Читать книгу Der Untergang von Neskaya - Marion Zimmer Bradley - Страница 15
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ОглавлениеIm Laufe des Sommers setzte sich die Routine des Arbeitens und Lernens durch. Die Aufregung über Rumail von Neskaya legte sich, und an ihre Stelle traten Gerüchte über Bettinas bevorstehende Abreise und Vermählung. Am ersten frostigen Herbstmorgen traf eine Eskorte ihres Vaters ein. In einen Umhang aus glänzend weißer, mit goldenen Fäden durchwirkter Lammwolle gehüllt, das Haar mit Mondsteinen und Granaten verziert, saß sie auf ihrem weißen Pony wie eine übertrieben ausstaffierte Puppe statt wie eine begnadete Leronis.
»Das nächste Mal dürfte ich fällig sein«, seufzte Liane, zog die Füße an und legte die Hände um einen Becher mit dampfendem Jaco. Sie und Coryn hatten es sich auf einem mit Kissen ausgelegten Platz am Fenster gemütlich gemacht, von dem sie die Straße zum Turm im Blick hatten. Sie hatten die ganze Nacht gearbeitet, er an den Relais und sie an den Laran-Batterien, die sie geladen hatte, und waren aufgeblieben, um die Morgendämmerung zu beobachten. Bei Coryns entsetzter Miene fügte sie hinzu: »Du hast doch wohl nicht geglaubt, dass ich für immer hier bleiben kann, oder?«
»Ehrlich gesagt habe ich genau das geglaubt.«
Sie sank zurück, knapp außer Reichweite. »Und ich würde auch nirgendwo anders sein wollen. Dom Kieran … und Lady Bronwyn … und Aran und du …«
»Jetzt werde aber nicht sentimental!«
Liane schob die Unterlippe vor und erinnerte ihn erneut an Kristlin. Immerhin war sie eine zu Höflichkeit erzogene junge Frau aus guter Familie und im heiratsfähigen Alter, die ihrer Familie ein mächtiges Bündnis verschaffen konnte. Genau wie Kristlin.
Lianes Stimme wurde zu einem Flüstern. »Ich wünschte, es gäbe einen Zauber, durch den man diesen Morgen für immer festhalten könnte.« Ihr Blick schweifte wieder zur Straße, auf der wie ein hauchdünner Schleier der Staub von Bettinas Gefolge hing. Die kleinen Muskeln an ihren Augen spannten sich, als könnte sie in ihre Zukunft schauen.
Auch in Verdanta würde eines Tages für Kristlin die Zeit kommen, ihr Zuhause zu verlassen, mit Juwelen behängen – die Geschenke ihres Bräutigams und seiner Familie –, vielleicht von ihrer Amme Ruella begleitet, wenn die alte Frau noch so weit reiten konnte. Es wäre gut, wenn ihr jemand aus ihrer Kindheit erhalten bliebe, jemand, der sie einzig um ihretwillen liebte, und außerdem jemand, auf den sie noch hörte, wenn sie Königin war.
Königin! Coryn schüttelte den Kopf. Er war seit zwei Jahren nicht mehr zu Hause gewesen, und damals war Kristlin noch ein Kind mit Zöpfen und in Jungenhosen gewesen. Sie musste jetzt dreizehn sein …
Plötzlich wurde er sich bewusst, dass Liane ihn bohrend ansah. Aran oder Lady Bronwyn und sogar Cathal hätten seinen Gedanken folgen können, doch Lianes Talente lagen woanders. »Ja?«, sagte sie und hielt fragend den Kopf schräg. »Du hast seit fünf Minuten keines der Worte mehr gehört, die ich an dich gerichtet habe!«
»Ich – ich habe an meine jüngste Schwester gedacht. Kristlin, die, an die du mich erinnerst.«
»Die, die Prinz Belisar Deslucido versprochen ist, meinst du wohl«, erwiderte sie.
»Bist du … bist du auch jemandem versprochen?«, fragte er unbeholfen, denn dieses Thema ging eigentlich niemanden etwas an.
»Ach, möchtest du mich vielleicht um meine Hand bitten, um mir das Bett eines Fremden zu ersparen?« Ihre Stimme hatte einen Anflug von Verbitterung. In ihrer gemeinsamen Zeit hatte er mehr als einmal die Hand nach ihr ausgestreckt, und sie war freudig darauf eingegangen, doch es war nie mehr als Trost und das Vergnügen einer Nacht gewesen, die Freunde miteinander teilten. Verbunden durch ihre Laran-Sensibilität gingen sie unbeschwert und aufrichtig miteinander um, ohne sich vorzumachen, jemals ineinander verliebt gewesen zu sein.
»Du weißt, was mein Bruder davon halten würde«, fuhr sie fort. »Immerhin bist du der besitzlose dritte Sohn eines Nachbarn, über den er nichts Gutes sagen kann. Nein, mein lieber Herzensfreund, dein Platz im Leben ist hier, wie es deinem wahren Talent entspricht. Und meiner …«
»Deiner ist ebenfalls hier. Du bist eine fähige Überwacherin, oder dachtest du, dass Kieran dir nur schmeicheln wollte?« Erst im letzten Winter hatte Kieran Liane die Verantwortung einer voll qualifizierten Überwacherin in seinem Kreis übertragen. Sie gehörte zu den jüngsten seit vielen Jahren, die sich qualifiziert hatten.
