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Coryn erwachte aus Träumen, in denen er schwankte, schaukelte und immer wieder durchgerüttelt wurde. Das Erwachen kam nur allmählich, da er nach jedem neuerlichen Aufschrecken wieder in unruhigen Schlaf versank. Endlich zwang ihn ein durchdringender Schmerz im Magen und in der Blase, vollständig wach zu werden.

Er lag in einem Bett, aber es war nicht sein Bett, nicht sein Zimmer; er hatte nicht die geringste Ahnung, wo er war oder wie es ihn hierher verschlagen hatte. Die Schwäche in seinem Körper, als er sich aufzusetzen versuchte, erinnerte ihn unangenehm an den Morgen, nachdem Dom Rumail ihn auf sein Laran hin untersucht hatte. Dieser Raum war ihm nicht vertraut, war viel kleiner als sein eigener und mit Bahnen aus gewebtem weißem Linex verhangen.

Zu den sonstigen Möbeln gehörten ein Hocker ohne Rücklehne, eine kleine Truhe am Bettende, ein leeres Bücherregal im Kopfbrett … und ein Nachtgeschirr in der Ecke gegenüber. Er taumelte auf wackligen Beinen dorthin. Wenige Minuten später kehrte er zum Bett zurück, auf dem er sich schwer atmend und schweißnass wieder ausstreckte.

Hinter dem weißen Vorhang erklang ein leises Klopfen. Er lag still, die Decken unters Kinn gezogen, und wartete darauf, dass sein Herz zu hämmern aufhörte. Er hatte nicht genug Kraft, um noch einmal aufzustehen, aber das Letzte, was er wollte, war, hier hilflos zu liegen, während ein Fremder sich seinem Bett näherte. Wer immer es war, vielleicht hatte er sich geirrt und ging wieder. Das Klopfen ertönte erneut.

Nach einem langen Augenblick hörte – nein, spürte – er Schritte, die sich draußen durch einen Korridor entfernten. Coryn versank wieder in Schlaf.

Und erwachte jäh, als eine Tür aufgerissen wurde. Der Vorhang wurde zur Seite gezogen und zeigte einen alten Mann in einem langen, locker gegürteten weißen Gewand und ein Mädchen etwa in seinem Alter, das ein Tablett mit abgedeckten Tellern trug.

»Ich bin Gareth, der Überwacher des Zweiten Kreises.« Der Mann klang freundlich, bot ihm jedoch nicht die Hand. »Und deine Dienstmagd hier ist deine Mitschülerin Liane. Nun denn, junger Coryn. Bist du hungrig genug für ein Frühstück?«

Coryns Magen knurrte beim Geruch der Speisen; er glaubte, eine honigsüße Frucht und frisch gebackenes Brot mit einer Spur Kardamom wahrzunehmen. Mit einem Hauch Selbstironie ging ihm durch den Sinn, dass er sich an solche Situationen allmählich gewöhnte.

»Nein, bitte setz dich nicht auf. Es wird nicht lange dauern.« Der Mann nahm neben ihm auf dem Bett Platz, ohne ihn zu berühren. Stattdessen strich er mit den Händen in geringem Abstand über Coryns Körper, folgte den Konturen. Über seinen geschlossenen Augen bildeten sich zwischen den Brauen Konzentrationsfalten. Sein Haar war entlang der Rundung des Hinterkopfes geschnitten, wie kein Comyn-Lord oder Krieger es jemals tragen würde. Er schüttelte leicht den Kopf.

»Nun iss, so viel du kannst, dann kannst du dich später am Tag oder morgen zu den anderen gesellen.« Mit diesen Worten erhob Gareth sich und verließ das Zimmer. Er ließ das Mädchen zurück, das unbeholfen dastand und noch immer das Tablett hielt.

