Читать книгу Gesammelte Werke von Cicero - Марк Туллий Цицерон - Страница 6

Drittes Buch

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Inhaltsverzeichnis

Kap. I. (§ 1.) Die Lust, mein Brutus, würde, wenn sie für sich allein spräche und keinen zu hartnäckigen Schutzpatron hätte, nachdem sie im vorgehenden Buche widerlegt worden, der Würde der Tugend wohl weichen. Denn sie wäre unverschämt, wenn sie noch länger die Tugend bekämpfen oder das Angenehme über das Sittliche stellen und behaupten wollte, dass die Lust des Körpers und die daraus entspringende Fröhlichkeit mehr werth sei, als der Ernst und die Festigkeit der Gesinnung. Wir wollen deshalb die Lust verabschieden und sagen, sie solle in ihrem Gebiete bleiben, und den Ernst der Untersuchung nicht durch ihre Schmeicheleien und Lockungen stören. (§ 2.) Es fragt sich also von Neuem, wo das höchste Gut zu suchen ist, nachdem die Lust aus ihm entfernt worden, und die Gründe gegen die Lust auch denen entgegen gestellt werden können, welche die Schmerzlosigkeit zum höchsten Gute erheben. Danach kann als höchstes Gut nichts gelten, was der Tugend entbehrt, welche das Vortrefflichste von Allem bleibt. Wenn ich daher auch in meinem Gespräch mit Torquatus nicht lässig verfahren bin, so habe ich doch jetzt einen schwerem Kampf gegen die Stoiker zu führen. Was die Epikureer für die Lust geltend machen, ist weder scharfsinnig noch tiefsinnig; die Vertheidiger der Lust sind weder gewandt im Erörtern, noch haben ihre Gegner mit einer schweren Aufgabe zu thun. (§ 3.) Epikur sagt ja selbst, man brauche für die Lust keiner Beweise, weil schon die Sinne hierüber entschieden; deshalb genüge es, darauf aufmerksam zu machen, einer Begründung bedürfe es hier nicht. Daher war unsre vorige Besprechung für beide Theile einfach und es waren weder die Ausführungen des Torquatus verwickelt oder gewunden, noch die meinigen dunkel. Dagegen kennst Du ja die spitzfindige und dornige Weise der stoischen Untersuchungen, und wenn dies schon für die Griechen gilt, so noch mehr für uns, die wir Euch die Worte erst schaffen und den neuen Dingen neue Namen geben müssen. Niemand mit nur mässigen Kenntnissen wird sich hierüber wundern, wenn er bedenkt, dass in jeder Kunst, deren Uebung nicht alltäglich und von Allen geschieht, es eine Menge neue Worte geben muss, welche für die ihr eigenthümlichen Gegenstände gebildet werden müssen. (§ 4.) Deshalb gebrauchen auch die Dialektiker und Naturforscher viele Worte, die nicht einmal den Griechen bekannt sind, und ebenso sprechen die Messkünstler und die Musiker und die Sprachlehrer, Jeder in seiner eigenen Weise. Selbst bei dem Unterricht in der Kunst der Volksredner, die nur vor den Gerichten und dem Volke geübt wird, gebraucht man ganz besondere und eigenthümliche Ausdrücke.

Kap. II. Aber auch abgesehn von den feinem und freien Künsten, können selbst die Handwerker ihr Gewerbe nicht betreiben, wenn sie sich nicht der ihnen geläufigen, aber uns unbekannten Worte bedienen; ja selbst der Ackerbau, der aller Feinheit und Bildung entbehrt, hat doch den Gegenständen, mit denen er zu thun hat, besondere Namen gegeben. Um wie viel mehr hat also der Philosoph so zu verfahren, da die Philosophie die Kunst des Lebens ist und man bei ihren Untersuchungen die Worte nicht vom Markte holen kann. (§ 5.) Wenn auch die Stoiker von allen Philosophen die meisten Neuerungen eingeführt haben, so war doch Zeno, ihr Stifter, weniger ein Erfinder neuer Dinge, als neuer Worte. Wenn es nun in jener Sprache, die meist für die reichste gehalten wird, den gelehrtesten Leuten erlaubt ist, über die nicht alltäglichen Dinge sich ungebräuchlicher Worte zu bedienen, so wird dies um so mehr uns Römern gestattet sein, die wir erst jetzt diesen Gegenstand in unserer Sprache zu behandeln wagen. Auch habe ich oft gesagt und zwar zu eigenem Verdrusse nicht blos der Griechen, sondern auch Derer, die lieber für Griechen, als für Unsrige gelten wollen, dass die Griechen uns nicht im Wortreichthum übertreffen, sondern dass wir vielmehr ihnen darin überlegen seien. Wir haben daher zu sorgen, dass wir dies nicht blos in unsern eigenen Künsten, sondern auch in den ihrigen bewähren. Wenn ich trotzdem einzelne griechische Worte, weil es einmal so hergebracht ist, statt der lateinischen gebrauche, z.B. die Worte Philosophie, Rhetorik, Dialektik, Grammatik, Geometrie, Musik, so meine ich, dass sie, obgleich auch lateinische Worte dafür gesetzt werden könnten, doch in Folge des langen Gebrauchs, auch als uns angehörig gelten können. So viel über die Namen der Dinge. (§ 6.) Aber bei den Dingen selbst kommt mir, mein Brutus, dafür die Sorge, ich möchte getadelt werden, dass ich Dir dies schreibe, der Du in der Philosophie überhaupt und in der bessern Gattung derselben so weit vorgeschritten bist. Allerdings würde ich deshalb mit Recht getadelt werden können, wenn ich es thäte, um Dich zu belehren; allein davon bin ich weit entfernt; ich sende Dir diese Schrift nicht, damit Du daraus lernst, was Dir bereits wohl bekannt ist, sondern weil ich am liebsten bei Deinem Namen verweile und weil ich an Dir den billigsten Beurtheiler und Richter für die Bestrebungen habe, welche uns Beiden gemeinsam sind. Du wirst mir also hoffentlich Deine gewohnte Aufmerksamkeit schenken und den Streit entscheiden, welchen ich mit Deinem Oheime, jenem göttlichen und ausgezeichneten Manne, gehabt habe. (§ 7.) Ich war nämlich auf meinem Landgute bei Tusculum und wollte einige Bücher aus der Bibliothek des jungen Lucull benutzen; ich ging deshalb nach seinem Landhause, um sie mir, wie ich gewöhnt war, selbst zu holen. Dort angekommen, traf ich wider Erwartenden M. Cato, er sass in der Bibliothek, umgeben von einer Menge Schriften der Stoiker. Denn Du weist ja, von welcher unverwüstlichen Begierde nach Büchern er beseelt war; er konnte sich so wenig daran sättigen, dass er, ohne Scheu vor dem leeren Gerede der Menge, selbst in der Halle des Senats während der Zeit zu lesen pflegte, wo die Senatoren sich versammelten und er den öffentlichen Geschäften damit nichts entzog, um so mehr schien er mir damals bei voller Musse und mitten in einem reichen Bücherschatz in den Büchern zu schwelgen, wenn ich dieses Wort für eine so edle Sache gebrauchen darf. (§ 8.) Als wir uns so unvermuthet trafen, erhob er sich sofort und begann mit dem, was man bei solchem Begegnen zunächst zu sagen pflegt. – Was machst Du hier? sprach er; denn ich glaube, Du kommst von Deinem Landhause, und hätte ich gewusst, dass Du dort seiest, so wäre ich selbst zu Dir gekommen. – Ich habe gestern, antwortete ich, beim Beginn der Spiele die Stadt verlassen und bin Abends angelangt. Jetzt komme ich hierher, um mir einige Bücher zu holen. Und dieser Bücherschatz, mein Cato, muss wohl unserm Lucull schon bekannt sein; denn es wäre mir lieber, wenn er sich an diesen Büchern mehr als an dem übrigen Schmuck dieses Landhauses ergötzte. Es liegt mir gar viel daran, dass er, obgleich es eigentlich Dein Amt ist, sich unterrichte und damit seinem Vater und unserm Cäpio und Dir, seinem nahen Anverwandten, Ehre mache. Ich sorge mich nicht ohne Grund, da ich auch seines Grossvaters mit Rührung gedenke. (Du weist ja, wie hoch ich den Cäpio gehalten habe, der, wenn er noch lebte, meiner Ansicht nach jetzt zu den Ersten des Staates gehören würde.) Ebenso steht mir Lucull vor Augen, ein Mann, der sich in Allem auszeichnete und mit dem mich eine innige Freundschaft und gleiche Ansichten verbanden. – (§ 9.) Es ist edel von Dir, sagte er, dass Du Derer gedenkst, die Beide in ihrem letzten Willen Dir ihre Kinder empfohlen haben, und dass Du den Knaben liebst. Wenn Du aber meinst, dies sei mein Amt, so lehne ich es zwar nicht ab, aber nehme Dich zum Gehülfen. Dazu kommt, dass der Knabe mit Rücksicht auf sein noch jugendliches Alter schon viele Anzeichen von Sitte und Verstand hat blicken lassen. – Ich bin dazu bereit, erwiderte ich, allein trotz dem muss er doch schon in jene Wissenschaften eingeführt werden, und wenn er damit in seiner zartem Jugend getränkt worden, so wird er am so vorbereiteter an das Grössere herantreten. – Du hast Recht, sagte Cato, wir wollen dies fleissig und häufig mit einander besprechen und gemeinsam handeln. Aber lass uns niedersetzen. – Dies geschah.

