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Viertes Buch
ОглавлениеKap. I. (§ 1.) Mit diesen Worten schloss Cato seine Rede und ich sagte: Wie hast Du doch von Deiner Auseinandersetzung das Viele mit so gutem Gedächtniss und das Dunkle so klar geboten! Wir müssen daher überhaupt es aufgeben, dagegen etwas zu sagen, oder wir brauchen Zeit, es zu überdenken; denn eine so sorgfältig und wenn auch vielleicht weniger wahr (denn darüber wage ich noch nicht zu entscheiden), aber doch genau begründete und entwickelte Lehre kann man nicht leicht erfassen. – Darauf sagte Cato: Wie so! habe ich doch nach dem neuen Gesetze Dich gleich denselben Tag dem Ankläger antworten und drei Stunden sprechen hören, und in meiner Sache hältst Du Aufschub nöthig? Und doch ist die, welche Du hier behandeln willst, nicht besser als die, bei denen Du bisweilen gewinnst. Deshalb greife auch hier gleich zur Sache, sie ist ja sowohl von Andern, wie von Dir so viel behandelt, dass die Antwort Dir nicht fehlen kann. (§ 2.) Darauf erwiderte ich: Ich wage wahrhaftig nicht leichtsinnig mich gegen die Stoiker heraus; nicht deshalb, weil ich ihnen so sehr beistimme, sondern aus Scham, denn Vieles in ihren Reden kann ich kaum verstehn. – Ich gebe zu, sagte Cato, dass Manches dunkel ist; allein sie sprechen nicht absichtlich so, sondern die Dunkelheit liegt in der Sache. – Aber weshalb versteht man bei den Peripatetikern, wenn sie dieselben Dinge behandeln, jedes Wort? – Dieselben Dinge? entgegnete Cato; habe ich nicht ausführlich dargelegt, dass die Stoiker von den Peripatetikern nicht blos in den Worten, sondern auch in der Sache und in der ganzen Auffassung abweichen? – Ja, mein Cato, sagte ich, wenn Du dies erreicht hättest, so sollst Du mich ganz zu Dir hinüberziehn dürfen. – Ich glaube allerdings, sagte er, dies hinreichend dargelegt zu haben. Lass uns daher hiermit beginnen, wenn Du damit einverstanden bist, und das, was Du sagen willst, bring später vor. – Ich möchte doch, sagte ich, dies an dem Orte behandeln, der nach meiner Ansicht, der beste ist, wenn Du dies nicht unbillig findest. – Mache es, wie es Dir beliebt, antwortete er; wenn auch mein Vorschlag passender gewesen ist, so ist es doch billig, Jedem seine Freiheit zu lassen.
Kap. II. (§ 3.) Ich glaube also, mein Cato, sagte ich, dass jene alten Schüler Plato's, wie Speusipp, Aristoteles und Xenokrates, und die Schüler von diesen, wie Polemo, Theophrast, ihre Lehre so vollständig und schön ausgebildet gehabt hatten, dass für Zeno kein Grund vorlag, als Schüler des Polemo, von diesem und den Aeltern sich zu trennen. Ich werde ihre Lehre vortragen und ich bitte Dich, das, was Du dagegen einzuwenden hast, zu sagen, und nicht zu erwarten, dass ich auf alles von Dir Dargelegte eingehe, weil ich vorziehe, mit der ganzen Lehre Jener die Eurige zu bekämpfen. (§ 4.) Jene erkannten, dass wir von Natur Alle der Tugenden fähig seien, die bekannt und viel gerühmt sind; ich meine die Gerechtigkeit, Mässigkeit und die andern dieser Art, welche sämmtlich den übrigen Wissenschaften gleichstehn und nur durch ihren Stoff und ihre Behandlungsart als die bessern hervortreten. Sie erkannten, dass wir nach diesen Tugenden mächtiger und hastiger als nach den andern verlangen, und dass wir auch eine uns eingepflanzte oder vielmehr angeborne Begierde nach dem Wissen haben, und dass der Mensch zur Vereinigung mit seines Gleichen und zur Gesellschaft und Gemeinschaft des menschlichen Geschlechts geboren ist, und dass dies bei den grössten Geistern sich am meisten zeigt. Sie theilten daher die Philosophie in drei Theile, welche Eintheilung auch Zeno beibehalten hat. (§ 5.) Durch den einen Theil wird nach ihrer Ansicht die Sittlichkeit bewirkt; indess verschiebe ich diesen, der gleichsam der Stamm für unsere Verhandlung ist, und werde bald sagen, was das höchste Gut ist; jetzt bemerke ich nur, dass die alten Peripatetiker und Akademiker, die in der Sache einig und nur in den Worten sich unterschieden, jenen Theil, welchen wir am besten den bürgerlichen nennen können und den die Griechen den politikon nennen, eingehend und ausführlich behandelt haben.