Als sie sich nach einer Stelle umsah, an der sie es absetzen konnte, stützte Coryn sich auf einen Ellbogen und betrachtete sie eingehend. Strohfarbenes Haar mit einem Stich ins Rötliche hing in ordentlichen Zöpfen bis zu ihrer schlanken Taille hinab. Dicke, farblose Wimpern säumten verblüffend grüne Augen. Sommersprossen bedeckten ihre Wangen. Sie trug ein schlichtes Gewand aus frühlingsgrüner Wolle. Als sie lächelte, bildeten sich winzige Fältchen in ihren Augenwinkeln.

»Hier«, sagte Coryn und machte ihr auf dem Bett Platz. Sie stellte das Tablett ab und setzte sich dahinter, die Beine angezogen. Er entfernte die Abdeckungen und entdeckte ein kleines Festmahl – eine Honigfrucht, wie er vermutet hatte, geschnittenes Brot, weißer und gelber Käse, halbrunde Törtchen mit Hackfleischfüllung, ein Krug mit Wasser und einer mit Apfelsaft.

»Das kann ich nicht alles essen!« Er verzog das Gesicht. »Möchtest du etwas davon?«

»Ich bin immer hungrig. Auster – einer meiner Lehrer – sagt, das liege daran, dass ich so schnell wachse. Das Essen ist hier wirklich gut. Jede Menge Fleischtörtchen und keine Hafergrütze zum Frühstück!» Ihr Geplapper erinnerte ihn an Kristlin.

Coryn belegte eine dicke Scheibe Nussbrot mit hellgelbem Käse und trank dazu einen Becher Apfelsaft. Auf sein Drängen hin nahm sich das Mädchen eines der Fleischtörtchen. Sie aß schnell und sauber, ohne Krümel zu machen.

»Du bist furchtbar nett zu mir«, sagte sie, »wenn man bedenkt, wie gemein ich zu dir war.«

Coryn schluckte einen Bissen der Honigfrucht hinunter und blinzelte sie an. »Tut mir Leid, ich erinnere mich nicht, dir schon einmal begegnet zu sein. Ich bin … krank gewesen, schätze ich.«

»Kann man wohl sagen, dass du krank warst. Schwellenkrank. Auster meint, er habe noch nie so einen schlimmen Fall gesehen, jedenfalls keinen lebenden. Oh!« Eine Hand flog zum Mund. »Das war nicht sehr nett von mir, oder? Ich sage immer gleich, was mir in den Sinn kommt, ob ich es so meine oder nicht. Aber es stimmt, du warst wirklich sehr krank, hattest Krämpfe und alles. Du hast mir eine Riesenangst eingejagt. Ich bin froh, dass du nicht sterben musst, dann würde ich mich nämlich schrecklich fühlen. Marisela – sie ist die Hausherrin – sagt, ich müsse Taktgefühl und noch etwas lernen, ich weiß nicht mehr was.«

Jetzt klang das Mädchen so hundertprozentig wie Kristlin, dass Coryn in lautes Lachen ausbrach. »Tut mir auch Leid«, gelang es ihm endlich zu sagen. »Aber ich weiß wirklich nicht, wer du bist. Sollte ich das denn?«

Grelles Rot schoss dem Mädchen in die Wangen. Sie blickte auf ihre Hände, presste die Finger aneinander. »Ja, die Nacht, in der du … wir … also, Lady Bronwyn begleitete mich hierher, und unsere Wachen entdeckten euer Lager.« Sie sah ihn an, die grünen Augen sehr ernst. »Du warst krank und wolltest einfach nicht stillhalten, als Lady Bronwyn dir zu helfen versuchte. Ich fürchte, ich habe mich sehr schlecht benommen.«

Die Stimme, die gereizte Kinderstimme in der Dunkelheit. »Oh. Ich hatte nicht gerade … ich meine, mir stand der Sinn damals nach etwas anderem.«

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, verschwand rasch wieder. »Du bist nett, weißt du das? Aber ich hatte kein Recht, so grob zu sein, nur weil du ein Leynier bist und dich auf unserem Land befandest. Alain – der Hauptmann der Wache – hielt dich und deinen Diener für Spione. Bei den Leuten von Verdanta weiß man nie.«