Kap. III. (§ 10.) Er begann dann: Du hast doch selbst so viele Bücher; welche suchst Du denn hier? – Ich wollte einige Commentare zu Aristoteles, sagte ich, von denen ich wusste, dass sie hier sind, holen und in der Mussezeit lesen, die uns, wie Du weisst, nicht oft zu Theil wird. – Wie gern, sagte er, hätte ich es gesehn, dass Du zu den Stoikern Dich gehalten hättest; denn wenn irgend Einem, so war es Dir gegeben, nur die Tugend als höchstes Gut anzusehn. – Bedenke, sagte ich, ob es nicht mehr noch Dir zukam, da wir in der Sache einig sind, ihr keinen neuen Namen zu geben; denn unsre Vernunft ist einstimmig, nur unsre Reden bekämpfen sich. – Keineswegs, sagte er, ist jene einstimmige, denn wenn Du neben dem Sittlich-Guten noch etwas Weiteres hinstellst und zu den Gütern rechnest, so löschest Du das Sittliche selbst, das Licht der Tugend, gleichsam aus und zerstörst die Tugend von, Grund aus. – (§ 11.) Dies klingt, mein Cato, sehr erhaben; aber siehst Du nicht, dass der Glanz der Worte mit Pyrrho und Aristo, die Alles gleich machen, theilst? Ich möchte wohl wissen, was Du über diese denkst? – Was ich über sie denke, fragst Du? Ich meine, sie sind wie viele Andre gute, tapfre, gerechte und mässige Männer im Staate gewesen, wie wir dies theils gehört, theils selbst bei solchen gesehn haben. Ohne allen Unterricht, nur der Natur folgend, haben sie viel Lobenswerthes gethan. Die Natur hat sie besser unterrichtet, als die Philosophie es vermocht hätte, wenn sie einer andern als der sich zugewendet hätten, welche das Sittliche allein für ein Gut erklärt und das Schlechte allein für ein Uebel. Alle übrigen philosophischen Systeme rechnen, das eine mehr, das andere weniger, noch Anderes ausserhalb der Tugend zu den Gütern und zu den Uebeln; und damit fördern und befestigen sie nach meiner Meinung unsre sittliche Besserung nicht, sondern verderben nur unsre Natur. Denn wenn man nicht festhält, dass nur das Sittliche ein Gut sei, so kann man in keiner Weise beweisen, dass ein glückliches Leben durch die Tugend erreichbar sei. Sollte dies aber nicht der Fall sein, so wüsste ich nicht, weshalb man sich mit der Philosophie bemühen sollte; könnte ein Weiser unglücklich sein, so würde auch ich die ruhmvolle und gepriesene Tugend nicht für besonders schätzenswerth erachten. –

Kap. IV. (§ 12.) Was Du, mein Cato, bis jetzt gesagt hast, erwiderte ich, könntest Du auch sagen, wenn Du dem Pyrrho und Aristo Dich anschlössest. Denn Du weisst, dass Beide dieses Sittliche nicht allein für das höchste, sondern auch, wie Du willst, für das einzige Gut halten. Ist dem so, dann folgt von selbst, was Du willst, nämlich dass der Weise immer glücklich ist. Billigst Du also deren Ansichten, und meinst Du, wir sollen ihnen folgen? – Keineswegs, sagte er. Denn es ist das Eigenthümliche der Tugend, dass sie unter den der Natur gemässen Dingen eine Auswahl trifft; diese Männer dagegen haben Alles gleich gemacht und alle Gegensätze damit so ausgeglichen, dass keine Auswahl mehr getroffen werden kann und die Tugend selbst aufgehoben ist. – (§ 13.) Du hast hier ganz Recht, sagte ich, aber wirst Du nicht ebenso verfahren müssen, wenn Du neben dem Sittlichen kein Gilt weiter gelten lässt und damit allen Unterschied in den übrigen Dingen aufhebst? – Du hättest Recht, sagte er, wenn ich dies thäte; aber ich lasse einen Unterschied bestehen. – (§ 14.) Auf welche Weise denn? fragte ich. Wenn die Tugend nur eine und nur Eines, was Du das Sittliche nennst, das Rechte, Löbliche und Geziemende sein soll (denn sein Wesen wird bekannter, wenn es mit mehreren, gleichbedeutenden Worten ausgedrückt wird); wenn also, sagte ich, dies das alleinige Gute ist, was habt Ihr da sonst noch Begehrenswerthes? Und wenn es kein Uebel giebt, ausser dem Schlechten, Unsittlichen, Unanständigen, Bösen, Lasterhaften, Scheusslichen (um auch dies durch mehrere Namen kenntlicher zu machen), was kann es da daneben noch geben, was man fliehen müsste? – Du weisst recht gut, erwiderte er, was ich Dir sagen soll; allein es scheint, dass Du aus meiner kurzen Antwort nur Etwas hast herausreissen wollen; ich werde daher auf das Einzelne nicht antworten, sondern, da wir Zeit haben, wenn es Dir recht ist, die ganze Lehre des Zeno und der Stoiker erklären. – Dies ist mir vollkommen recht, sagte ich; Deine Darstellung wird viel zur Aufklärung dessen beitragen, was wir suchen. – (§ 15.) So will ich es versuchen, sagte er, wenn auch diese Lehre der Stoiker ihre Schwierigkeiten und Dunkelheiten hat. Wenn einst in griechischer Sprache die Worte für neue Gegenstände das Verständniss erschwerten und sie nur durch ihren langen Gebrauch geläufig geworden sind, wie wird es da mit unsrer Sprache stehn? – Doch nicht so schlimm, sagte ich. Wenn Zeno für ungewohnte und unbekannte Dinge, die er entdeckt hatte, neue Worte gebrauchen durfte, weshalb sollte dies nicht auch Cato dürfen? Indess ist es nicht nöthig, ein Wort nur durch ein Wort auszudrücken, wie ungeschickte Erklärer pflegen, wenn ein Wort gleichen Sinnes gebräuchlich ist; ich pflege vielmehr, wenn ich nicht anders kann, das eine griechische Wort durch mehrere lateinische auszudrücken. Auch muss es uns dabei gestattet sein, selbst ein griechisches Wort zu gebrauchen, wenn sich kein passendes in unsrer Sprache finden lässt, und man kann dies nicht blos bei den ephittiois und den akratophorois, sondern auch bei den proêgmenois und apoproêgêenois thun, obgleich man letztere mit »Vorgezogene« und »Verworfene« richtig wiedergeben könnte. – (§ 16.) Recht, sagte er, dass Du mir hilfst, und für jene griechischen Worte will ich die von Dir genannten lateinischen brauchen; bei andern magst Du mir helfen, wenn Du merkst, dass ich stocke. – Sehr gern soll es geschehn, sagte ich. Allein das Glück geht mit den Tapfern, deshalb bitte, fange an. Denn es giebt nichts Herrlicheres, was wir besprechen könnten. –

Kap. V. Cato begann hierauf: Jene Männer, denen ich beitrete, sind der Ansicht, dass jedes Geschöpf gleich von seiner Geburt ab (denn damit muss man beginnen) für sich selbst und seine Erhaltung sorgt, indem es das, was seinen Zustand erhalten kann, auch dazu auswählt, während es seinen Untergang und Alles verabscheut, was diesen Untergang herbeiführen kann. Jene Männer beweisen dies damit, dass die jungen Thiere, schon ehe sie den Schmerz und die Lust empfunden haben, das ihnen Heilsame aufsuchen und das Entgegengesetzte verabscheuen, was nicht sein könnte, wenn sie ihren Zustand nicht liebten und ihren Untergang nicht fürchteten; denn sie könnten nichts aufsuchen, wenn sie kein Gefühl von sich selbst hätten und wenn sie nicht sich liebten. Hieraus erhellt, dass der oberste Gegensatz unsrer Lehre von der Selbstliebe entlehnt ist. (§ 17.) Zu diesen ersten natürlichen Trieben darf nach der Ansicht der meisten Stoiker die Lust nicht gerechnet werden, und ich stimme ihnen durchaus bei, denn wenn die Natur die Lust in das zuerst Begehrte mit aufgenommen hätte, würde viel Schlechtes folgen. Dagegen erklärt es sich genügend, weshalb wir das lieben, was die Natur als Erstes hingestellt hat; denn Jedermann wird, wenn er die Wahl hat, lieber alle Theile seines Körpers unverletzt und brauchbar haben mögen, als bei gleichem Gebrauch verstümmelt und verrenkt. Die Kenntnisse von den Dingen, die man entweder Begriffe oder Vorstellungen, oder wem diese Worte weniger gefallen oder weniger verständlich sind, katalêpseis nennen kann, sind nach unsrer Ansicht um ihrer selbst willen zu erwerben, weil sie in sich etwas gleichsam Zusammengefasstes haben, was die Wahrheit enthält. Dies kann man schon an den Kindern bemerken, die sich freuen, wenn sie, auch ohne Nutzen davon zu haben, etwas durch ihren Verstand aufgefunden haben. (§ 18.) Auch die Künste und Wissenschaften sind, nach unsrer Meinung, um ihrer selbst willen zu erwerben, denn theils enthalten sie etwas der Annahme Werthes, theils bestehn sie in Kenntnissen und enthalten etwas an sich Vernünftiges und Geordnetes. Dagegen hat man der Zustimmung zu dem Falschen sich mehr, wie alles anderen Naturwidrigen zu enthalten. Unter den Gliedern, d.h. unter den Bestandtheilen des Körpers scheinen nun manche ihres Nutzens wegen von der Natur gegeben zu sein, wie die Hände, die Beine, die Füsse und ebenso die innerlichen Körpertheile, deren grosse Nützlichkeit auch von den Aerzten dargelegt wird; andre Theile scheinen aber nicht des Nutzens wegen, sondern gleichsam zur Zierde gegeben zu sein, wie der Schweif dem Pfau, die schillernden Farben den Tauben, die Brustwarzen und der Bart den Männern. (§ 19.) Dies klingt zwar etwas nüchtern; allein es sind gleichsam die ersten Elemente der Natur, bei denen die Fülle des Vortrages sich nicht zeigen kann und die ich auch nicht anwenden mag: erst wenn man grossartigere Dinge behandelt, reisst die Sache auch die Rede mit fort, und der Vortrag wird dann bedeutender und glänzender. – So ist es, sagte ich. Indess halte ich jeden klaren Ausspruch über einen guten Gegenstand auch für einen vortrefflichen. Bei diesen Dingen einen schönen Vortrag anzubringen, scheint mir kindisch, während es bei einem Manne ein Zeichen seiner Gelehrsamkeit und Einsicht ist, wenn er diese Dinge einfach und klar vorzutragen vermag. –