»Bitte.« Liane blinzelt eine Träne weg, schob das Kinn vor und wandte sich ab.
Sogleich bedauerte Coryn seine Achtlosigkeit. Sie wollte bleiben, um die Arbeit zu verrichten, die sie so sehr liebte. Ihm stand es frei, hier seiner Berufung zu folgen, sein eigenes Leben nach seinen Vorstellungen im Turm zu führen, ein unerwarteter Vorteil seines Daseins als zusätzlicher Sohn, der vermutlich nie etwas anderes als den Namen seines Vaters erben würde. Doch Liane, egal wie viele ältere Schwestern sie haben mochte, konnte ihrer Familie immer noch einen mächtigen Schwiegersohn bescheren.
Als er die Augen schloss, spürte er ihren Schmerz wie das Prickeln kleiner Messer auf seiner Haut. Er tastete mit seinem Laran nach ihr. Während Bronwyn immer das Bild hell klingender Silberglöckchen in ihm ausgelöst hatte und Kieran ihm stets wie ein schneebedecktes Felsentor erschienen war, kam Liane ihm wie dicke, von der Sonne gewärmte Seide vor. Sie war eine natürliche Überwacherin, denn egal wie sehr die Arbeit an den Relais oder im Matrix-Kreis ihn ausgelaugt hatte, egal wie weit er seinen unterkühlten, steifen Körper hinter sich gelassen hatte, sie konnte ohne den geringsten Anschein von Aufdringlichkeit seinen Herzschlag beruhigen und ihm ein Gefühl von Wärme vermitteln. Und all diese großartigen Talente, ihre rasche Auffassungsgabe, ihr unabhängiger Geist, all dies würde sie wegwerfen müssen, um irgendeinem feisten Lord, der vermutlich schon drei Frauen unter die Erde gebracht hatte, als Brutmaschine für Söhne zu dienen.
Coryn schob diesen Gedanken zur Seite und konzentrierte sich stattdessen auf die Vorstellung von Spinnenseide, durch die ein leichter Wind streicht. Er sah, wie das Gespinst in die eine Richtung gezogen wurde und wie es in der anderen Falten schlug. Seine Hand strich darüber und glättete die Falten.
Mit einem kaum hörbaren Seufzer hieß Liane seine mentale Berührung willkommen. Unter seiner Liebkosung verwandelte die zerknitterte Seide sich in rundliche Bäusche, die sanft durch die warme, nach Regen riechende Luft trieben. Aus dem matten Grau wurde ein Blau, das an den Rändern einen violetten Farbton annahm.
Ermutigt begab Coryn sich tiefer. Durch die Umrisse ihres Körpers hindurch sah er Ströme von Licht, Kanäle, die Laran-Energien beförderten. Die meisten waren goldweiß vor Gesundheit, doch dort, unweit ihres Herzens, verliefen Fasern, die sich zu Orange, fast zu Rot verdunkelten. Zu seiner Erleichterung waren das nicht die Zentren, die sexuelle Energie transportierten, denn als Überwacherin wusste sie nur zu gut, wie gefährlich es war, ihren Fluss zu unterbrechen. Was auch immer sie für Aran empfinden mochte, sie hatte akzeptiert, dass er ihre Gefühle nicht erwiderte. Aran liebte sie auf seine Weise, mehr nicht. Jetzt war sie nur noch tief betrübt bei der Vorstellung, Tramontana verlassen zu müssen.
So behutsam, wie er die Seide geglättet hatte, entwirrte er die orange-roten Energieströme und löste einen nach dem anderen, bis alle blassgelb leuchteten. Als er damit fertig war, ruhte er sich erst eine Weile aus, bevor er sich in seinen eigenen Körper zurückzog. An diesem Ort, durch ein Laran-Band in größerer Intimität verbunden, als jede sexuelle Vereinigung sie bieten konnte, kannten und vertrauten sie einander vorbehaltlos.
Er öffnete die Augen und stellte fest, dass Liane ihn mit einem eigenartigen Ausdruck ansah. »Danke«, sagte sie. »Das hast du gut gemacht.« Sie erhob sich und gähnte verstohlen in die Hand. »Du könntest Bewahrer werden, weißt du das?« Sie begab sich zu ihrer Unterkunft und ließ ihn verblüfft zurück. Ihm fiel keine Antwort ein.
Die Nacht lag wie ein Tuch aus schwarzem Samt über dem Turm von Tramontana und den umgebenden Gipfeln. Das letzte Licht der weißen Perle Mormallor war schon lange verblichen, und nur das schwache Band der Milchstraße unterbrach noch die Schwärze, denn dies war eine der wenigen Jahreszeiten, zu denen keiner der vier Monde von Darkover am Himmel stand. In der Mitte des größten Labors glühten riesige Matrix-Schirme und legten wie bei einem Wahrheitsbann ein gespenstisches blaues Leuchten auf das Gesicht der Arbeiter. Verkorkte Glasgefäße vor ihnen enthielten Puder und siedende Flüssigkeiten, das Rohmaterial für die Arbeit der Nacht, und leere Behälter erwarteten das fertige Produkt.