»Liane – Liane Storn

»Ja, aber wir dürfen unsere Familiennamen hier nicht benutzen. Seit wir eingetroffen sind, bekomme ich jeden Tag eingetrichtert, dass so etwas nicht zählt, nur wir selbst – ›unser Laran, unser Charakter, unsere Disziplin, unsere Arbeit‹. Und immer so weiter.« Sie rümpfte die Nase, sodass die Sommersprossen deutlicher wurden. »Klingt nicht gerade nach viel Spaß, was? Aber der Unterricht ist interessant. Du wirst ja selber sehen, wenn du wieder aufstehen kannst.«

»Liane Storn?«, wiederholte er und fühlte sich ganz wirr im Kopf. Dieses Mädchen gehörte zu dem verbrecherischen Gesindel, das während des Feuers seine Hilfe verweigert und Petro die Weiterreise nach Tramontana untersagt hatte! Er dachte an den Tag verzweifelter, knochenzermürbender Arbeit, an den würgenden Rauch, den Verlust so vieler Nussbäume und den Hunger in den kommenden Wintern. Wie hatten sie sich einfach zurücklehnen und das Feuer brennen lassen können? Was für Monster waren das eigentlich?

»Nein, nur einfach Liane …«

»Storn?« Und doch sah sie nicht wie ein Monster aus, auch wenn sie zweifellos ein wenig hochnäsig war …

»Wir sollten nicht mit unseren Familien prahlen«, erwiderte sie schroff und sprang auf. »Und wenn du nicht aufhörst, auf diesem Namen herumzureiten, komme ich nicht wieder und besuche dich morgen nicht!« Sie nahm das Tablett, warf den Kopf mit ihren flachsroten Zöpfen nach hinten und begab sich zur Tür.

»Gut so!«, brach es aus Coryn hervor. »Ich will nie wieder einen aus diesem Storn-Nest sehen, selbstgerecht, wie ihr seid, mit so viel Grips wie ein Cralmac!«

Sie fuhr herum, die Wangen auf Grund der Kränkung gerötet. »Du! Du Nichts aus dem Nirgends! Du warst nichts weiter als eine halb ersoffene Ratte, als wir dich retteten! Wie kannst du es wagen, so über meine Familie zu sprechen!«

»Verschwinde!«

Liane riss den Vorhang zur Seite und schlug die Tür hinter sich zu. Ihre raschen, leichten Schritte verklangen, und Coryn war wieder allein, fühlte sich so elend wie noch nie zuvor.

Coryn blieb noch einen weiteren Tag im Bett und wurde immer ruheloser. Er langweilte sich. Die Mahlzeiten brachte ihm Marisela, eine fröhlich Matrone, die immer die Decken glatt strich und ihm fest um den Körper wickelte. Gareth untersuchte ihn morgens und abends.

»Laran strömt in besonderen Kanälen durch den Körper«, erklärte Gareth. »Aber diese Kanäle befördern auch sexuelle Energie. Bei manchen Menschen erwacht das Laran im jugendlichen Alter, wenn sexuelle Gefühle sich zu regen beginnen, sodass die Kanäle besonders empfindlich gegen Überlastung sind. Das ist einer der Gründe für die Schwellenkrankheit. Mit etwas Pflege und Ausbildung braucht das kein größeres Problem zu sein. Du wirst lernen, dich selbst zu überwachen und herauszufinden, was du tun und lassen solltest.«

»Ihr meint, ich habe das irgendwie selbst bewirkt?«, fragte Coryn schaudernd.