Kap. VI. (§ 20.) So wollen wir weitergehn, sagte er; wir sind nämlich von den Anfängen der Natur abgekommen, mit denen die Folgesätze übereinstimmen müssen. Als erste Eintheilung ergiebt sich die: Werthvoll (denn so glaube ich es nennen zu können) ist, was entweder selbst der Natur gemäss ist oder dergleichen bewirkt und deshalb den Vorzug verdient, weil es ein der Werthschätzung würdiges Gewicht hat; die Stoiker nennen es axian; dem entgegen steht das Werthlose, was das Gegentheil des Vorigen ist. Wenn so die Grundlagen gelegt sind, dass das der Natur Gemässe an sich selbst zu wählen und das Entgegengesetzte zu verwerfen ist, so ist die erste Pflicht (denn das kathêkon nenne ich so), dass man sich in seinem natürlichen Zustand erhalte und ferner, dass man das der Natur Gemässe einhalte, und das Entgegengesetzte von sich weise. Ist diese Wahl und diese Abweisung gefunden, so folgt die pflichtmässige Auswahl und demnächst die beharrliche Auswahl, welche bis zum Aeussersten beständig und der Natur gemäss bleibt. In dieser beginnt zuerst das wahrhaft Gute sich zu entwickeln und seine Natur erkannt zu werden. (§ 21.) Denn das Erste ist die Befreundung des Menschen mit dem Naturgemässen; sobald er aber die Einsicht oder vielmehr den Begriff erlangt hat, den die Stoiker ennoian nennen, und sobald er die Ordnung und so zu sagen die Eintracht der zu vollführenden Handlungen erkannt hat, so schätzt er diese noch viel höher als Alles, was er früher geliebt hatte, und so schliesst er durch seine Kenntniss und Vernunft, dass hierin das höchste, an sich lobenswerthe und zu begehrende Gut für den Menschen enthalten sei. Somit liegt dasselbe in dem, was die Stoiker homologian und wir, wenn es beliebt, Uebereinstimmung nennen; auf dieses darin enthaltene höchste Gut ist Alles zu beziehen, das sittliche Handeln und die Sittlichkeit selbst, die allein als ein Gut gilt, und wenngleich sie erst später entsteht, so ist doch sie allein ihrer Kraft und Würde wegen zu erstreben, und von dem, was die Anfänge der Natur sind, ist nichts au sich zu begehren. (§ 22.) Allein da das, was ich die Pflichten genannt habe, von diesen Anfängen der Natur ausgebt, so muss man die Pflichten auf diese Anfänge beziehn, damit man richtig sagen kann, wie alle Pflichten sich darauf beziehn, dass man die Anfänge der Natur verlange; allein deshalb sind sie nicht das höchste Gut, denn in den ersten Anregungen der Natur ist das sittliche Handeln noch nicht enthalten, vielmehr ist es, wie gesagt, nur die Folge und entsteht erst später. Indess ist das sittliche Handeln der Natur gemäss und fordert uns viel mehr auf, es zu erstreben, als alles Vorhergehende. Doch muss hier zunächst der Irrthum beseitigt werden, als könnte man meinen, es ergäben sich hieraus zwei höchste Güter. Wir nennen dasjenige das höchste der Güter, wie wenn Jemand sich zur Aufgabe setzt, mit einem Speere oder einem Pfeile wohin zu treffen; ebenso verlegen wir das Endziel in das Gute. So wie Jener, um bei diesem Gleichnisse zu bleiben, Alles thun muss, um das Ziel zu treffen, so bleibt doch, wenn er auch Alles thun muss, um dies zu erreichen, dieses Zielen das Höchste. Dasselbe gilt für das, was wir als das höchste Gut für das Leben erklären; man hat danach zu zielen, aber das Treffen ist nur zu wählen, nicht zu begehren.

Kap. VII. (§ 23.) Wenn nun alle Pflichten von den Anfängen der Natur ausgehen, so muss dies auch für die Weisheit gelten. So wie es aber sich häufig trifft, dass wenn Jemand an einen Andern empfohlen ist, er diesen werther hält als Den, welcher ihn empfohlen hat, so kann es auch nicht auffallen, dass wir zuerst von den Anfängen der Natur an die Weisheit empfohlen werden und dass später die Weisheit uns doch theurer wird als das, von dem aus wir zu ihr gelangt sind. Und so wie die Glieder uns in der Weise gegeben sind, dass sie für bestimmte Thätigkeiten im Leben dienen sollen, so ist auch das Begehren der Seele, was griechisch hormê heisst, nicht für jede Art des Lebens, sondern zu gewissen bestimmten Weisen des Lebens nach meiner Meinung gegeben, und dasselbe gilt für die Vernunft und für die vollkommene Vernunft. (§ 24.) So wie dem Schauspieler nicht jede Stellung, dem Tänzer nicht jeder Sprung, sondern ein bestimmter vorgeschrieben ist, so muss auch das Leben nach einer gewissen Weise geführt werden und nicht auf jede beliebige Weise; jene heisst die übereinstimmende und gemässe. Nach unsrer Ansicht ist die Weisheit nicht der Steuermannskunst und nicht der ärztlichen Kunst ähnlich, sondern mehr jener erwähnten Kunst des Schauspielers und Tänzers, so dass in ihr selbst die Wirksamkeit der Kunst enthalten ist und ihr Zweck nicht von Aussen entlehnt wird. Indess ist auch von diesen Künsten die Weisheit dadurch unterschieden, dass das richtige Handeln bei jenen nicht alle Theile umfasst, aus denen diese Künste bestehn; dagegen enthalten die Handlungen, die wir rechte oder recht geschehen, wenn's gefällt, nennen wollen und die bei den Griechen katorthômata heissen, alle Bestandtheile der Tugend. Denn nur die Weisheit ist ganz in sich beschlossen, was bei den andern Künsten nicht der Fall ist. (§ 25.) Nur aus Unverstand wird das Ziel der Arznei- oder Steuermannskunst mit dem Ziel der Weisheit verglichen; denn die Weisheit befasst auch die Seelengrösse und die Gerechtigkeit, und sie meint, dass Alles, was den Menschen treffen könne, unter ihr stehe, was bei den übrigen Künsten nicht Statt hat. Niemand kann aber die erwähnten Tugenden festhalten, wenn er nicht annimmt, dass zwischen allen sonstigen Dingen, mit Ausnahme des Sittlichen und des Schlechten, kein Unterschied stattfindet. (§ 26.) Sehen wir nun, welche bedeutenden Folgen sich aus diesen Sätzen ergeben. Wenn es nämlich das Höchste ist (Du wirst nämlich bemerkt haben, dass ich das, was die Griechen telos nennen, bald als das Höchste, bald als das Aeusserste, bald als das Ziel bezeichne, denn man kann wohl auch das Aeusserste und Letzte das Ziel nennen), wenn es also das Höchste ist, der Natur gemäss und mit ihr übereinstimmend zu bleiben, so folgt nothwendig, dass alle Weisen immer glücklich, unabhängig und zufrieden leben, durch nichts gehemmt oder gehindert werden und nichts entbehren. Was nun nicht blos diese Lehre, über welche ich spreche, sondern auch unser Leben und unser Glück befasst, der Satz nämlich, dass wir das Sittliche für das alleinige Gut anerkennen, dies kann zwar breit und ausführlich dargelegt werden und in den gewähltesten Ausdrücken und gewichtigsten Aussprüchen rednerisch ausgeschmückt und umständlicher dargestellt werden, allein mir gefallen die kurzen und scharfen Folgesätze der Stoiker besser.

