
Rumail errötete bei diesem Vorwurf. »Ich bin immer noch der, der ich war, ein Bewahrer in allem bis auf den Namen! Aber in der Isolation kann ich nicht arbeiten. Abgeschnitten von einem Kreis, von Matrix-Schirmen, von Überwachern und Technikern, die mich unterstützen …«
»Und warum muss das so sein?« Damian trieb einen Keil in die Bresche, die sich aufgetan hatte.
»Das wisst Ihr genauso gut wie ich! All diese Narren in Neskaya haben sich nur für ihre weichlichen, geistlosen Traditionen interessiert! Regeln und noch mehr Regeln, ohne Raum für Visionen oder Kreativität! Ich habe ihnen neue Wege eröffnet – und sie vertrieben mich. Undankbare – nach allem, was ich für sie getan habe! Sie haben die Augen vor meinen Entdeckungen verschlossen, meine Neuerungen zurückgewiesen und sich geweigert mich anzuhören. Wenn etwas nicht von ihren Großeltern stammt, interessiert es sie nicht!«
Er begriff nicht. Noch immer nicht. Damian fuhr fort: »Sind denn alle Telepathen von Darkover auf diese Türme beschränkt?«
»Natürlich nicht. Es gibt Leronis, die allein arbeiten, in vornehmen Haushalten oder mit ihren Lords auf Feldzügen. Es gibt sogar welche mit nicht ausgebildetem Laran, die als Pferdehändler oder Hebammen auf dem Land tätig sind und nicht einmal ahnen, was sie da eigentlich tun. Dieses ›Nest‹ dort unten in der Nähe von Temora wird Lungenfäule-Sporen und alles Mögliche andere verkaufen, solange für sie der Preis stimmt. Aber einst hatte ich …« Rumails Stimme verklang, als das Begreifen dämmerte. »Schlagt Ihr etwa vor, mein lieber Bruder, dass ich meinen eigenen Kreis aufbauen und ausbilden soll?«
»Der nach Euren Gesetzen lebt und arbeitet, nicht nach denen eines Turms. Warum nicht?«
»Ich würde Personen mit der richtigen Gesinnung aussuchen müssen.« Ein wacher Funke erhellte Rumails dunkle Augen. »Ja, es gibt noch andere verwandten Geistes … aber nicht genug, um einen Kreis zu bilden, der mehr als ein paar Leuchtkugeln erschaffen könnte. Ich müsste meine eigenen Leute ausbilden … dieser Junge aus Verdanta zum Beispiel, er ist sehr talentiert …«
»Wie lange würde es dauern, bis Ihr einen Kreis habt, der sagen wir, Haftfeuer herstellen kann?«
»Oh!« Rumail schürzte die Lippen. »Wenn sie schon Erfahrung im Umgang mit einer Matrix hätten, und sei’s durch den Unterricht einer Haus-Leronis, und wenn sie im richtigen Alter wären … vielleicht fünf Jahre, bevor sich ihre ganze Kraft entfaltet. Das heißt, wenn ich einen voll ausgebildeten Matrix-Techniker verpflichten kann und einen oder zwei Mechaniker …«
»Ich muss einen Krieg führen, und mir fehlt der Luxus der Zeit«, sagte Damian bedauernd. »Ich kann nicht jahrelang warten, bis Ihr einen Haufen Jugendlicher ausgebildet habt.«
»Ihr bietet mir einen eigenen Turm und raubt ihn mir sogleich wieder.« Rumails Miene drückte unbändigen Zorn aus. »Welches Spiel treibt Ihr eigentlich mit mir? Ich bin ein Laranzu, der in einem Turm ausgebildet wurde, nicht irgendein Vasall, bei dem Ihr Euer Versprechen brechen könnt, sobald Euch danach ist. Glaubt Ihr, ich wüsste es nicht, wenn Ihr mich belügt? Wenn Ihr nicht mein Bruder und Lehnsherr wärt …«
Damian hob die Hand. »Ihr sollt Euren Turm haben, und Ihr werdet damit Großes leisten, davon bin ich überzeugt. Die Frage ist nur wann. Ich brauche die Waffen und die Macht, die mir nur ein schon bestehender Kreis verschaffen kann.« Wieder schüttelte er den Kopf. »Ich kann nicht warten.«
Rumail nahm eine würdevolle Haltung an. »Wie stets stelle ich mich mit meinen Fähigkeiten in den Dienst Eurer großen Sache.«
Die Worte waren freundlich gewählt, doch Damian glaubte den Hauch einer tieferen Bedeutung herauszuhören, als verpflichte Rumail sich damit einer größeren Vision. Aber das war Unfug! Rumail besaß keinen politischen Ehrgeiz und auch keine Erfahrung in der Führung einer Armee. Er hatte nie auch nur das geringste Interesse daran gezeigt, ein Königreich zu regieren.