»Keineswegs.« Gareth schüttelte den Kopf. »Wenn man davon absieht, dass du herangewachsen bist. Du … du scheinst das Schlimmste schon überstanden zu haben.«

Der Überwacher erhob sich, als eine Gestalt in fließenden roten Gewändern das Zimmer betrat. Obwohl ihre Bewegungen ruhig und sparsam waren, schien durch ihre Anwesenheit auf einmal alles zu vibrieren. Zunächst wusste Coryn nicht, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, denn das Gesicht war bartlos, das Kinn zerbrechlich. Ein feines Flechtwerk aus Linien bedeckte die blasse Haut. Haar in der Farbe des Mondlichts flutete über schlanke Schultern.

»Gareth, bitte«, sagte der Neuankömmling und bedeutete dem Überwacher, sich wieder zu setzen, dann lächelte er Coryn an. »Ich bin Kieran, der Bewahrer des Dritten Kreises hier in Tramontana und dein Verwandter.«

Das musste der Aillard-Vetter sein, von dem Lord Leynier gesprochen hatte. Beim Klang der Stimme dachte Coryn, dass es sich um einen Mann handeln müsste, möglicherweise um einen dieser Sandalenträger, die nie an einer Beschäftigung für echte Männer teilgenommen hatten. Coryn war selbst ein wenig von den Stallburschen verspottet worden, als bekannt geworden war, dass er in einen Turm gehen würde. Aber der glühende Blick, mit dem er jetzt gemustert wurde, hatte nichts Schwächliches an sich, und an der sicheren Art, mit der diese schlanken sechsfingrigen Hände gestikulierten, war nichts Weibliches.

»Verzeih mir, junger Coryn, dass ich dich nicht früher willkommen geheißen habe. Es geschah nicht aus mangelnder Sorge um dich, denn Gareth versicherte mir, dass du dich gut erholst, und er ist unser fähigster Überwacher.«

Coryn hatte den Eindruck, dass er etwas sagen sollte. Obwohl Kieran Aillard klein von Gestalt war, erfüllte seine Energie das Zimmer. Seine leicht zerstreute Art, als wäre er in Gedanken bei anderen, größeren Dingen, verstärkte noch seine Aura der Macht.

»M-mein Vater entbietet Euch Grüße«, stammelte Coryn, »und lässt Euch für Eure Hilfe beim Feuer danken.«

»Das sagte dein Diener Rafe schon. Wir sind noch nicht an dem Punkt angelangt – wir hier in Tramontana –, an dem wir nichts Sinnvolleres zu tun haben, als Waffen für die Kriege anderer Menschen zu erschaffen. Also, junger Coryn, dürfte ich jetzt wohl deine Laran-Kanäle untersuchen, wie Gareth es tat?«

Coryn gab sein Einverständnis und wunderte sich ein wenig, dass eine Person, so wichtig wie ein Bewahrer, erst um Erlaubnis fragen musste. Vielleicht war das in einem Turm einfach so. Er streckte sich wieder auf dem Bett aus, schloss die Augen und sammelte sich. Wenn Gareth ihn untersuchte, hatte er nie etwas gespürt, bis auf eine leichte Wärme von der Hand des anderen vielleicht. Nun strich etwas sanft wie eine Feder über seine Haut, kühl und keineswegs unangenehm. Dieses Etwas wurde wärmer und sank noch tiefer, bis es zu einem Teil von ihm wurde.

Weiches, grau-blaues Licht erfüllte ihn, als bestünde er aus Glas. Sein Körper entspannte sich, und sein Geist begann zu schweben. Undeutlich wurde er sich einer lichtlosen Stelle tief in seinem Körper bewusst. Als er sich darauf konzentrieren wollte, stieg Panik in ihm auf. Rasch wandte er sich ab und floh zu der wohligen Wärme.

Aus weiter Ferne hörte er Kieran mit leiser Stimme sagen: »Ja, ich sehe, was du meinst, Gareth. Ich denke, nicht einmal ein Alton könnte sich einen Weg an dieser Barrikade vorbei freikämpfen. Es scheint mit keinem der wesentlichen Kanäle verbunden zu sein. Wenn er lernt, sein Talent zu meistern und uns zu vertrauen, wird es ihm vielleicht möglich sein, sich eine Blöße zu gestatten …«

Ich mache es ja nicht mit Absicht, dachte Coryn.