Kap. III. Wie viel haben sie nicht über den Staat und die Gesetze geschrieben! Wie viele Lehren in den Wissenschaften und wie viele Beispiele eines guten Vertrages in ihren Reden hinterlassen. Zunächst haben sie die schwierigeren Fragen fein und treffend hingestellt; theils durch Definitionen, theils durch Eintheilungen; auch die Eurigen sind so verfahren, aber schmuckloser, während die Rede Jener glänzt. (§ 6.) Dann haben sie die Gegenstände, welche eine geschmückte und ernste Darstellung verlangten, auch vortrefflich und glänzend behandelt; so die Gerechtigkeit, die Tapferkeit, die Freundschaft, die Führung des Lebens, die Philosophie, die Verhältnisse des Staats. Es ist nicht nach der Weise Derer geschehn, welche nach den Dornen suchen, wie die Stoiker, und die Knochen bloslegen, sondern wie Männer, die das Grosse schön und das Kleine deutlich darlegen. Deshalb haben wir von ihnen so viele Trostschreiben, so viele Ermahnungen, so viele Erinnerungen und Rathschläge, die sie in ihren Schriften an die höchsten Personen gerichtet haben. Es bestand bei ihnen eine zwiefache Art der Behandlung, wie es auch der zwiefachen Natur der Gegenstände entsprach. Denn jede Frage ist entweder an sich selbst, ohne Beziehung auf die Personen und Zeiten, oder in Verbindung mit diesen in thatsächlicher oder in rechtlicher Hinsicht oder in ihrer Fassung zweifelhaft. Sie behandelten sie deshalb nach beiden Gesichtspunkten, und durch dieses Verfahren erreichten sie nach beiden Richtungen ihre Gewandtheit der Darstellung. (§ 7.) Diese ganze Methode haben Zeno und seine Anhänger entweder nicht einhalten gekonnt oder gewollt; jedenfalls haben sie sie verlassen. Allerdings haben Cleanthes und selbst Chrysipp eine Rednerkunst geschrieben; aber sie ist der Art, dass, wenn Jemand schweigen zu lernen wünscht, er sie lesen muss. So siehst Du, wie sie verfahren; sie bilden neue Worte und geben die gebräuchlichen auf. Und wie Grosses unternehmen sie! Die ganze Welt soll unsre Wohnstätte sein. Das begeistert die Zuhörer. Du siehst die Wichtigkeit solchen Vertrages; wer in Circeji wohnt, soll die ganze Welt für seine Vaterstadt halten. Aber soll das entzünden? Eher wird es abkühlen, wenn ein Brennender sich einfindet. Selbst das, was Du kurz und gerundet zusammenfasstest, dass der Weise allein der König, Meister und Reicher sei, das hast Du freilich von den Lehrern der Redekunst gelernt; aber wie mager wird selbst die Kraft der Tugend von ihnen dargestellt, die doch so gross sein soll, dass sie durch sich allein glücklich machen kann. Durch ihre kleinen verschränkten Vernunftschlüsse stechen sie wie mit Nadeln, und selbst bei Denen, die ihnen zustimmen, wird die Gesinnung damit nicht gebessert; diese gehen so fort, wie sie gekommen sind; denn die Gegenstände sind vielleicht wahr, jedenfalls von Bedeutung; aber sie werden von ihnen nicht, wie es sich gehört, sondern zu kleinlich behandelt.