»Ich werde alle Ressourcen nutzen müssen, die mir zur Verfügung stehen«, sagte Damian und schüttelte das eigenartige Gefühl ab, das ihn befallen hatte. »Temora würde mir mit Freuden Luftwagen ausleihen und sogar Haftfeuer für mich herstellen, aber zu einem Schwindel erregenden Preis und ohne Gewähr, dass sie mir auch beim nächsten Mal, wenn ich ihrer Hilfe bedarf, mit Rat und Tat zur Seite stehen.«
Rumail wandte sich ab, und ein nachdenklicher Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Vielleicht ist das gar nicht nötig. Ich könnte die Herrschaft über einen schon bestehenden Turm antreten.«
»Ich … ich kann dir nicht folgen«, sagte Damian und blinzelte erstaunt.
»Ich spreche von Treuebündnissen und diesen uralten Traditionen, auf die die Türme so stolz sind. Vor dem Frieden des Allart Hastur befand sich Neskaya jahrhundertelang in der Hand der Ridenows. Nun gehorchen sie den Hastur, sind jedoch so weit entfernt, dass sie von ihnen noch nie um Kriegsgerät gebeten wurden. Aber Tramontana … Tramontanas gesetzliche Verpflichtungen waren, soweit ich weiß, lange Zeit unklar. Angeblich sollen sie einmal zu Aldaran gehört haben. Und in den Tagen des Bewahrers Iian-Mikhail unterhielten sie starke Bande zu Storn.«
»Storn von Storn oder Storn von High Kinnally?« Wenn Tramontana zum Schutz der Letzteren in den Kampf eintrat, konnte das zu unerwarteten Schwierigkeiten führen.
»Ich weiß nicht genau, das ist lange her, und es könnte durchaus sein, dass es darüber keine Unterlagen mehr gibt. Aber wir – ich meine, Ambervale und Linn – haben eigentlich den gleichen Anspruch auf den Turm. Natürlich können wir Tramontana aus jedem gegenwärtigen Konflikt heraushalten, aber vielleicht können wir uns später auch ihrer Treue versichern. Es dürfte nur schwierig werden, Tramontana zu überzeugen, dass sie überhaupt zur Treue verpflichtet sind. Kieran Aillard, der älteste Bewahrer dort, ist berüchtigt dafür, dass er für die Neutralität des Turms eintritt.« Rumail schnaubte verächtlich.
»Das kann für uns von Vorteil oder von Nachteil sein«, sagte Damian. Nachdem er eine Weile überlegt hatte, nahm der Plan in groben Zügen Gestalt an. Sie würden in den Burgen von Ambervale und Linn nach Unterlagen früherer Verpflichtungen des Turms von Tramontana gegenüber den Lords suchen. Gleichzeitig gestattete er Rumail, mit allen unzufriedenen Turmarbeitern Verbindung aufzunehmen, die er kannte, und diskrete Erkundigungen über in Frage kommende Jugendliche einzuholen. Auf lange Sicht würde es besser sein, einen Turm von Ambervale zu haben, dessen Arbeiter eigens ausgebildet und der Deslucido-Linie ergeben waren. Das würde schließlich nur zu ihrem Vorteil sein.
Einstweilen akzeptierte Damian mit einem Seufzer, dass er weiter die Gruppe der Abtrünnigen in Temora bezahlen musste. Seine Schatzkammer war noch immer fast leer, ausgelaugt von den horrenden Summen für die Lungenfäule und die Luftwagen sowie den ständigen Ausgaben für die Aufrechterhaltung einer Armee. Aber vielleicht würde sich Verrat als ebenso mächtige Waffe erweisen wie Haftfeuer.