Ich weiß, mein Junge. Hatte Kieran laut gesprochen, oder war das nur in Coryns Kopf gewesen? Ruh dich jetzt für eine Weile aus, dann komm zu uns zurück.

Einige Minuten später saß Coryn wieder aufrecht und hörte Kieran sagen: »Gareth, bist du der Meinung, dass der Junge sich weit genug erholt hat, um sich den anderen Novizen beim Unterricht morgen anzuschließen?«

»Ja, ich denke, er ist mehr als bereit«, sagte Gareth mit einem leichten Lächeln. »Tatsächlich würde er anfangen, das Krankenzimmer zu Klump zu schlagen, wenn wir ihn noch länger festhalten wollten.«

Mit rauschenden roten Gewändern verließ Kieran das Zimmer. Coryn starrte ihm nach. »Das ist also Großmutters Vetter. So alt sieht er gar nicht aus.«

»Oh, er ist jetzt schon fast hundert«, sagte Gareth. »Nicht alle Aillards sind so langlebig, aber es heißt, dass diese Familie einen starken Anteil Chieri-Blut in sich trägt. Bei Kieran kann ich mir das gut vorstellen.«

»Und er hat sechs Finger!«

»Er ist ein Emmasca, aber wen stört das schon?« Nun klang Gareth zornig. »Wenn wir in den Turm eintreten, lassen wir Rang und Familie ebenso hinter uns wie alberne Vorurteile. Hier ist der einzige Ort, an dem wir daran gemessen werden, was wir aus unserem Leben machen, nicht an der Zahl unserer Zehen, unserer Hautfarbe oder daran, welche Lügen unsere Väter uns erzählten. Oder ob wir sechs Väter oder gar keinen haben! Unsere Körper sind so, wie die Götter uns erschufen, doch was in unseren Herzen steht, das allein zeigt, wer wir wirklich sind!«

Gareth schloss mit sanfteren Worten und ermutigte Coryn, gut zu schlafen, weil am nächsten Morgen der Unterricht begänne. Hellwach legte Coryn sich zurück, dachte darüber nach, was der Überwacher gesagt hatte, und staunte über die neue Welt, in die er eingetreten war.

Am nächsten Morgen sagte Coryn Rafe Lebewohl, der gewartet hatte, bis er die Genesung des Jungen mit eigenen Augen sehen konnte, bevor er nach Verdanta zurückkehrte. Die Bewahrer versorgten Rafe mit einem soliden Reitpferd und genug Vorräten für seine lange Reise. »Es dürfte keine Stürme wie den letzten mehr geben«, sagte Mikhail-Esteban, ein Matrix-Mechaniker, der ein gutes Gespür für Wetter hatte, mit einem Anflug von Missbilligung. Rafe umarmte Coryn schroff und schweigend und ritt wie üblich ohne ein Wort von dannen.

Coryn begab sich nach unten in den Speisesaal, wo die anderen jungen Leute sich zum Frühstück versammelt hatten. Zurzeit gab es in Tramontana sechs Novizen, drei etwa in seinem Alter und drei ältere, von denen einer in Kürze nach Hali aufbrechen würde, um dort als Überwacher zu arbeiten, bevor er die Türme für eine arrangierte Hochzeit endgültig verlassen musste. Coryns zwei Altersgenossen waren Liane und ein hoch gewachsener, dunkeläugiger Junge namens Aran MacAran.

Liane starrte Coryn wütend an, als er Platz nahm, dann warf sie den Kopf zurück und gab vor, an einem Gespräch auf der anderen Tischseite interessiert zu sein, irgendwas darüber, wie man Energonenringe auf ein Kristallgitter schichten konnte. Coryn hatte keine Ahnung, wovon sie sprachen.