Coryn spürte, wie die Energie aus den Schirmen pulsierte: Dutzende einzelner Sternensteine, die in einem kristallinen Gitternetz gehalten wurden und auf eine Weise miteinander verbunden waren, dass sie das Laran des Kreises leiteten und verstärkten. Er schloss die Augen, um sich besser auf die bevorstehende Aufgabe konzentrieren zu können. Von Zeit zu Zeit spürte er Kierans sichere Anweisungen oder die Berührung von Gareth, der in dieser Nacht Überwacher war, da Liane wegen ihrer Periode vorübergehend nicht arbeiten konnte.
Macht stieg aus seinen innersten Tiefen auf und erfüllte den Kreis, um sich mit der Macht der anderen Arbeiter zu verbinden, geformt und gerichtet vom Bewahrer. Es war noch früh am Abend, und Coryns Energiepegel war hoch. Er fühlte sich wohl und ausgeruht, fast heiter.
Heute Nacht hatten sie eine Aufgabe vor sich, die er vorbehaltlos unterstützen konnte – die Erschaffung von Chemikalien zur Brandbekämpfung. Während der letzten paar Monate hatte der Kreis einige Elemente aus den Tiefen der Erde geschürft, sie Stück für Stück durch Laran an die Oberfläche geholt, eine mühsame und erschöpfende Arbeit. Andere Elemente hatten sie auf konventionellem Weg von den Höhlen nicht weit von Tramontana entfernt erhalten. Nun, da das Rohmaterial zur Verfügung stand, begann der schwierigste Teil der Arbeit. Es war nicht so gefährlich wie die Herstellung von Haftfeuer, bei der die Teilchen durch Destillation unter großer Hitze veredelt wurden; Glasgefäße konnten dabei explodieren und Teile der ätzenden Substanz durch die Gegend fliegen. Doch Unfälle waren auch bei ihrer gegenwärtigen Tätigkeit nicht auszuschließen.
Unter Kierans Leitung arbeitete der Kreis daran, jedes noch so kleine Stück der Substanz in seinen reinsten Zustand zu überführen. Das Klassifizierungsverfahren war eine echte Herausforderung, und mehr noch die Notwendigkeit, jeden Teilchentyp getrennt und abgeschirmt von Luft und Feuchtigkeit zu halten. Die Glasgefäße genügten nicht; das Verfahren machte einen ständigen Strom von Laran-Kraft für die Schutzschichten erforderlich. Die Substanzen mussten getrennt voneinander gehalten werden, bis sie für den empfindlichen Prozess bereit waren, der sie kombinierte.
Coryn schwebte in der Einheit des Kreises und genoss das Wirbeln und Kräuseln der mentalen Energie, die sie erfüllte. Manchmal empfand er sie als spiralförmigen Strudel, der sie sogar noch höher hob, dann wieder als Ringtanz oder auch Chor, bei dem jede einzelne Stimme zu einer großartigen Harmonie beitrug. Auf einer Seite saß Kieran, der sie geschickt miteinander verwob, auf der anderen Aran. Ihm gegenüber im Kreis sang Bronwyn wie klingende Silberglöckchen. Er hatte sich selten so offen und so sicher gefühlt, seit seiner Kindheit nicht mehr.
Coryn, führ die Felder dichter zusammen, sagte Kieran in seinem Geist. Vorsichtig …
Das war die Arbeit eines Bewahrers, und Coryn wusste es. Er wusste auch, dass Kieran ihm diese Verantwortung nicht übertragen hätte, wenn er dafür nicht bereit gewesen wäre. Er hatte zu akzeptieren gelernt, dass Kieran ihn manchmal besser kannte als er sich selbst, und innerhalb des Kreises hatte er völliges Vertrauen zu seinem Bewahrer.
In Gedanken tastete er nach den Kugeln, die die veredelte Substanz enthielten, zwei Kugeln, die pulsierten und gewaltig angeschwollen waren, und zwei kleinere.
Vorsichtig …
Die größeren Kugeln waren leichter zu handhaben; die Gefahr ging von der flüchtigen Substanz in den kleineren aus. Coryn konzentrierte sich stärker. Er spürte schwach Bronwyns Aufflackern von Billigung und Arans aufsteigenden Stolz. Gareth lockerte einen verspannten Muskel in seinem Steiß, und der nächste Atemzug fiel ihm leichter.
Jetzt nimm ein Teilchen von hier … und eines von hier … und füge sie so zusammen. Als legte er seine physischen Hände über Coryns, führte Kieran ihn durch den nächsten Schritt. Zusammen formten sie ein kleines Klassifizierungsfeld um jedes Stück. Coryn bezog Laran aus dem Kreis und beförderte die Teilchen mental in ein leeres Glasgefäß.
Ja! Die Teilchen, durch ihre gegenseitige Anziehung in Bewegung versetzt, sprangen aufeinander zu, sobald Coryn die Schutzfelder auflöste. Dunkelrot und Orange, Weiß und schlammiges Braun flammten zu einem gelbweißen Ball auf, kühlten dann ab und zogen sich zu kleinen verschrumpelten Samenkörnern zusammen, die grau wie Asche wurden.