Kap. VIII. (§ 27.) Ihre Beweisführung geht also kurz dahin: Alles Gute ist lobenswerth und alles Lobenswerthe ist sittlich, daher ist das Gute auch sittlich. Scheint Dir dieser Schluss nicht richtig? Offenbar ist er es, denn das, was aus jenen beiden ersten aufgestellten Sätzen folgt, das bildet, wie Du siehst, den Schlusssatz. Man pflegt indess gegen den ersten von diesen beiden Sätzen, aus denen dieser Schluss abgeleitet worden ist, zu sagen, dass nicht jedes Gut lobenswerth sei; dagegen erkennt man an, dass alles Lobenswerthe sittlich sei. Allein es wäre sehr widersinnig, dass ein Gut nicht begehrenswerth sein sollte und dass das Begehrenswerthe nicht gefallen sollte, und wenn dies der Fall, dass es nicht geliebt werden sollte. Deshalb muss es auch gebilligt werden und ist daher auch lobenswerth, und dies ist das Sittliche. So erhellt, dass, was ein Gut ist, auch sittlich ist. (§ 28.) Dann frage ich, wer kann wohl eines elenden oder eines unglücklichen Lebens sich rühmen? Nur von einem Glücklichen kann dies geschehen. Daraus folgt, dass das glückliche Leben so zu sagen des Rühmens werth ist, und dies kann mit Recht nur bei einem sittlichen Leben zutreffen. So ergiebt sich, dass das sittliche Leben auch glücklich ist. Da nun der mit Recht Gelobte in Bezug auf Zierde und Ruhm etwas Ausgezeichnetes besitzt, so dass er deshalb mit Recht glücklich genannt werden kann, so kann man dies auch mit Recht von einem solchen Manne sagen. Wenn so das glückliche Leben in der Sittlichkeit befasst ist, so muss das Sittliche auch für das einzige Gut gelten. (§ 29.) Wie aber? Kann man wohl leugnen, dass ein Mann von beharrlicher, fester und grosser Gesinnung, den man einen tapfern nennt, unmöglich ist, wenn nicht feststeht, dass der Schmerz kein Uebel ist? Denn so wie Der, welcher den Tod zu den Uebeln rechnet, ihn fürchten muss, so kann auch Niemand das, was er für ein Uebel erklärt, verachten und sich nicht darum kümmern. Aus diesem von Jedermann gebilligten Satze folgt dann, dass ein Mensch von grossem und tapferem Gemüth Alles, was den Menschen treffen kann, verachten und für Nichts halten muss. Und ist dem so, dann ist auch erwiesen, dass nur das Sittlich-Schlechte ein Uebel ist. Der erhabene und ausgezeichnete Mann von grosser Seele, der wahrhaft tapfer ist, wird alles Menschliche unter sich stellen; er, den wir suchen und verwirklichen wollen, wird auf sich selbst und auf sein vergangenes und künftiges Leben vertrauen; er wird über sich selbst richtig urtheilen und annehmen, dass einen Weisen kein Uebel treffen könne. Auch daraus erhellt dasselbe, nämlich dass nur das Sittliche das höchste Gut ist und dass das glückliche Leben in einem sittlichen Leben und in der Tugend besteht.

Kap. IX. (§ 30.) Ich weiss indess wohl, dass bei den Philosophen hierüber verschiedene Ansichten geherrscht haben; ich meine bei denen, welche das höchste Gut, was ich das äusserste nenne, in die Seele verlegten. Wenn nun auch Manche hier fehlgegriffen haben, so kann ich doch jenen drei Philosophen, wel che die Tugend von dem höchsten. Gut getrennt haben, indem sie entweder die Lust, oder die Schmerzlosigkeit, oder das erste Naturgemässe für das höchste Gut erklärten, so wenig wie jenen anderen dreien, welche die Tugend ohne Zusatz für unzureichend hielten und deshalb von den obgenannten drei Dingen eines damit verbanden, beitreten, sondern ich stelle über sie alle Die, welche, wie auch sonst ihre Lehre beschaffen sein möge, das höchste Gut in die Seele und in die Tugend verlegt haben. (§ 31.) Allein auch Jene haben verkehrte Ansichten, welche das Leben in der Wissenschaft für das höchste Gut erklären, ebenso Die, welche keinen Unterschied in den Dingen anerkennen wollen. Nach Diesen ist der Weise glücklich, indem er keinen Gegenstand einem andern in irgend einer Beziehung vorzieht, und einige Akademiker sollen ausgesprochen haben, dass das höchste Gut und die höchste Aufgabe des Weisen darin bestehe, von dem Geschehenen sich nicht erschüttern zu lassen und seine Zustimmung mit Festigkeit zurückzuhalten. Man pflegt diese verschiedenen Ansichten ausführlich zu widerlegen, allein das Klare darf nicht lang sein, und es ist doch nichts klarer, als dass jene gesuchte und gerühmte Klugheit aufhört, wenn zwischen den Dingen, die gegen die Natur sind, und denen, die ihr gemäss sind, keine Auswahl stattfindet. Wenn man also diese hier erwähnten Ansichten und andere ähnliche bei Seite lässt, so bleibt nur als höchstes Gut ein Leben übrig, was die Wissenschaft von den Dingen und den Vorgängen in der Natur benutzt und das Naturgemässe wählt, das Naturwidrige aber abweist, d.h. ein naturgemässes Leben. (§ 32.) Wenn in den übrigen Künsten und Wissenschaften der Ausdruck »kunstgemäss« vorkommt, so ist darunter etwas gewissermaassen Späteres und erst Nachfolgendes zu verstehen, was die Stoiker epigennêmatikon nennen. Wo wir aber das Wort »weise« brauchen, da gilt es gleich von dem Ersten durchaus richtig; denn Alles, was von dem Weisen ausgeht, das muss sofort in allen seinen Theilen vollendet sein, denn darin liegt das Begehrenswerthe desselben. So wie es schlecht ist, sein Vaterland zu verrathen, die Eltern zu verletzen, die Tempel zu plündern, wo das Schlechte in der That liegt, so ist es auch schlecht, sich zu fürchten, zu trauern, wollüstige Gedanken zu hegen, auch wenn keine entsprechende That nachfolgt. So wie Alles dies sittlich-schlecht, nicht durch das Spätere und seine Folgen ist, sondern gleich im Beginn, ebenso ist das von der Tugend Ausgehende mit dem ersten Beginn auch ohne die Vollendung für recht zu halten.

Kap. X. (§ 33.) Das im Vorstehenden so oft erwähnte Gut wird auch durch eine Definition erklärt. Ihre Definitionen weichen zwar ein wenig stark von einander ab, allein sie zielen doch alle auf dasselbe hin. Ich selbst trete dem Diogenes bei, nach welchem das Gut das von Natur Vollendete ist. Das, was aus diesem ebenfalls folgt, was nützt (denn so nennen wir die ôphelêma), das nannte er eine Bewegung oder einen Zustand au dem von Natur Vollendeten. Da ferner die Begriffe der Dinge in der Seele sich bilden, wenn etwas durch Gebrauch oder vermöge der Verbindung, oder Aehnlichkeit, oder vermöge Vergleichung durch die Vernunft bekannt geworden, so ist aus diesem Vierten, was ich zuletzt genannt habe, die Kenntniss des Guten erlangt worden. Denn wenn die Seele von den Dingen, die der Natur gemäss sind, durch vernünftige Vergleichung aufsteigt, so gelangt sie zu dem Begriff des Guts. (§ 34.) Dieses Gut empfinden und nennen wir nicht deshalb so, weil etwas Anderes hinzutritt, oder wegen eines Zunehmens, oder einer Vergleichung mit Anderem, sondern auf Grund seiner eigenen Kraft. So wie der Honig, obgleich das Süsseste, doch nur durch seine eigene Art von Geschmack und nicht durch die Vergleichung mit Anderem als süss empfunden wird, so ist das Gut, worüber wir verhandeln, zwar als das Höchste zu schätzen, aber diese Schätzung beruht auf seiner Eigenart und nicht auf seiner Grösse; denn da jene Schätzung, welche axia heisst, weder zu den Gütern noch zu den Uebeln gerechnet wird, so bleibt sie in ihrer Art unverändert, so viel man sie auch vermehrt. Die Tugend hat daher ihre eigene Werthschätzung, die auf ihrer Eigenart und nicht auf einem Mehr beruht. (§ 35.) Auch könnte ich die Gemüthsbewegungen, welche das Leben der Thoren elend und bitter machen und welche die Griechen pathê nennen, in wörtlicher Uebersetzung könnte ich sie Krankheiten nennen, allein dieser Name würde nicht überall passen; denn wer wurde wohl das Mitleiden oder selbst den Zorn eine Krankheit nennen? Aber ein pathos werden sie von Jenen genannt; sie mögen also Leidenschaften heissen, wo schon der Name ihre Fehlerhaftigkeit anzudeuten scheint, und es giebt von ihnen vier Gattungen, die in mehrere Arten zerfallen, wie der Kummer, die Furcht, die Ausgelassenheit und das, was die Stoiker mit einem für Körper und Seele zugleich geltenden Namen hêdonên nennen und ich lieber Fröhlichkeit nenne, gleichsam eine freudige Erhebung der sich aufblähenden Seele. Diese Leidenschaften werden nicht durch die Kraft der Natur erweckt, sondern sind lediglich leichtsinnige Meinungen und Urtheile; der Weise wird deshalb immer frei von ihnen sein.