Kap. IV. (§ 8.) Es folgen nun die Regeln über das Erörtern und über die Lehre von der Natur; denn auf das höchste Glück werde ich, wie gesagt, bald kommen und die ganze Ausführung zu dessen Erläuterung benutzen. In jenen beiden Theilen hat Zeno keine Veränderung beabsichtigt. Alles verhielt sich hier bereits und zwar in beiden Theilen vortrefflich; denn die Alten haben über die Regeln, nach welchen eine Erörterung stattzufinden hat, Alles erschöpft; sie haben das Meiste definirt und die Kunst des Definirens gelehrt; ebenso haben sie die Eintheilungen gegeben, welche zu den Definitionen gehören, und gelehrt, wie hier zu verfahren sei. Dasselbe gilt von den Gegensätzen, von denen sie dann zu den Gattungen und Arten übergehen. Bei den Beweisführungen beginnen sie mit dem, was ihnen als selbstverständlich gilt; dann gehen sie der Reihe nach weiter und das Wahre der einzelnen Vordersätze führt zu der letzten Schlussfolgerung. (§ 9.) Die Mannichfaltigkeit ihrer Beweise und Schlussfolgerungen ist gross und deren Unterschied von den verfänglichen Fragen und Scheinbeweisen wird dargelegt. Sie warnen wiederholt, den Sinnen ohne die Vernunft oder der Vernunft ohne die Sinne zu vertrauen; keiner soll von dem andern getrennt werden. Das, was die Dialektiker jetzt aufstellen und lehren, ist von ihnen bereits dargelegt und aufgefunden worden. Chrysipp hat diese Gegenstände zwar sehr ausführlich behandelt, allein Zeno viel weniger als die Alten; und was Jener hierüber sagt, ist nicht besser als bei den Alten, ja, Manches hat er ganz übergangen. (§ 10.) Wenn es zwei wissenschaftliche Fertigkeiten giebt, durch welche jede Lehre und ihre Darstellung die Vollendung erhält, eine, welche erfindet, und eine, welche erörtert und begründet, so haben die letztere Kunst sowohl die Stoiker wie die Peripatetiker vortrefflich gelehrt, die erstere aber nur die Peripatetiker, während die Stoiker sie nicht einmal berührt haben. Aus welchen Orten, gleich Schätzen, der Inhalt zu entnehmen ist, haben die Eurigen kaum geahnt, während die Alten es kunstgemäss und folgerecht gelehrt haben. Damit haben sie erreicht, dass sie nicht immer über dieselben Dinge die gleichsam vorgesagten Sätze abzuleiern und an ihren nachgeschriebenen Heften festzuhalten brauchten. Denn wenn man weiss, wo jedwedes zu suchen ist und auf welchem Wege man dazu gelangen kann, so wird man es auch, selbst wenn es verschüttet ist, auffinden und deshalb bei den Verhandlungen immer auf eignen Füssen stehen können. Allerdings steht den mit grossem Geistbegabten Männern für ihre Darstellung ein reicher Inhalt auch ohne wissenschaftliche Anleitung zu Gebote; allein die Kunst bleibt doch hier immer eine zuverlässigere Führerin, als die Natur. Denn ein Ausschütten von Worten nach Art der Dichter ist noch kein begründetes und kunstgemässes Unterscheiden in dem, was man sagt.