Hochstimmung erfüllte Coryn. Einen Augenblick lang stellte er sich vor, wie dieses Korn, das er geschaffen hatte, zusammen mit vielen anderen durch die Luft über einem lodernden Wald rieselte. Vielleicht sogar über den Ländereien von Verdanta. Die vertrauten Umrisse der Berge tauchten vor seinem inneren Auge auf, Rauch und flackernde Scheite, Eddards rußverschmiertes Gesicht und das seines Vaters, die kleine Kristlin in ihren Jungenhosen …
Coryn. Kierans mentale Stimme riss ihn aus seinen Tagträumereien. Coryn sammelte sich und kehrte an seine unmittelbare Aufgabe zurück.
Und einen Herzschlag später glaubte er zu ertrinken; er erstickte fast und rang nach Atem. Seine Brust hob sich mühsam, als er Luft in seine nassen Lungen zu ziehen versuchte. Das Schnaufen und Rasseln von Atemzügen, die sein Blut zum Rauschen brachten, erfüllten seine Ohren. Feuer loderte durch seine Adern.
Vage spürte er Hände, die sich um schweißnasse Laken krampften, ein kühlendes Tuch, das auf seine Stirn gelegt wurde, Stimmen, die einen Namen schrien, den er nicht verstand.
»… das Mädchen … zu hohes Fieber … der alte Herr ist erkrankt …«
Kristlin! Vater!
Er kämpfte darum sich aufzusetzen. Bilder verschmolzen zu einem wabernden Delirium und verblassten dann zu Grau. Er fiel, fiel …
CORYN!
Sein eigener Name hallte in seinem Geist wider, Kierans Donnergetöse, gefolgt von Arans Alarmschrei und Bronwyns silberheller Stimme. Um ihn herum zerbrach der Kreis, die Einheit löste sich auf.
Coryns physischer Blick richtete sich auf die verkorkten Gefäße mit den getrennten Teilchen der feuerlöschenden Chemikalien. Sie glühten unter der Nachwirkung psychischer Energie. Er war dafür verantwortlich gewesen, dass die Elemente getrennt und unwirksam in ihren vom Laran erzeugten Feldern aufbewahrt blieben. Nun wackelte eines, als stünde es kurz vor der Explosion. Er sprang von seiner Bank und hechtete darauf zu.
Coryns Finger schlangen sich um ein Inferno mit glatter Außenseite. Er roch verbranntes Fleisch und sah einen albtraumhaften Augenblick lang, wie blaue Flammen von seinen Händen die Arme hinaufzüngelten. Instinktiv ließ er das Gefäß los. Es zerschellte auf dem Steinboden. Sein Körper krümmte sich in Krämpfen halb körperlicher Schmerz, halb geistiger. Jemand packte ihn unter den Achseln und ließ ihn langsam zu Boden sinken. Er blinzelte, blickte hoch in Arans Augen, die dunkel vor Sorge waren.
»Bei Alodnes!«, schrie Gareth. »Was ist geschehen?« Flink strich er mit der Hand nur Zentimeter über Coryns Körper hinweg und untersuchte ihn.
Lungenfieber …, hallten Gareths Gedanken durch Coryns Geist. Wie ist das möglich? Noch einen Moment zuvor war er gesund und kräftig …
»Er war es nicht.« Kieran erhob sich von der Stelle, an der er und Bronwyn neben den verschütteten Chemikalien gekniet und sie stabilisiert hatten, bis sie wieder eingedämmt werden konnten.
Er beugte sich mit einer stummen Frage über Coryn.
»Etwas … ich weiß nicht«, stammelte Coryn. Dabei wusste er es genau.
Tief in seinem Körper bildete sich ein Schauder, der nach außen drängte. Seine Zähne klapperten, und er verlor die Gewalt über seine Hände. Er hielt sie hoch und starrte das gerötete Fleisch an, als gehörte es nicht zu ihm.
Lange nachdem die anderen zu Bett gegangen waren und der Himmel im Osten sich rot gefärbt hatte, saß Kieran noch bei Coryn. Gareth hatte Coryns Hände gesalbt und verbunden und erklärt, dass die Verbrennungen vermutlich heilen würden, ohne Narben zurückzulassen. Glücklicherweise war sonst niemand verletzt worden, obwohl zwei der Arbeiter zusätzliche Ruhe benötigten.
Coryn zupfte an den Verbänden um seine Hände. »Ich war auf verbrecherische Weise unbedacht«, sagte er, elend vor Schuldgefühlen und Angst. »Ich habe zugelassen, dass meine Konzentration nachlässt, während ich an nichts als meinen eigenen Ruhm dachte. Ihr habt mir eine wichtige Aufgabe zugewiesen, und ich habe Euch enttäuscht. Ich habe den gesamten Kreis enttäuscht: Jemand anderer hätte schwer verbrannt werden können …«
Kieran bedeutete ihm mit einer Geste zu schweigen. »Du bist nicht der Erste, der sich der Selbstbeweihräucherung ergab und dann die Folgen tragen musste. Wenn wir alle schon beim ersten Mal alles perfekt machen könnten, hätte unsere Ausbildung keine Berechtigung. Doch du wirst aus deinem Unfall lernen, erheblich besser, als wenn ich dich mit bloßen Worten gewarnt hätte.«
Lange Zeit wagte es Coryn nicht, von seiner Vision zu erzählen. Etwas Furchtbares war zu Hause geschehen, davon war er überzeugt. Als er sich dem Kreis geöffnet hatte, war sein natürlicher Schutz verloren gegangen. In seinem grenzenlosen Jubel waren seine Gedanken zu seiner Familie, seinen Kindheitsträumen abgeschweift. Kristlin war mit ihrem ungeschulten Laran wie ein Feuersturm durch seinen wehrlosen Geist getobt. Für einen Moment war er seine Lieblingsschwester gewesen, die im Fieberwahn darniederlag und um jeden Atemzug rang.