»Stimmt es«, fragte Aran schüchtern, »dass der Aldaran-Sturm dich ohne Deckung erwischt hat? Und dass du deine Pferde töten und in ihre Körper steigen musstest, um dich warm zu halten?«

Coryn starrte den anderen Jungen mit offenem Mund an. »Nun ja, es gab einen Sturm, aber …«

»Aber sie hätten ihn nie überstanden, wenn wir nicht gekommen wären und sie gerettet hätten!« Liane hatte ihnen kurz den Kopf zugewandt.

»Wir hatten uns wacker geschlagen und um unsere eigenen Sachen gekümmert, als ihr vorbeigekommen seid und einen Streit vom Zaun gebrochen habt! Dabei wären wir fast draufgegangen. Schöne Hilfe!«

»Einen Streit vom Zaun gebrochen? Wir sind nicht ohne Erlaubnis in ein fremdes Land eingedrungen und haben spioniert …«

»Das reicht jetzt.« Vom anderen Ende der Tafel erklang eine ruhige Stimme. Coryn erkannte sie sofort als die Kierans. Er errötete. Was war nur in ihn gefahren, dass er sich von Liane zu einem solchen Benehmen hinreißen ließ, und das auch noch an seinem ersten offiziellen Morgen in Tramontana? Er war nicht erstaunt, als Kieran ihn nach dem Frühstück mit ebenso ruhiger wie gebieterischer Stimme zu einer privaten Unterredung bat. Lianes Grinsen verschwand, als sie ihrerseits zu Bronwyn bestellt wurde.

Coryn stand von der Tafel auf, sein Frühstück unangetastet. Aran berührte ihn leicht am Handrücken, eine Geste, wie Coryn inzwischen verstand, die unter Telepathen üblich war.

»Den Teil mit den Pferden habe ich sowieso nie geglaubt«, sagte Aran. »Aber die Geschichte klang danach, als wäre etwas Aufregendes geschehen. Vielleicht kannst du es mir ja irgendwann einmal erzählen. Tut mir Leid, wenn ich dich in Schwierigkeiten gebracht haben sollte.«

»Es lag nicht an dir, sondern an dieser … dieser …« Coryn gelang es gerade noch, den Mund zu halten, bevor er etwas sagte, was er später vielleicht bereute.

Kurz darauf stand er in Kierans kleiner, mit einer umlaufenden Steinmauer versehenen Stube vor dem Bewahrer. Trotz der morgendlichen Kälte erwärmte kein Feuer den Natursteinofen. Kieran saß bequem in seinem einfachen Sessel, die Hände mit den sechs Fingern gelassen im Schoß. Die Nüchternheit der Szene und die Temperatur ließen Coryn frösteln.

»Es wird nicht wieder geschehen«, begann Coryn.

»Vielleicht solltest du mir, statt Versprechen abzugeben, von denen du keine Ahnung hast, ob du sie überhaupt halten kannst, erst einmal erklären, warum Liane dich so gereizt hat. Ist es lediglich die Fehde zwischen euren beiden Familien?«

Braucht es denn mehr?, fragte sich Coryn, sprach es aber nicht laut aus. Auf Kierans sanfte Nachfragen hin erzählte er ihm die Geschichte vom Feuer, vom Sturm und von der Rettung. Ihm wurde klar, wie ungerecht er gewesen war. Liane traf keine Schuld an den Entscheidungen ihres Vaters, und bei diesem ersten Mal im Krankenzimmer hatte sie sich sehr bemüht, freundlich zu sein.

»Aber da ist noch mehr, was dir Sorgen bereitet, junger Coryn. Liane ist eine aufbrausende junge Frau, vielleicht ein bisschen unmanierlich, aber ohne Arglist.«

Coryn dachte plötzlich, wenn Liane ihn nicht so sehr an Kristlin erinnert hätte, dann hätte er vielleicht nicht so ein Gefühl von – war es Verrat? – empfunden.