Kap. V. (§ 11.) Das Gleiche gilt von der Erkenntniss der Natur, mit der sowohl diese Männer wie die Stoiker sich beschäftigen. Auch geschieht dies nicht blos, wie Epikur meint, aus den zwei Gründen, dass die Furcht vor dem Tode und vor der Religion vertrieben werden solle, vielmehr führt die Kenntniss der Gegenstände des Himmels auch zu einer gewissen Bescheidenheit, wenn man die grosse Mässigung der Götter, ihre hohe Ordnung erkennt und aus den Werken und Thaten derselben ihre Seelengrösse ersieht. Dasselbe gilt für die Gerechtigkeit, wenn man das Wesen des höchsten Leiters und Herrn, seine Absichten und seinen Willen erfasst hat. Seine mit der Natur übereinstimmende Vernunft wird von den Philosophen für das wahre und höchste Gesetz erklärt. (§ 12.) Diese Erklärung der Natur gewährt eine unerschöpfliche Lust in Erforschung der einzelnen Dinge, und schon sie allein gewährt, wenn für die Nothdurft des Lebens gesorgt ist, dem von den Geschäften freien Mann eine anständige und gebildete Beschäftigung. Hieraus erhellt, dass die Stoiker in dieser ganzen Lehre bei den wichtigsten Punkten nur Jenen gefolgt sind; daher erkennen sie das Dasein der Götter an und lassen Alles aus den vier Elementen bestehen. Bei der weitern, allerdings schwierigen Frage, ob es noch ein fünftes Element gebe, aus dem die Vernunft und die Einsicht entstehe, wohin auch die Untersuchung über die Seele und ihre Natur gehört, erklärte Zeno das Feuer für dies Element. Einiges, aber im Ganzen nur Weniges, trug er dann etwas anders vor; in der Hauptsache stimmte er aber bei, dass die ganze Welt und ihre wichtigsten Theile durch den göttlichen Geist und seine Natur regiert werden. Im Uebrigen ist der Inhalt und die Menge desselben bei den Stoikern hier dürftig, bei jenen aber höchst reichhaltig. (§ 13.) Wie Vieles ist nicht von ihnen beschafft und gesammelt worden über die Gattungen, die Entstehung, die Glieder und das Lebensalter der Thiere; wie Vieles über die Erzeugnisse der Erde. Sie haben eine Menge Untersuchungen angestellt über die mannichfachsten Gegenstände, über die Ursachen der Vorgänge in der Natur und über die Gesetze, nach denen sie geschehen, und man kann aus diesem reichen Vorrath den zureichenden und sichern Anhalt für die Erkenntniss der Natur der einzelnen Dinge entnehmen. Deshalb war, so viel ich einsehe, auch kein Grund zur Veränderung des Namens vorhanden; selbst wenn Zeno nicht in Allem nachfolgte, so ist er doch von dort ausgegangen. Auch den Epikur halte ich nur für einen Anhänger des Demokrit; wenigstens in der Naturwissenschaft. Einzelnes, ja vielleicht auch Mehreres ändert er wohl; allein bei den meisten Dingen sagt er dasselbe und sicherlich bei den wichtigsten, und wenn die Eurigen dasselbe thun, so sind sie doch den Erfindern dafür nicht dankbar genug.
Kap. VI. (§ 14.) Soviel hiervon; jetzt wende ich mich, wenn es Dir Recht ist, zu dem höchsten Gute, was die ganze Philosophie in sich enthält, um zu sehen, was Zeno hier beigebracht hat, und weshalb er von den ersten Urhebern und gleichsam seinen Eltern abgewichen ist. Ich möchte also hier, obgleich Du, mein Cato, dies höchste Gut sorgfältig erklärt und gezeigt hast, was die Stoiker darunter verstehen und wie sie es näher bestimmen, doch auch meinerseits darüber mich auslassen, um wo möglich zu sehen, was Zeno hier Neues geboten hat. Die Frühere, insbesondere Polemo, hatten am deutlichsten ausgesprochen, dass ein naturgemässes Leben das höchste Gut sei; damit, sagten die Stoiker, werde dreierlei gemeint. Einmal ein Leben mit Anwendung der Kenntniss der Dinge, die sich natürlicherweise zutragen. Dies soll das höchste Gut für Zeno, wie man sagt, gewesen sein, indem er das von Dir genannte naturgemässe Leben so erklärte. (§ 15.) Zweitens bedeute es ein Leben, was alle mittlern Pflichten oder doch die meisten davon