Ich hatte an zu Hause gedacht, an Vater und Kristlin, daran, ihnen die feuerlöschenden Chemikalien zu bringen, wie ich es mir immer erträumt hatte. Und plötzlich … war ich an einem anderen Ort, in einem anderen Körper … einem sterbenden Körper. Kristlins Körper.
»Meine Schwester … mein Vater … Dunkle Avarra, hab Erbarmen mit uns allen!«
Auf Kierans Vorschlag hin holte Coryn seinen Sternenstein heraus und konzentrierte sich, versuchte noch einmal, geistige Verbindung mit Kristlin oder seinem Vater oder auch nur einem seiner anderen Geschwister aufzunehmen. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, und seine Finger verkrampften sich, aber er konnte Kristlins Lebenskraft nicht spüren. Petro, Margarida, sogar Tessa wusste er noch am Leben. Bei Eddard war er sich nicht sicher, denn die Antwortwoge aus Trauer und Entsetzen, wenn er an seinen ältesten Bruder dachte, war zu stark, als dass er sie hätte durchdringen können. Und was seinen Vater anging, so spürte er lediglich Leere.
Auch Kieran konnte mit niemandem in Verdanta Verbindung aufnehmen. Niemand dort war im Gebrauch seines Sternensteins geschult. »Nicht einmal ich kann mit meinem Geist so weit reichen«, sagte er, »denn obwohl mich Blutsbande mit deiner Familie verknüpfen, kenne ich diese Leute nicht. Dich verbindet ein weitaus tieferes Band, besonders mit deiner Schwester.«
Aber Rumail hat Neskaya erreicht, als er während des Feuers um Hilfe ersuchte.
»Rumail ist ein starker Telepath«, antwortete Kieran laut. »Und er wurde viele Jahre lang zusammen mit den Leuten von Neskaya ausgebildet. Das bedeutet nicht, dass du jetzt versagt hast.«
Kierans Worte brachten zwar wenig Trost, aber seine Anwesenheit linderte den Schmerz. Coryn hatte sich Kierans Energiesignatur immer als Felsentor vorgestellt. Nun, als die Stunden bis zum Morgengrauen sich endlos zu dehnen schienen, drang die innere Ruhe des alten Bewahrers zu Coryn durch und festigte ihn.
»Wir werden eine Nachricht durch die Relais leiten«, sagte Kieran, als er sich anschickte, Coryns Kammer zu verlassen und seine eigene aufzusuchen. »Vielleicht weiß in Neskaya jemand etwas über deine Familie.«
»Ich muss nach Hause. Ich muss mich selbst überzeugen«, sagte Coryn und setzte sich mühsam auf. Das Zimmer verschwamm vor seinen Augen. Als er hustete, schoss ein rasender Schmerz durch seine Brust.
Kieran strich mit den Fingerspitzen über Coryns Gesicht. Coryn hatte den Eindruck, dass die Berührung wie erstarrtes Feuer brannte. Er fröstelte.
In deinem Zustand kannst du nirgendwohin. Dein Energiekörper befand sich in Resonanz mit dem deiner Schwester, und das hat deine physischen Lungen beeinträchtigt. Das ist ein sehr gefährlicher Zustand. Gareth und auch Liane, wenn sie dazu in der Lage ist, werden dich überwachen, bis deine Kanäle wieder frei sind.
Coryn vernahm ein fernes Heulen, wie von einem Banshee auf einem Berg, wie von Wind, der durch eine verlassene Burg streicht, wie von einem Schneesturm auf öden Anhöhen, und erkannte darin seinen eigenen Kummer.
Der Falke ist vom Himmel gestürzt, dachte er benommen. War das ein Omen?
Einen Zehntag später erwachte Coryn mit rasendem Hunger aus dem Schlaf. Gareth wertete das als gutes Zeichen, denn ein Körper benötigt Nahrung, um sich regenerieren und die Störung in seinen Energiekanälen beseitigen zu können. Die äußeren Verletzungen, die Verbrennungen an seinen Händen, waren bis auf eine leichte Rötung, die rasch nachließ, schon verheilt.
Er begab sich in die Küche hinunter, wo Gareth und Marisela, die Haushälterin, über Schüsseln mit geschmortem Rabbithorn saßen. Dampf, der das Aroma wilder Pilze und von Rosmarin mit sich trug, stieg aus dem riesigen Topf auf, und fünf Laibe Brot im Getreidemantel standen zum Auskühlen auf einem Regal. Die letzten paar Scheiben vom sechsten Laib lagen zusammen mit etwas weichem Chervine-Käse auf einem Tablett. Coryn bediente sich und setzte sich zu ihnen, froh über ihre unbeschwerte Gesellschaft. Er erinnerte sich, wie er damals in Verdanta immer mit Petro und Margarida am Küchentisch gesessen und Nussecken und übrig gebliebene Fleischpasteten gemampft hatte.