Kap. XI. (§ 36.) Der Satz, dass alles Sittliche um sein selbst willen zu erstreben sei, ist uns mit vielen andern Philosophen gemeinsam; denn mit Ausnahme dreier Systeme, welche die Tugend ganz von dem höchsten Gut ausschliessen, halten alle anderen Philosophen an diesem Satze fest, insbesondere die Stoiker, die nur das Sittliche allein als ein Gut anerkennen wollen. Der Beweis dafür ist leicht und schnell zu geben; denn wo gab es und wo giebt es jetzt Jemanden von so brennendem Geiz oder so ungezügelten Leidenschaften, dass er eine Sache, die er sich durch irgend ein Verbrechen verschaffen will, nicht zehnmal lieber, selbst bei angenommener völliger Straflosigkeit ohne Unthat, als auf jene Weise erlangen mag? (§ 37.) Und welchen Nutzen und Vortheil hätte man wohl vor Augen, wenn man das Verborgene zu erforschen strebt, und die Art, in welcher, und die Ursachen, durch welche die Himmelskörper sich bewegen? Wer ist so in seine bäurischen Beschäftigungen versunken oder so gegen die Erforschung der Natur verhärtet, dass er von den wissenswerthen Dingen sich wegwendet und sie, so weit sie keine Lust oder keinen Nutzen gewähren, nicht mag und für Nichts achtet? Und wer freut sich nicht in seiner Seele, wenn er von den Thaten, Reden, Plänen solcher Vorfahren, wie der mit dem Beinamen der Afrikaner geehrten Männer oder meines Urgrossvaters, den Du immer, im Munde führst, und anderer tapferer und in jeder Tugend hervorragender Männer hört? (§ 38.) Und wer wird umgekehrt, wenn er in einer braven Familie unterrichtet und wie ein freier Mann erzogen worden ist, nicht durch die Schlechtigkeit an sich verletzt, selbst wenn er keinen Schaden davon hat; wer kann mit ruhiger Miene Den sehen, der eine schmutzige und lasterhafte Lebensweise führt? Wer hasst nicht die Schmutzigen, die Eitlen, die Leichtfertigen, die Unzuverlässigen? Wer kann, wenn die Schlechtigkeit nicht um ihrer selbst willen gemieden werden soll, behaupten, dass die Menschen in der Einsamkeit und Finsterniss nicht alle Schandthaten begehen werden, wenn das Schändliche nicht durch seine eigene Hässlichkeit sie abschreckt? Man kann Unzähliges hierüber sagen, es ist aber nicht nöthig, denn nichts ist zweifelloser, als dass das Sittliche um sein selbst willen zu suchen und ebenso das Schlechte um sein selbst willen zu fliehen ist. (§ 39.) Nachdem somit der vorher besprochene Satz feststeht, dass das Sittliche allein ein Gut ist, so erhellt, dass das Sittliche auch höher steht als jene Mitteldinge, die erst durch dasselbe erlangt werden. Wenn wir aber sagen, dass die Thorheit und Furchtsamkeit oder Ungerechtigkeit wegen der aus ihnen hervorgehenden Folgen vermieden werden müssen, so ist damit nichts behauptet, was dem früher aufgestellten Satze, wonach nur das Schlechte das alleinige Uebel ist, widerspräche; denn diese Folgen sind nicht von dem körperlich Unangenehmen, sondern von den schlechten Handlungen zu verstehen, welche aus den Lastern hervorgehn; denn das, was die Griechen kakias nennen, möchte ich eher Laster als Bosheiten übersetzen. –

Kap. XII. (§ 40.) Du gebrauchst, mein Cato, sagte ich, vortreffliche Worte, welche das, was Du im Sinne hast, genau ausdrücken. Du scheinst mir daher die Philosophie schon lateinisch zu lehren und ihr gleichsam das Bürgerrecht bei uns zu geben. Bisher war sie nur ein Fremdling in Rom, der sich nicht in unsere Unterhaltungen mischte; namentlich gilt dies für die Philosophie der Stoiker wegen der gefeilten Schärfe ihrer Begriffe und Ausdrücke. Ich kenne allerdings Leute, die in jeder Sprache philosophiren zu können meinen, denn sie gebrauchen weder Eintheilungen, noch Definitionen und erklären, dass sie nur das gelten lassen, dem die Natur von selbst zustimme. Daher machen ihnen in klaren Dingen ihre Ausführungen wenig Mühe. Ich gebe deshalb eifrig auf Dich Acht und ich merke mir Namen, mit denen Du die hier besprochenen Gegenstände bezeichnest, da ich vielleicht auch davon Gebrauch machen werde. So scheinst Du mir auch die Laster ganz richtig als Gegensatz der Tugenden, unserm Sprachgebrauch gemäss, aufgestellt zu haben; denn was an sich Lästerung verdient, wird deshalb auch ein Laster genannt worden sein oder es kann auch vom Laster das Lästern abstammen. Hättest Du die kakia Bosheit genannt, so hätte dieses Wort uns nur zu einem einzelnen bestimmten Laster nach unserm Sprachgebrauch geführt. Jetzt ist aber das Laster das Wort, was das Gegentheil von allen Tugenden bezeichnet. – (§ 41.) Cato fuhr hierauf fort: Nachdem wir dies so festgestellt haben, folgt nun eine grosse Streitfrage, welche die Peripatetiker zu leicht behandelt haben (da sie sich nicht sehr bestimmt auszusprechen pflegen, weil ihnen die Kenntniss der Dialektik abgeht); allein Dein Karneades hat bei seiner ausgezeichneten Gewandtheit in der Dialektik und grossen Beredsamkeit die Sache in grosse Gefahr gebracht; denn er behauptet fortwährend, dass in dieser ganzen Frage die Stoiker mit den Peripatetikern sachlich einig und nur in den Worten uneinig wären. Ich finde dagegen nichts so klar, als dass die Ansichten dieser beiden Schulen mehr in der Sache, als in den Worten auseinandergehn; ich sage, die Stoiker und Peripatetiker sind weit mehr in der Sache, als in den Worten uneinig, weil die Peripatetiker Alles, was sie ein Gut nennen, auf das glückliche Leben beziehn, während wir nicht annehmen, dass Alles, was einigermaassen schätzenswerth ist, mit zu dem glücklichen Leben gehöre.

Kap. XIII. (§ 42.) Kann wohl etwas sicherer sein, als dass nach dem Grundsatz Derer, welche den Schmerz zu den Uebeln rechnen, der Weise nicht glücklich sein kann, wenn er mit der Pferdemaschine gefoltert wird? Dagegen ergiebt die Lehre Jener, welche den Schmerz nicht zu den Uebeln rechnen, dass der Weise in allen Qualen sich ein glückliches Leben bewahren kann; denn wenn dieselben Schmerzen erträglicher werden, sofern man sie für das Vaterland erträgt statt für eine geringere Sache, so ist es nicht die Natur, sondern die Meinung, welche den Schmerz stärker oder schwächer macht. (§ 43.) Auch ist es nicht richtig, dass, wenn es drei Arten von Gütern giebt, wie die Peripatetiker annehmen, mithin Jemand um so glücklicher wäre, je mehr er an Gütern des Leibes und äusserlichen Gütern besässe, auch wir dem beitreten müssten, dass Der glücklicher sei, welcher mehr von dem hat, was in Bezug auf den Körper schätzenswerth gilt. Jene nehmen allerdings an, dass das Glück des Lebens erst durch die körperlichen Annehmlichkeiten vollständig werde, aber nicht wir. Denn wir nehmen nicht einmal an, dass durch die Menge dessen, was wir wirklich als Güter anerkennen, das Leben glücklicher, oder begehrenswerther, oder schätzenswerther werde, und deshalb kann um so weniger die Menge von körperlichen Annehmlichkeiten zum Glück des Lebens beitragen. (§ 44.) Allerdings würden, wenn die Weisheit und die Gesundheit begehrenswerth wären, beide zusammen es mehr als die Weisheit allein sein; aber insofern beide nur zu den schätzenswerthen Dingen gehören sollten, sind beide zusammen doch nicht schätzenswerther, als die Weisheit allein. Wir rechnen allerdings die Gesundheit zu den schätzenswerthen Dingen, aber doch nicht zu den Gütern, und ebenso kann es kernen so schätzenswerthen Gegenstand geben, dass er über die Tugend gesetzt werden könnte. Aber die Peripatetiker nehmen dies nicht, vielmehr müssen sie eine sittliche und zugleich schmerzfreie Handlung derselben Handlung mit Schmerzen vorziehn. Wir sind anderer Ansicht; ob mit Recht oder nicht, wird nachher zur Untersuchung kommen, aber der Unterschied in den Meinungen beider Schulen kann gewiss nicht grösser sein.

Kap. XIV. (§ 45.) So wie das Licht einer Laterne von dem Lichte der Sonne verdunkelt wird und verschwindet; so wie ein Tropfen Honig in dem Aegeischen Meere durch dessen Grösse verschwindet, und wie in dem Reichthum des Crösus ein Pfennig mehr und auf dem Wege von hier nach Indien ein Schritt weiter nicht bemerkt wird, so muss, wenn das als höchstes Gut gilt, was die Stoiker dafür erklären, jene ganze Schätzung der körperlichen Dinge durch den Glanz und die Grösse der Tugend verdunkelt werden, zusammenbrechen und verschwinden. Wie die rechte Zeit, womit ich die eukairia ausdrücken möchte, durch die Verlängerung der Zeit nicht rechter wird, denn solche Gelegenheit hat ihr Maass, so kann das rechte Handeln, wie ich die katorthôsis nenne, da katorthôma, die einzelne rechte That bezeichnet, so kann also das rechte Handeln und ebenso die Harmonie und das Gute selbst, was in der Uebereinstimmung des Naturgemässen besteht, durch Zuwachs keine Steigerung erleiden. (§ 46.) Wie jene Rechtzeitigkeit, so werden auch die eben genannten Dinge durch die zeitliche Verlängerung nicht grösser, und deshalb gilt den Stoikern ein langes glückliches Leben nicht wünschenswerther und mehr zu erstreben als ein kurzes; sie benutzen hier das Gleichniss mit dem Schuh; wenn sein Werth darin liegt, dass er zum Fusse richtig passe, so können weder die vielen Schuhe den wenigen, noch die grossen Schuhe den kleinen vorgezogen werden, ebenso können auch Die, für welche alles Gute nur in der Harmonie und in der Rechtzeitigkeit bestellt, das Viele nicht dem Wenigen und das zeitlich Längere nicht dem Kürzern vorziehn. (§ 47.) Es ist nicht scharfsinnig, wenn man einwendet, ein langes Wohlsein sei höher zu schätzen, als ein kurzes, und deshalb sei auch ein lang dauernder Besitz der Weisheit mehr werth. Man bemerkt dabei nicht, dass die Schätzung des Wohlseins sich nach der Dauer bestimmt, die der Tugend aber nach dem Rechtzeitigen; wer so etwas behauptet, müsste folgerecht auch von einem guten Tod und einer guten Niederkunft behaupten, sie würden durch die Dauer besser. Man übersieht, dass Manches nach seiner Kürze, Anderes nach seiner langen Dauer geschätzt wird. (§ 48.) Nach der Lehre Derer, welche annehmen, das höchste Gut, welches wir auch das äusserste und oberste nennen, könne zunehmen, muss dann in Uebereinstimmung mit dem eben Gesagten auch angenommen werden, dass der Eine weiser sein könne als der Andere und dass der Eine mehr schlecht oder mehr recht handeln könne als der Andere, während wir dies nicht sagen können, da das höchste Gut für uns keiner Zunahme fähig ist. So wenig ein Mensch unter dem Wasser besser Athem holen kann, wenn er der Oberfläche schon so nahe ist, dass er bald auftauchen wird, als wenn er noch in der Tiefe ist, und so wenig ein junger Hund, der bald wird sehen können, mehr sieht als ein neugeborner, so bleibt auch Der, welcher dem Zustande der Tugend sich bereits genähert hat, ebenso im Elend, wie Der, welcher noch keinen Schritt dahin gethan hat.