»Hör zu«, sagte Kieran und beugte sich vor, wobei die alterslosen Züge vor Intensität strahlten. »Da draußen in der Welt gilt der Familienname eines Menschen mehr als die Qualität seines Charakters. Frauen – und auch Männer – werden nach nichts weiter als ihrer Herkunft und den Bündnissen, die sie herbeiführen können, beurteilt und verkauft.«

Coryn schauderte, als er an Kristlins Vermählung dachte und an Tessas leidenschaftliche Worte: Ich werde nicht für die verfluchten Zuchtpläne eines Mannes die Barragana spielen …

»Aber hier im Turm, solange wir unseren Dienst leisten, lassen wir all das hinter uns. Was du bist, was du aus deinem Leben machst, deine Ehre und Hingabe, nicht dein Rang oder deine Clansbindungen, bestimmen deine Zukunft. Du wurdest mit der Gabe des Laran geboren. Das gibt dir die Gelegenheit, dich selbst und deine Kameraden auf eine Weise kennen zu lernen, die du nie für möglich gehalten hättest. Du kannst über Meilen hinweg sprechen, du kannst dich auf der Suche nach wertvollen Mineralen ins Innere der Erde begeben, du kannst das Gewebe der Welt durchdringen. Nichts davon kommt leicht und ohne Preis. Und nichts davon wird kommen, wenn du die kleinlichen Streitigkeiten der Welt nicht hinter dir lassen kannst.«

Kierans Stimme veränderte sich, wurde so volltönend, dass Coryn Tränen in die Augen schossen, und auf einmal begriff er, weshalb Gareth mit solcher Leidenschaft von dem Bewahrer gesprochen hatte.

»Du bist nicht mehr Coryn Leynier von Verdanta, und Liane ist nicht mehr Liane Storn von High Kinnally. Du bist Coryn, und sie ist Liane. Nichts sonst. Eines Tages, wenn ihr beide das Talent und die Hingabe habt, um euch hier einen Platz zu verdienen, haltet ihr vielleicht das Leben des jeweils anderen in euren Händen. Da ist kein Platz für einen kindischen Streit, der euch nichts angeht. Verstehst du mich?«

Coryn schluckte schwer und nickte. Er schwor im Herzen, Liane so zu nehmen, wie sie war, Geplapper und alles andere eingeschlossen. Mit diesem Entschluss passierte er eine unsichtbare Grenze, eine unausgesprochene Prüfung, obwohl er nur den Hauch einer Ahnung hatte, was es für ihn bedeutete. Er wusste lediglich, dass er das, was der Turm ihm anbot, mehr wollte als jemals etwas anderes davor.

Gleich darauf stieg Zweifel wie öliger Rauch in seinen Gedanken auf. Kieran sprach von der Ausschließlichkeit dieser Zielsetzung, davon, die Außenwelt und alle ihre Belange hinter sich zu lassen. Doch Rumail Deslucido diente zwei Herren, dem König und dem Turm …

»Was beschäftigt dich?«

Coryn runzelte die Stirn und suchte nach Worten. »Dom Rumail, der mich testete …« Auf einmal fiel es ihm schwer zu atmen.

»Er … er kam nach Verdanta … nicht als Laranzu … sondern als Sprecher … seines Bruders … von König Damian …«

Coryn brach ab und rang nach Luft.

Kieran nickte ernst. »Ja, einige von uns sind nicht ganz frei von Familienbündnissen, so schön das auch wäre. Und es besteht immer die Angst, dass wir bei einem Konflikt in der Außenwelt auf unterschiedliche Seiten gezogen werden, obwohl zumindest die Hastur versprochen haben, bei einem Krieg nie die Türme und ihre Bewohner gegeneinander auszuspielen.« Der alte Emmasca hielt inne. »Und was diesen betrifft …« Die farblosen Augen, denen nichts entging, flackerten. »Er soll nicht deine Sorge sein. Nun geh zu den anderen.«

Eigenartig gefestigt begab Coryn sich in den großen, sonnenbeschienenen Raum auf der Südseite des Turms, wo Gareth die Novizen in den Grundlagen der Überwachertätigkeit unterrichtete. Sie saßen paarweise auf den allgegenwärtigen niedrigen Bänken um ein Feldbett herum, auf dem einer der älteren Jungen lag. Gareth hielt inne und wiederholte seine Erklärungen, wie man bei angemessener Distanz der Hand vom Körper die Energonkanäle »spüren« konnte.