Nein, es war gefährlich, an zu Hause zu denken. An zu Hause, und daran, was dort vielleicht – mit Sicherheit – geschehen war. Der Drang, nach Hause zu reiten, war zusammen mit seiner Gesundheit wiedergekehrt, aber Kieran hatte es rundweg verboten.
Erst wenn wir wirklich mit Sicherheit wissen, was geschehen ist.
Also zügelte Coryn seine Gedanken, beruhigte seinen Atem und versuchte sich auf den Augenblick zu konzentrieren. Er wartete auf die Neuigkeiten, die irgendwann eintreffen mussten.
Die Küche von Tramontana befand sich direkt an der Rundung des Turms, weil die riesigen Herde Abzugsöffnungen benötigten; außerdem ermöglichten die Fensterreihen an der Außenwand einen natürlichen Lichteinfall. Einer der ersten Bewahrer, ein Feinschmecker, hatte angeblich die Küche genau hier errichtet, um den besten Koch im Königreich dazu zu bewegen, sich dem Turmpersonal anzuschließen. Wie viel Wahrheit die Geschichte nun auch enthalten mochte, der sonnenbeschienene Raum blieb jedenfalls noch an den düstersten Wintertagen heiter und fröhlich. Er nahm ein ganzes Viertel des Erdgeschosses ein und hatte eigene Türen, die nach draußen auf den Hof führten und hinab in die Keller, die mit Weinfässern, riesigen gewachsten Käserädern, Tonnen voller Nüsse, Äpfel und Kohl, gewaltigen Kästen mit Mehl und kleineren mit Getreide und Stockfisch gefüllt waren.
Durch die besondere Lage der Küche konnte Coryn hören, wie sich Hufgetrappel auf der Straße näherte.
Der Einäugige Rafe.
Coryn versteifte sich und verlor die Fassung, um die er so lange gerungen hatte. Seine Hände umklammerten den Tischrand unwillkürlich so fest, dass ein Knöchel knackte.
»So spät noch ein Reiter?«, sagte Marisela. »Er wird ein Abendessen wollen.«
»Dem Klang nach hat er das arme Pferd ziemlich geschunden«, sagte Gareth. Er trug seine Schüssel zu der riesigen Steinspüle, in der schon Geschirr eingeweicht war, und trat geduckt durch eine Seitentür ins Freie.
Coryn kippte den Rest seines Jaco herunter, während Marisela umherwuselte und eine Mahlzeit für den elenden Reisenden vorbereitete. Er musste versuchen, einen Hauch seiner früheren Ruhe zurückzugewinnen. Gemäß den Übungen, die er seit seinem ersten Jahr in Tramontana eingebläut bekommen hatte, atmete er tief und langsam, baute die Spannung in den Muskeln ab und sammelte sich.
Aran stand wartend in der Küchentür. Durch seine empathische Empfindsamkeit wusste er, dass etwas geschehen war. Seine schweigende Gegenwart sagte mehr als tausend Worte. Coryn berührte mit den Fingerspitzen die Oberseite von Arans Handgelenk.
Bredu, ich bin froh, dass du hier bist. Ich …
Einer der Novizen eilte herbei. Die Haare des Jungen standen von seinem geröteten Kopf ab.
»Es gibt Neuigkeiten von Verdanta! Ein Reiter! Kieran will, dass du …«
Obwohl Coryn viele Tage auf diese Worte gewartet hatte, durchlief ihn ein Schauder, und eiskalte Finger griffen nach seinem Herzen. Es ist also soweit.
Du bist nicht allein, mein Bruder. Einen Moment lang hüllte Aran ihn in wohltuende Wärme.
Wenig später klopfte Coryn – Aran und der Novize nur einen Schritt weit hinter sich – an die Tür von Kierans Privatgemächern. Auf ein Wort von drinnen hob er den Riegel an und trat ein. Der Anblick erinnerte ihn an sein erstes Gespräch in diesen Räumen: die enorme Schlichtheit des Zimmers, die Kühle, von der er nun wusste, dass sie nicht von erzwungener Nüchternheit herrührte, sondern von einem Temperaturunterschied. Kieran saß in demselben Stuhl wie damals und bedeutete ihm näher zu kommen. Der Bewahrer schien seit jenem Tag nicht gealtert zu sein, nur um die Schultern herum war er ein wenig schmaler geworden.
»Ich bedaure es, dich unter solchen Umständen sprechen zu müssen, Coryn«, sagte Kieran formell, »bin jedoch erfreut, dass du einen Freund hast, der dir zur Seite steht. Huy«, wandte er sich an den Jungen, »du kannst nun gehen, doch verlier kein Wort hierüber. Vergiss nicht, dass dies nur Coryn etwas angeht und nicht dich.«
Mit einem Nicken verschwand der Junge polternd die Treppe hinunter.
Coryn schloss die Tür hinter sich und sah den Einäugigen Rafe im Schatten hinter der Tür stehen. Als der alte Söldner einen Schritt nach vorn machte, fiel Licht auf sein Gesicht. Er sah aus wie um hundert Jahre gealtert, seine ganze eiserne Kraft schien verrostet zu sein. Seine Kleidung starrte vom Schmutz der Reise.