Kap. XV. Dies klingt allerdings sonderbar, allein da das Vorhergehende unzweifelhaft gewiss und wahr ist und das Obige nur daraus folgt und damit übereinstimmt, so kann man auch an der Wahrheit dieses Letztern nicht zweifeln. Wenn wir indessen auch leugnen, dass die Tugenden oder die Laster wachsen können, so glauben wir doch, dass beide in gewisser Weise sich ausdehnen und gleichsam verbreitern können. (§ 49.) Der Reichthum hat nach Diogenes nicht blos die Kraft, dass er gleichsam zur Lust und zum Wohlbefinden hinführe, sondern dass er Beides auch schon selbst enthalte; in Bezug auf die Tugend und die übrigen Künste finde dies aber bei dem Reichthum nicht statt, hier könne das Geld wohl den Führer abgeben, aber sie nicht selbst in sich enthalten. Wenn daher die Lust und das Wohlbefinden zu den Gütern gehörten, so gehöre auch der Reichthum dazu; wenn aber die Weisheit ein Gut sei, so folge noch nicht, dass dies auch von dem Reichthum gelte. Ueberhaupt könne kein Gegenstand, der nicht selbst zu den Gütern gehöre, etwas zu den Gütern Gehörendes in sich enthalten, und eben deshalb könne, weil dies Vorstellungen und Begriffe der Dinge, aus denen die Wissenschaften hervorgehen, das Begehren erwecken, und weil der Reichthum nicht zu den Gütern gehöre, auch keine Wissenschaft im Reichthum enthalten sein. (§ 50.) Man kann dies für die Wissenschaften zugeben, allein für die Tugend passt dieser Grund nicht, weil sie vieles Nachdenkens und vieler Hebung bedarf, was bei den Wissenschaften nicht nöthig ist, und weil die Tugend Festigkeit, Standhaftigkeit und Beharrlichkeit während des ganzen Lebens fordert, was bei den Wissenschaften ebenfalls nicht der Fall ist.

Es wird demnächst von uns der Unterschied der Dinge erklärt. Wollten wir denselben ganz leugnen, wie von Aristo geschehen ist, so würde das ganze Leben in Verwirrung gerathen; man könnte dann keine Geschäfte und kein Werk für die Weisheit ausfindig machen, wenn unter den Dingen, welche zur Führung des Lebens gehören, kein Unterschied bestände und keine Auswahl stattzufinden brauchte. Nachdem man also genügend festgestellt hatte, dass nur das Sittliche ein Gut und das Unsittliche ein Uebel sei, wollte man doch in den Dingen, welche für das glückliche oder unglückliche Leben nichts beitragen, einigen Unterschied zulassen, so dass einige schätzenswerth, andere das Gegentheil und andere wieder keines von Beiden seien. (§ 51.) Unter den schätzenswerthen Dingen haben manche in sich den zureichenden Grund, weshalb sie vorgezogen werden; so die Gesundheit, die unversehrten Sinne, die Schmerzlosigkeit, der Ruhm, der Reichthum und Aehnliches; andere sind nicht der Art; ebenso haben manche von den nicht schätzenswerthen Dingen den zureichenden Grund in sich, weshalb man sie verabscheut, so der Schmerz, die Krankheiten, der Verlust der Sinne, die Armuth, die Schande und Aehnliches; andere haben den Grund nicht in sich. Dies ist der Ursprung von dem, was Zeno proêgmena und dessen Gegentheil apoproêgmena nennt. Trotz der reichen Sprache, in der er lehrte, bildete er doch neue Worte, was man uns bei unsrer ärmern Sprache nicht gestatten will, wiewohl Du die unsrige für die reichere erklärst. Um den Sinn dieser Ausdrücke besser zu verstehn, wird es gut sein, den Grund, weshalb Zeno sie gebildet hat, darzulegen.

Kap. XVI. (§ 52.) Niemand, so lauten seine Worte, sagt, dass am königlichen Hofe der König selbst gleichsam bevorzugt sei zur königlichen Würde (denn dies liegt in dem proêgmenon), sondern man sagt es nur von Denen, die in einem Ehrenamte sich befinden und deren Stand der königlichen Würde am nächsten kommt. Ebenso werden auch im Leben nicht die Dinge, welche die erste Stelle einnehmen, sondern die an zweiter Stelle proêgmena, d.h. bevorzugte genannt. Man nennt sie entweder so, wenn man das griechische Wort wörtlich übersetzt, oder auch Vorangestellte oder Zurückgestellte, oder wie ich vorher sagte, vorzügliche und verwerfliche. Wenn nämlich die Sache gefasst ist, so dürfen wir in den Worten nicht zu peinlich sein. (§ 53.) Weil nun Alles, was ein Gut ist, nach unsrer Ansicht die erste Stelle einnimmt, so kann es deshalb kein Gut und kein Uebel geben, was man bevorzugt oder vorgehend nennen könnte; wir definiren daher das Bevorzugte als das Gleichgültige von einiger Werthschätzung. (Was nämlich die Stoiker adiaphoron nennen, möchte ich mit »gleichgültig« übersetzen.) Es musste nothwendig unter diesen in der Mitte bleibenden Dingen Manches der Natur gemäss, Anderes entgegen sein, und wenn dies der Fall war, so musste es zu dem gehören, was der Schätzung fähig ist, und wenn dies der Fall, so musste Einzelnes davon zu dem Bevorzugten gehören. (§ 54.) Deshalb hat diese Unterscheidung ihre Richtigkeit, und um sie verständlicher zu machen, wird folgendes Gleichniss aufgestellt: Wenn man nämlich als Ziel und Höchstes annehme, dass der Würfel so liege, dass die rechte Zahl oben auf sei, so wird ein Würfel, der so geworfen wird, dass er so zu liegen komme, zwar einen Vorzug in Bezug auf das Ziel haben und der anders geworfene nicht, aber dieser Vorzug des Würfels wird doch nicht das gestellte Ziel selbst sein; in derselben Weise werden die bevorzugten Dinge zwar auf das Ziel bezogen, aber gehören doch nicht zu dessen Begriff und Natur. (§ 55.) Es folgt dann die Eintheilung, dass einige von den Gütern zu jenem Höchsten gehören (denn so nenne ich die, welche telika heissen; ich habe die Bezeichnung durch mehrere Worte vorgezogen, um die Sache verständlicher zu machen, da mit einem Worte dies nicht anging); andere sind bewirkende, welche die Griechen poiêtika nennen, und andere sind Beides. Von den zum Höchsten gehörenden ist nichts ein Gut ausser den sittlichen Handlungen; von den Bewirkenden nur der Freund, aber die Weisheit soll sowohl zu dem Höchsten gehörig wie bewirkend sein. Denn die Weisheit ist ein naturgemässes Handeln und deshalb in der Gattung von Dingen enthalten, welche zu den höchsten gehören. Gleichzeitig führt sie aber herbei und bewirkt sittliche Handlungen, und deshalb kann sie auch bewirkend genannt werden.

Kap. XVII. (§ 56.) Das, was ich bevorzugt nenne ist theils an sich selbst ein Bevorzugtes, theils bewirkt es etwas Bevorzugtes, theils findet Beides zugleich statt. Zu der erstern Art gehören gewisse Mienen und Gesichtszüge, Stellungen und Bewegungen, bei denen Manches bevorzugt, Anderes verwerflich ist; Anderes heisst bevorzugt, weil es durch sich etwas der Art bewirkt, wie das Geld; Anderes heisst so aus beiderlei Gründen, wie gesunde Sinne und das Wohlbefinden. (§ 57.) Was dagegen den guten Ruf anlangt (denn das, was die Stoiker eudoxian nennen, ist hier besser mit gutem Ruf, als mit Ruhm zu bezeichnen), so meinten Chrysipp und Diogenes, dass, abgesehen von seiner Nützlichkeit, er nicht des Fingeraufhebens werth sei, und dem stimme ich von ganzer Seele bei. Allein spätere Stoiker, die sich gegen Karneadas nicht genügend wehren konnten, nahmen an, dass dieser gute Ruf seiner selbst willen vorzuziehn und zu suchen sei; jeder freie und freisinnig erzogene Mann wolle, dass seine Eltern, seine Angehörigen und alle guten Leute Gutes von ihm sprächen und zwar am der Sache selbst willen und nicht wegen des daraus hervorgehenden Nutzens. So wie man, sagen sie, für seine Kinder sorgen wolle, auch wenn sie erst nach dem Tode geboren werden sollten, und zwar der Kinder wegen, so wolle man auch seinen Ruf selbst nach dem Tode der Sache selbst wegen, abgesehn von allem Nutzen bewahrt wissen. (§ 58.) Wenn wir indess auch nur das Sittliche für ein Gut anerkennen, so ist es doch angemessen, seine Pflichten zu erfüllen, wenn diese auch weder zu den Gütern noch zu den Uebeln gehören. Denn in dergleichen Dingen ist etwas, was Billigung verdient und zwar der Art, dass man den Grund dafür angeben kann; man kann deshalb auch von einer demgemässen Handlung einen Grund angeben, und die Pflicht befasst gerade ein Handeln, für welches ein zu billigender Grund angegeben wurden kann. Hieraus erhellt, dass die Pflichten ein Mittleres sind, was weder zu den Gütern, noch zu den Uebeln gerechnet werden kann, und da in solchen Dingen, die weder zu den Tugenden noch zu den Lastern gehören. Etwas enthalten ist, was nützlich werden kann, so sind sie nicht zu verwerfen. Von dieser Art giebt es nun auch eine Handlungsweise und zwar eine solche, dass die Vernunft verlangt, sie zu thun und zu vollbringen, und diese mit Vernunft gethane Handlung nennen wir Pflicht. Sonach gehören die Pflichten zu den Dingen, die weder unter die Güter noch deren Gegentheil fallen.