Einige Minuten später kam Liane herein, die Augen rot und verquollen, als hätte sie geweint. Coryn dachte, dass sein Gespräch mit Kieran nicht so schlimm gewesen sein konnte wie ihres mit Bronwyn. Nach der Sitzung ging er auf sie zu und wollte etwas sagen, wusste jedoch nicht was. Er wollte den Streit nicht noch verlängern, und zur Hälfte war es ja seine Schuld gewesen.

Gerade als Coryn Liane erreichte, stieß Aran zu ihnen, und seine Augen funkelten vor Abenteuerlust. »Nach dem Essen haben wir eine Stunde frei und dürfen nach draußen. Ist jemand scharf darauf, hier den Abgang zu machen? Können wir dein Pferd nehmen, Liane?«

»Oh!« Röte stieg wieder in ihre Wangen, doch nicht aus Verlegenheit. »Ja! Können wir nicht alle drei gehen?«

»Du meinst ausreiten?«, fragte Coryn. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass das Leben im Turm so normal sein konnte. In den Stunden seiner Genesung hatte er oft an seinen verschollenen Tänzer gedacht.

»Natürlich!«, sagte Aran. »Früher gab es in Tramontana keine Reittiere, vor der Zeit von König Allart Hastur. Nun stehen in den Turmställen immer ein paar Pferde. Wir dürfen sie für unsere Ausritte verwenden.« Er zwinkerte Coryn zu. »Sie erzählen uns immer, dass wir bei Kräften bleiben müssen, um all diese Matrix-Arbeit verrichten zu können.«

Ein Bild nahm vor Coryns Augen Gestalt an, wie sie drei lachend über die Hügel galoppierten, der Wind sang in seinen Ohren, und die süße, warme Freude des Pferdes unter ihm flutete noch, sodass er eins mit dem Tier wurde, und mit dem Falken hoch oben, der nicht mehr als ein Fleck vor der Sonne war, und dem säuselnden Gras. Grün, golden und blau schimmerte es um ihn herum, in ihm …

In diesem Moment erkannte er auch, dass Aran genauso empfand, und er spürte die Aufregung im Geist seines neuen Freundes.

Als sie den Korridor entlanggingen, verfing Liane sich mit einem Fuß an einem unebenen Stein und stolperte. Coryn griff nach ihr, um sie zu halten. Ihre Hand strich über seine, eine flüchtige Berührung. Er wandte sich ihr mit Augen zu, die noch ganz unter dem Eindruck des kurzen geistigen Kontakts mit Aran standen, und es war, als sähe er sie zum ersten Mal, nicht bloß als zorniges Kind, sondern als junge Frau – der Frau, zu der sie heranwachsen würde – stolz und treu ergeben. Er spürte den Kampf in ihr, ein Spiegel seines eigenen, die Geschichten, mit denen sie aufgewachsen war, über Leyniers Gier und Rachsucht, die Wutanfälle ihres Vaters, ihre Liebe für die Familie, zu dem großen Bruder, der bei einem Viehraub der Leyniers gestorben war, all das gegen den Knaben vor ihr gerichtet. Er sah sich in ihrem Geist gespiegelt, weder Dämon noch Feigling noch Spion, nicht mehr als sie selbst.

Kieran hatte Recht. Der Turm ist der einzige Ort, an dem wir all diesen Hass hinter uns lassen und neu anfangen können.

Er streckte die Hand aus, und mit einem furchtsamen Lächeln, das nun zu einem regelrechten Grinsen erstrahlte, nahm sie seine Hand entgegen.

Der Untergang von Neskaya

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