Kierans farblose Augen ruhten auf Coryn und drückten nichts als Sympathie aus. »Endlich sind Neuigkeiten aus Verdanta eingetroffen.«
Coryn versuchte in Rafes Gesicht zu lesen, in den tiefen Linien um seinen Mund, den geröteten Augen. Mit seiner durch jahrelange Ausbildung im Turm erworbenen Disziplin wartete er auf die Worte, die kommen mussten.
»Eine Epidemie der Lungenfäule hat das ganze Gebiet von Verdanta heimgesucht«, sagte Kieran. »Dein Vater … und deine Schwester … und viele andere …«
»Barmherziger Avarra!«, wisperte Aran.
Der Falke … der Falke ist vom Himmel gestürzt.
»Auch ein Mann im Vollbesitz seiner Kräfte kann der Lungenfäule erliegen«, sagte Kieran, und seine Stimme zeugte von abgrundtiefer Müdigkeit. »Viele fanden den Tod, bevor die Seuche abflaute. Kein Haushalt blieb verschont, vom ärmsten Gut bis zur Burg nicht. Die Hälfte der Kleinbauerfamilien ist nicht mehr. Und von jenen, die überlebten, haben viele so schwere Schädigungen der Lungen davongetragen, dass sie nicht mehr lange leben werden.«.
Coryn ließ sich auf die nächste Bank sinken. Nicht nur Kristlin und sein Vater, auch Männer und Knaben, die sich bei den Feuersbrünsten mit ihm abgemüht und mit ihm das Mittsommerfest begangen hatten – tot! Er spürte Arans leichte Berührung an der Schulter, den Druck der Fingerspitzen auf den Muskeln, das Pulsieren von Kraft – ich bin bei dir …
Lungenfäule … Im Gegensatz zu natürlichen Katastrophen wurde dieses Grauen durch Laran erschaffen. Tramontana hatte sich davon stets fern gehalten, und Coryn hatte einmal aufgeschnappt, wie Kieran sich gegen Waffen aussprach, die keine Grenzen respektierten und so viele Unschuldige töteten. Bronwyn, die gesehen hatte, wie ihr Zuhause unter dem Feuerbombardement aus Laran-getriebenen Luftwagen in Schutt und Asche gelegt worden war, hatte getobt: »Wir sollten den Krieg noch schrecklicher machen, so schrecklich, dass kein Lord es wagt, jemals wieder gegen einen anderen zu Felde zu ziehen, aus Angst, welches Grauen auf seinen eigenen Ländereien entfesselt werden könnte!«
»Es tut mir so Leid«, murmelte Aran. »Dein Vater…«
Mit diesen Worten fing Coryn die Erinnerung an längst vergangene Schmerzen ein, an Verluste, die erlitten und nie vergessen worden waren. Nie vergessen. Arans Vater und Großvater waren bei einer Gerölllawine ums Leben gekommen, als er sieben oder acht gewesen war, alt genug, um sich an sie zu erinnern, aber noch jung genug, um die Führung eines liebenden Elternteils zu benötigen. Seine Mutter, beraubt und verbittert, hatte sich nach innen und ihrem Kummer zugewandt, es Aran und seinen Brüdern überlassen, selbst einen Weg durch die stürmischen, einsamen Jahre zu finden, die folgten. All das hatte er Coryn flüsternd erzählt, als sie beim Mittsommerfest in ihrem zweiten Jahr schlaflos und ein wenig betrunken die Nacht durchwacht hatten.
»Und tags darauf ist Kristlin gestorben«, sagte Coryn mit hohler Stimme.
Rafe nickte und bedeckte das Gesicht mit einer frisch vernarbten Hand, um seine Tränen zu verbergen.
Coryn hatte Kristlin zwei Jahre nicht mehr gesehen. Das letzte Mal war er bei einem Mittsommerfest zu Hause gewesen. Er hatte geglaubt, es würde immer ein weiterer Mittsommer folgen und dann ja noch eine Hochzeit geben …
»Und Petro? Tessa? Margarida? Ruella, meine alte Amme? Der Coridom? Der alte Timas?«
Rafe kniff die Lippen zusammen und rang innerlich um seine Fassung. »Petro und die anderen Damiselas, sie leben noch, aber wie es um sie bestellt ist, kann ich nicht sagen. Ruella – Timas – diese Namen kenne ich nicht, aber von den Alten haben es nur wenige geschafft. Das Fieber hat sie am härtesten getroffen, sie und die Kleinen. Ich habe mich an der Grenze zu High Kinnally aufgehalten und bin erst spät zurückgekommen«, fügte er hinzu, als müsse er etwas erklären oder um Vergebung bitten.