Kap. XVIII. (§ 59.) Es ist auch klar, dass in dergleichen mittlern Dingen von dem Weisen Manches geschieht, und wenn dies der Fall ist, so hält er dafür, dass es seine Pflicht sei. Weil er aber niemals in seinem Urtheil sich irrt, so wird die Pflicht zu den mittlern Dingen geboren. Das ergiebt sich auch aus folgendem Vernunftschluss: Wir sehn, dass es Einiges giebt, was man eine rechte Handlang nennt, und das ist die vollkommne Pflicht, also muss es auch eine unvollkommne Pflicht geben. Wenn z.B. die rechte Rückgabe einer in Verwahrung erhaltenen Sache zu den rechten Handlungen gehört, so gehört es zu den Pflichten, das zur Verwahrung Erhaltene zurückzugeben; durch jenen Zusatz: »recht« wird es eine rechte Handlung; an sich gehört das Zurückgeben zu den Pflichten. Da es nun nicht zweifelhaft ist, dass unter den sogenannten mittlern Dingen Manches zu wählen, Anderes zu verwerfen ist, so gehören alle demgemässe Handlungen und Reden zu den Pflichten. Dies er hellt auch daraus, dass Alle sich selbst lieben; deshalb wird der Thor wie der Weise das Naturgemässe ergreifen und das Gegentheilige zurückweisen; mithin sind die Pflichten etwas, was dem Weisen und Thoren gemeinsam ist, und daraus folgt, dass sie zu dem gehören, was wir das Mittlere nennen. (§ 60.) Da nun aus diesem Mittlern alle Pflichten hervorgehn, so sagt man nicht ohne Grund, dass alle unsre Gedanken sich auf es beziehn; und darunter gehört auch der Austritt aus dem Leben oder das Bleiben darin. Der Mensch, in welchem das Naturgemässe überwiegt, hat die Pflicht, im Leben zu bleiben; bei wem aber das Naturwidrige überwiegt öder dies später zu erwarten ist, dessen Pflicht ist es, aus dem Leben zu scheiden. Daraus erhellt, dass auch der Weise mitunter die Pflicht hat, aus dem Leben zu scheiden, obgleich er glücklich ist, und der Thor die Pflicht, im Leben zu bleiben, obgleich er elend ist. (§ 61.) Denn das schon oft genannte Gute und Ueble folgt erst nach, während jene Anfange der Natur, mögen sie gemäss oder entgegengesetzt sein, unter das Urtheil und die Auswahl des Weisen fallen und gleichsam den Stoff der Weisheit bilden. Hiernach ist die Entscheidung, ob man im Leben bleiben oder aus demselben austreten solle, nach allen den oben erwähnten Dingen zu bemessen. Deshalb wird nicht Jeder durch die Tugend im Leben festgehalten; auch haben Die, welchen die Tugend ab geht, den Tod zu suchen. Es ist oft die Pflicht des Weisen, aus dem Leben zu scheiden, wenn er am Glücklichsten ist, sofern dies die Lage der Verhältnisse verlangt, d.h. sofern es einem naturgemässen Verhalten entspricht. So wird von den Stoikern das Rechtzeitige des glücklichen Lebens aufgefasst. Deshalb gebietet die Weisheit, dass der Weise eh selbst, wenn es dient, verlasse, Wenn daher die Laster ihrer Natur nach keinen Grund zum freiwilligem Tode abgeben können, so erhellt, dass auch die Thoren, obgleich sie elend sind, im Leben zu verharren verpflichtet sind, sobald sie nur den grössern Theil der naturgemässen Dinge besitzen. Ueberdem ist der aus dem Leben Scheidende und der darin Bleibende gleich elend, und das längere Leben kann ihn nicht bestimmen, es mehr zu fliehn; deshalb kann man mit Recht Denen, welchen überwiegend das Naturgemässe zu Gebote steht, sagen, dass sie im Leben bleiben müssen.

Kap. XIX. (§ 62.) Nach der Meinung der Stoiker ist es wesentlich, dass man die Liebe der Eltern zu den Kindern als eine natürliche Einrichtung ansehe. Von diesem Anfang gebt die allgemeine Verbindung des menschlichen Geschlechts aus, der wir nachgehn. Dies erkenne man zunächst aus der Gestalt und den Gliedern des menschlichen Körpers, welche selbst zeigen, dass die Natur dabei auf die Fortpflanzung Rücksicht genommen habe, und wenn die Natur die Fortpflanzung wollte, aber für die Liebe des Erzeugten nicht gesorgt hätte, so würde dies nicht mit einander übereinstimmen. Auch an den Thieren könne man die Kraft der Natur erkennen; wenn man sehe, welche Mühe sie bei der Geburt und bei dem Aufziehen der Jungen ertragen, so meine man die Stimme der Natur selbst zu vernehmen. So offenbar wie daher die Natur uns den Schmerz fliehen lässt, so treibt sie uns auch, die Kinder, welche wir erzeugt haben, zu lieben. (§ 63.) Daraus schreibt sich auch jene allgemeine natürliche Zuneigung unter den Menschen als solchen her, so dass jeder Mensch dem Andern, schon weil er ein Mensch ist, nicht als etwas gilt, was ihn nichts anginge. Schon unter den Gliedern erscheinen manche nur für sich gemacht: so die Augen, die Ohren; andere unterstützen auch andere Glieder, wie es die Beine und die Hände thun; in gleicher Weise sind manche wilde Thiere nur für sich selbst geschaffen, während andere Thiere, wie das Thier, was bei der Muschel die Stockmuschel heisst, und das Thier, was aus der Muschel herausschwimmt, und weil es jenes bewacht, Stockmuschelhüter heisst, und von jener, wenn es sich dahin zurückgezogen hat, eingeschlossen wird, gleichsam als hätte es zur Vorsicht ermahnen wollen, ferner die Ameisen, Bienen, die Grashüpfer, Mancherlei auch für andere Thiere vorrichten. Um viel grösser ist diese Verbindung bei dem Menschen, und deshalb sind wir schon von Natur zum Zusammenkommen, zur Vereinigung und zum Staate geeignet. (§ 64.) Die Stoiker nehmen ferner an, dass die Welt durch den Willen der Götter regiert werde; die Welt sei gleichsam die gemeinsame Stadt und der gemeinsame Staat der Menschen und Götter; jeder Einzelne sei ein Theil dieser Welt, und daraus ergebe sich als natürlich, dass man den gemeinsamen Vortheil dem eignen voranstellen müsse. So wie die Gesetze das Wohl Aller dem Wohle Einzelner voranstellen, so sorge ein guter und weiser Mann, der den Gesetzen gehorche und seine bürgerlichen Pflichten kenne, für den allgemeinern Nutzen mehr als für den Nutzen des Einzelnen oder seiner selbst. Der Vaterlandsverräther sei nicht tadelnswerther als Der, welcher das allgemeine Wohl und Heil seinem besondern Wohle und Vortheile opfere. Deshalb sei Der zu loben, welcher dem Tode für den Staat entgegengeht; denn das Vaterland soll uns theurer sein, als wir uns selbst. Mit Recht gilt der Ausspruch Jener für unmenschlich und verbrecherisch, welche sagen, es sei ihnen gleich, ob nach ihrem Tode die Welt und alle Länder in Flammen aufgehen; worüber man einen bekannten griechischen Vers hat. Deshalb ist es sicherlich richtig, dass man auch für die Nachkommen um derer selbst willen zu sorgen habe.