Coryn erhob sich mühsam, und Arans Hand glitt von seiner Schulter. »Ich bereite meine Rückkehr vor … wegen der Bestattungen …«
Kieran sagte: »Wer an Lungenfäule stirbt, kann nicht bestattet werden. Die Leichen müssen verbrannt und die Asche mit Salz vermengt werden, um eine weitere Ansteckung zu verhindern.«
»Das ist mir gleich.« Vor Coryn verschwamm alles. »Das ist meine Familie – ich muss nach Hause.«
Rafe hob den Kopf. »Euer Bruder Eddard, er ist jetzt Lord Leynier, bat mich Euch zu sagen, dass er und einer seiner Söhne noch am Leben sind. Er sagt – er sagt …« Er betonte das Wort auf eine Weise, dass es wie er befahl klang. »… Ihr sollt nicht kommen, solange noch Gefahr durch die Lungenfäule droht.«
»Nicht kommen – gerade so, als wären es Fremde und als würde mir ihr Leben nichts bedeuten?« Coryn hörte, wie schrill seine Stimme klang, und sein Atem ging stoßweise. »Was soll ich machen? So tun, als wäre nichts passiert? Um Himmels willen, hält mein Bruder mich für dermaßen gefühllos oder glaubt er, der Turm hätte mich des letzten Quäntchens Mut beraubt?«
Wir hätten dich fast an die Schwellenkrankheit verloren, übermittelte Kieran ihm geistig. Ich werde nicht zulassen, dass du wegen einer verfluchten Seuche noch einmal dein Leben aufs Spiel setzt.
»Wenn deinen Brüdern etwas zustößt, wirst du der nächste Lord von Verdanta«, beschwor Aran ihn. »Du musst hier bleiben, wo du in Sicherheit bist.«
»Wenn dieses Grauen vorbei ist, muss es noch jemanden geben, der sich High Kinnally entgegenstellen kann«, fügte Rafe hinzu, und seine Stimme hatte einen eisigen Unterton.
»Kinnally …« Lianes Familie! »Hat die Seuche auch Storn heimgesucht?«
»Wer weiß?« Rafe sah aus, als wolle er ausspeien, wagte das jedoch hier in den Privatgemächern des Bewahrers nicht. »Wir haben ihnen keine Kunde geschickt und sie uns auch keine! Jedenfalls behauptet Lord Eddard das.«
»Aus Neskaya drang ebenfalls keine Kunde«, merkte Kieran sanft an, was bedeutete, dass über die Relais keine Nachrichten verbreitet worden oder Hinweise erfolgt waren, wer verantwortlich sein könnte.
Erneut dachte Coryn daran, nach Hause zurückzukehren, doch er hatte den verzweifelten Überlebenden nichts zu bieten, nicht einmal Geld, um Lebensmittel für den nächsten Winter zu kaufen. Er konnte nicht einfach untätig in Tramontana herumsitzen. Aber er konnte auch nichts tun, um Lord Beltran oder Kristlin zurückzubringen oder den Verlauf der Seuche zu ändern.
Plötzlich fiel ihm ein, wie er doch etwas tun konnte, selbst aus dieser Entfernung. Nicht im Hinblick auf diese Krise, sondern auf andere, die noch kommen würden.
»Mit Eurer Erlaubnis«, sagte er, nickte Kieran zu und wandte sich dann an Rafe, »werde ich diesem braven Mann einen Botenvogel nach Hause mitgeben und meinem Bruder ausrichten lassen, dass er ihn im Falle eines Waldbrands freigeben soll. Dann werde ich Chemikalien schicken, die ich selbst hergestellt habe.«
»Das ist ein gutes Angebot«, sagte Kieran. »Nun, junger Aran, bring diesen Mann hinunter in die Küche, damit er etwas Warmes zu essen bekommt, und gib Acht, dass sein Tier gut versorgt wird. Sie haben sich beide etwas Ruhe verdient.«
Coryn blieb noch in den Gemächern des Bewahrers, nachdem die anderen schon fort waren. Seine Gedanken überschlugen sich. Es gab so viel, wovon er sich wünschte, es gesagt zu haben oder dass es ungesagt geblieben wäre. Nun, da die Nachricht eingetroffen war, durchdräng der Schmerz seinen Körper wie ein Pfeil mit einer Flammenspitze, nur um im nächsten Moment Taubheit zu weichen.
»Das ist ein schwerer Verlust«, sagte Kieran. »Und solche Dinge bedürfen einer langen Zeit der Trauer, selbst wenn wir sie vorhergesehen haben. Ich glaube, dass wir weniger vergessen als vielmehr ein neues Gleichgewicht erreichen müssen.« Etwas in seinem Tonfall sagte Coryn, dass er aus eigener Erfahrung sprach. »Du brauchst uns für eine Weile nicht im Kreis zu unterstützen.«
»Ich … ich möchte gern arbeiten. Ich glaube, es würde mir helfen, nicht immer an … all die Dinge zu denken, die mir im Kopf herumgehen.«
»Manchmal ist es so besser. Wenn du das willst, musst du dich erst von Gareth untersuchen lassen, um sicherzugehen, dass du auch arbeitsfähig bist. Kummer kann unser Urteilsvermögen in vieler Hinsicht beeinträchtigen, nicht zuletzt unsere eigene Klarheit.«
Das ergab Sinn, selbst in Coryns benommenem Zustand. Er kehrte in sein Zimmer zurück, wo er für eine Zeitspanne, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, zusammengekrümmt auf der Bettdecke lag, bis Liane hereinkam. Sie legte sich neben ihn, schmiegte ihren Körper an seinen, schlang die Arme um ihn und hielt ihn, bis stumme Tränen kamen und gingen und er schließlich einschlief.