Kap. XX. (§ 65.) Ans diesen Gefühlen sind die Testamente und die Empfehlungen der Sterbenden hervorgegangen. Niemand mag in völliger Einsamkeit sein Leben verbringen, selbst wenn eine Lust ohne Ende damit verbunden wäre, und daraus erhellt deutlich, dass die Menschen zur Verbindung und Gesellschaft mit einander und zum natürlichen Verkehr geschaffen sind. Die Natur treibt uns, möglichst Vielen zu nützen, vorzugsweise durch Belehrung und durch Mittheilung der Gebote der Klugheit. (§ 66.) Deshalb findet man nicht leicht Jemand, der sein Wissen nicht dem Andern mittheilen möchte, und wir neigen nicht minder zum Lehren, wie zum Lernen. So wie die Stiere von Natur für ihre Jungen mit den Löwen auf das Heftigste und Angestrengteste kämpfen, so haben die an Macht und Geschick Hervorragenden, wie dies von Hercules und Bachus berichtet wird, von Natur den Trieb, das menschliche Geschlecht zu vertheidigen. Wenn man den Jupiter den Besten und Grössten nennt und ebenso den Heilbringenden, den Beschützer der Fremden und den Erhalter des Staats, so will man damit sagen, dass das Wohl der Menschen unter seinem Schutze steht. Am wenigsten passt es dann, wenn wir unter einander uns niedrig benehmen, uns um einander nicht kümmern, aber von den himmlischen Göttern verlangen, dass sie uns lieben und werthhalten sollen. So wie man die Glieder eher gebraucht, als man weiss, zu welchem Zweck man sie empfangen hat, so hat auch die Natur uns zu einer bürgerlichen Gesellschaft verbunden und vereinigt. Wäre dem nicht so, so gäbe es weder eine Gerechtigkeit, noch eine Wohlthätigkeit. (§ 67.) Aber so wie die Stoiker annehmen, dass zwischen den Menschen gegenseitig Bande des Rechts bestehn, so halten sie dafür, dass zwischen den Menschen und Thieren kein Recht besteht Schön, sagt Chrysipp, dass alles Andere um der Menschen und Götter willen geworden sei, aber diese seien der Gemeinschaft und der Gesellschaft unter einander wegen da, und so könnten sie die Thiere ohne Unrecht zu ihrem Vortheil benutzen. Wenn die menschliche Natur sonach von der Art sei, dass unter dem menschlichen Geschlecht gleichsam ein bürgerliches Recht gelte, so werde Der, welcher dasselbe inne halte, der Gerechte, und wer davon abweiche, der Ungerechte sein. So wie aber das Theater zwar ein gemeinsames sei, aber dennoch Jeder den Platz, welchen er inne habe, mit Recht den seinigen nennen könne, so hindere auch in der gemeinsamen Stadt und Welt das Recht nicht, dass Jedem Etwas ausschliesslich als sein gehöre. (§ 68.) Wenn man so sehe, dass die Menschen zur gegenseitigen Beschützung und Erhaltung geboren seien, so stimme es mit dieser Natur, dass der Weise bereit sei, den Staat zu verwalten und dass er nach der Natur lebt, eine Frau nimmt und Kinder von ihr verlangt. Selbst die sittsame Knabenliebe verträgt sich nach den Stoikern mit dem Weisen; und Einzelne unter ihnen meinen, dass der Weise auch ein Leben nach der Lehre der Cyniker führen dürfe, wenn die Umstände ihn dazu nöthigen; Andere halten dies jedoch niemals für gestattet.

Kap. XXI. (§ 69.) Um die menschliche Gesellschaft, Verbindung und die gegenseitige Liebe zu erhalten, verlangen wir, dass die sittlichen Vortheile und Nachtheile, welche ôphelêmata und blammata heissen, gemeinsam seien, jene nützen, diese schaden. Nicht blos gemeinsam, sondern auch einander gleich sollen sie sein. Dagegen solle das Nützliche und das Schädliche, wie ich die euchrêstêmata und die dyschrêstêmata übersetze, zwar gemeinsam, aber nicht einander gleich sein. Denn jene, die sittlich nützen oder schaden, sind entweder Güter oder Uebel, die nothwendig gleich sein müssen; dagegen ist das blos Nützliche und Schädliche von der Art, dass bei demselben ein Vorziehn und Verwerfen statt hat, mithin kann es nicht gleich sein. Wenn aber auch das Sittlich-Nützliche gemeinsam ist, so kann doch das recht und unrecht Handeln nicht gemeinsam sein. (§ 70.) Die Freundschaft hat der Mensch, nach unsrer Ansicht, mit zu suchen, denn sie gehört zu dem sittlich Nützlichen. Nach einer Ansicht ist dem Weisen bei der Freundschaft das Wohl seiner Freunde ebenso werth wie sein eigenes; nach einer andern soll letzteres höher stehn; allein auch hier hat man später anerkannt, dass es der Gerechtigkeit widerstreite, zu der wir von Natur bestimmt sind, einem Andern etwas zu entziehn, um es für sich zu behalten. Am wenigsten wird von den Anhängern dieser Lehre gebilligt, dass die Gerechtigkeit und die Freundschaft nur des Nutzens wegen zu suchen und zu loben sei; denn dieser Nutzen könne auch zur Schwächung und Zerstörung beider führen, und es bestehe überhaupt keine Gerechtigkeit und Freundschaft, wenn sie nicht um ihrer selbst willen gesucht werde. (§ 71.) Das Recht aber, das man so nennen und bezeichnen kann, besteht nach der Stoiker Ansicht von Natur, und der Weise wird deshalb Niemandem Unrecht thun oder ihm schaden. Es ist aber nicht recht, mit Freunden und Solchen, denen man Dank schuldet, sich zum Unrecht zu verbinden und zu vereinen, und sehr richtig und nachdrücklich wird gelehrt, dass die Gerechtigkeit von dem Nutzen nicht getrennt werden könne und dass das Billige und Gerechte auch sittlich, und umgekehrt das Sittliche auch gerecht und billig sei. (§ 72.) Zu den besprochenen Tugenden fügen die Stoiker auch die Dialektik und die Naturwissenschaft; beide heissen bei ihnen Tugenden, weil die erstere sorgt, dass man dem Falschen nicht zustimme und durch eine trügerische Wahrscheinlichkeit sich nicht täuschen lasse; auch werde durch sie das über die Güter und Uebel Erkannte festgehalten und vertheidigt. Ohne diese Kunst kann nach ihrer Meinung man leicht von dem Wahren abgeführt und getäuscht werden. Deshalb werde mit Recht, wenn das dreiste Behaupten und die Unwissenheit überall ein Fehler sei, die Kunst, welche diese Fehler beseitigt, eine Tugend genannt.

Kap. XXII. (§ 73.) Der Naturwissenschaft ist die gleiche Ehre und nicht ohne Grund zugesprochen worden, weil Der, welcher naturgemäss leben will, von der ganzen Welt und ihrer Verwaltung ausgehen muss. Niemand kann über die Güter und Uebel ohne Kenntniss der Verhältnisse der Natur, des Lebens und selbst der Götter richtig urtheilen, und ob die Natur des Menschen mit der allgemeinen übereinstimmt oder nicht. Die alten Vorschriften weiser Männer, welche verlangen, »der Zeit sich zu fügen«, »der Gottheit zu folgen«, »sich selbst zu erkennen« und »ja nichts zu viel zu thun«, kann Niemand ohne die Naturkenntniss in ihrer vollen Bedeutung (und diese ist eine sehr weit reichende) erfassen. Auch kann nur diese Wissenschaft lehren, was die Natur vermag zur Pflege der Freundschaft und andern Verbindungen der Liebe und zur Pflege der Gerechtigkeit. Ebenso wenig kann man ohne Verständniss der Natur einsehn, welche Verehrung und welchen grossen Dank man den Göttern schuldet. (§ 74.) Doch ich sehe, dass ich weiter gegangen bin, als mein Plan verlangte; aber die wunderbare Zusammenstellung dieser Lehre und dieunglaubliche Ordnung ihres Inhaltes hat mich fortgerissen und bei den unsterblichen Göttern! sicherlich wirst auch Du diese Ordnung bewundern. Weder in der Natur, welche in Ordnung und Bestimmtheit Alles übertrifft, noch in den Werken von Menschenhänden findet sich eine gleiche Zusammenstellung, Verbindung und Fortführung. Wo stimmte nicht darin das Spätere zu dem Früheren? welche Folge entspräche nicht ihrem Vordersatze? Was wäre sonst wohl so mit einander verknüpft, dass, wenn man an einem Buchstaben rüttelt, das Ganze zusammenbricht? Doch es giebt nichts darin, woran man rütteln könnte. (§ 75.) Wie ernst, wie grossartig, wie fest wird Euch die Person des Weisen darin dargestellt? Nachdem die Lehre dargelegt hat, dass nur das Sittliche ein Gut sei, muss dieser Weise immer glücklich sein, und er verdient in Wahrheit alle jene Namen, welche nur die Unwissenden verlachen. Er kann mit mehr Recht wie Tarquinius König genannt werden; denn Jener konnte weder sich noch die Seinigen beherrschen; er kann mit mehr Recht Meister des Volkes (denn das ist der Dictator) genannt werden, als Sylla, der nur der Meister in drei verpestenden Lastern, in der Schwelgerei, dem Geize und der Grausamkeit war; mit mehr Recht reicher als Crassus, der, wenn er nicht Mangel gelitten hätte, niemals den Euphrat ohne allen Anlass zum Kriege überschritten haben würde. Mit Recht nennt man Alles das Seinige, denn nur der Weise allein versteht, Alles zu benutzen; mit Recht nennt man ihn schön, denn die Züge der Seele sind schöner als die des Körpers; mit Recht allein frei, denn er ist weder der Herrschaft eines Andern unterworfen, noch fröhnt er seinen Begierden. (§ 76.) Mit Recht heisst er unüberwindlich, denn wenn auch sein Leib in Fesseln geschlagen wird, so können doch seinem Geiste keine angelegt werden. Der Weise wartet auch nicht bis in sein hohes Alter, um erst dann zu entscheiden, ob er glücklich gewesen, wenn er seinen letzten Tag mit dem Tode beschliesst, wie Einer von den sieben Weisen, aber nicht weise, dem Crösus gebot; denn wäre Crösus überhaupt glücklich gewesen, so hätte sein glückliches Leben auch bis zu dem von Cyrus für ihn aufgerichteten Scheiterhaufen angedauert. Wenn es sich also so verhält, dass nur der gute Mann, aber auch alle guten Männer glücklich sind, was ist da mehr zu pflegen als die Philosophie, und was ist göttlicher als die Tugend?

Gesammelte Werke von Cicero

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