einhalte. So aufgefasst, weicht es von dem ersten ab; jenes erste bezeichnet das Rechte, was Du katorthoma nanntest und nur von dem Weisen erreicht wird, während dieses zweite die niedern und noch nicht vollkommnen Pflichten befasst, und dies kann auch bei manchem Unweisen vorkommen. Drittens soll das höchste Gut ein Leben bezeichnen, wo man sich aller oder der meisten Dinge erfreut, die der Natur gemäss sind. Ein solches Leben hängt nicht von unserm Handeln ab; es ist erst erreicht, wenn die Tugend geübt und es mit den naturgemässen Dingen versehen ist, die aber nicht in unsrer Macht stehn. – Das höchste Gut in dieser dritten Bedeutung und ein Leben, was dies höchste Gut enthält, ist, weil die Tugend mit ihm verbunden ist, nur bei dem Weisen vorhanden und dieses höchste Gut haben, wie die Stoiker selbst in ihren Schriften anerkannt haben. Xenokrates und Aristoteles aufgestellt. Von diesen wird die Feststellung des ersten Naturgemässen, womit auch Du begonnen hast, ungefähr mit folgenden Worten gegeben:
Kap. VII. (§ 16.) Jedes Wesen hat den Trieb, sich zu erhalten, unverletzt zu bestehen und sich in seiner Art zu erhalten. Dazu sind nach ihrer Ansicht auch Kunstthätigkeiten erforderlich, welche der Natur zu Hülfe kommen; insbesondere die Kunst des Lebens, welche das von der Natur Gegebene beschützt und das Fehlende erwirbt. Sie haben auch das Wesen des Menschen in Körper und Seele eingetheilt. Da nun beide um ihrer selbst willen begehrenswerth sind, so gilt dies auch von den Tugenden beider, und da sie die Seele in unbegrenztem Lobe über den Körperstellen, so stellten sie auch die Tugenden der Seele über die Güter des Körpers. (§ 17.) Die Weisheit gilt ihnen als die Wächterin und Versorgerin des ganzen Menschen, sie begleitet und unterstützt die Natur. Deshalb ist es die Aufgabe der Weisheit, wenn sie Den schützen solle, der aus Leib und Seele bestehe, auch beides ihm zu erhalten und in beiden zu helfen. Nachdem sie die Sache zunächst so einfach festgestellt haben, führen sie das Weitere mit Scharfsinn aus. Die Lehre über die Güter des Leibes ist nach ihrer Ansicht nicht schwierig; dagegen sind sie genauer in der Untersuchung der Güter der Seele, und sie waren die Ersten, welche fanden, dass die Keime der Gerechtigkeit in ihnen enthalten seien und welche zuerst von allen Philosophen lehrten, die Natur habe es so eingerichtet, dass das Erzeugte von den Erzeugern geliebt werde und dass die Ehe des Mannes mit der Frau, die der Zeit noch vorhergeht, eine von der Natur eingerichtete Verbindung sei; aus dieser Wurzel entspringe die gegenseitige Liebe der Verwandten. Von diesen Anfängen aus haben sie den Ursprung und die Entwickelung aller Tugenden verfolgt. Auch die Seelengrösse leiteten sie davon her, durch welche man die Schicksalsschläge, da die wichtigsten Dinge in der Gewalt des Weisen stehen, leicht abwehren und ihnen entgegentreten könne. Ein nach den Lehren der alten Philosophen geführtes Leben überwindet leicht die Unbill und den Wechsel des Schicksals. (§ 18.) Auf diesen von der Natur gegebenen Grundlagen entwickeln sich gewisse Erweiterungen in den Gütern, die zunächst aus der Betrachtung verborgener Dinge hervorgehen, da der Seele die Liebe zum Wissen angeboren ist, woraus denn auch die Neigung folgt, die Gründe der Dinge aufzusuchen und sie zu erörtern. Ferner geht diese Erweiterung in den Gütern daraus hervor, dass der Mensch das einzige Geschöpf ist, was der Scham und Sittsamkeit fähig ist, was das Zusammenleben und die Gesellschaft der Menschen sucht und überall darauf achtet, dass es weder in seinen Handlungen noch Worten den Anstand und die Sittsamkeit verletze. Aus diesen Anfängen und erwähnten Keimen, welche von der Natur gelegt sind, hat sich die Mässigkeit, die Bescheidenheit, die Gerechtigkeit und alles sittliche Handeln zur Vollkommenheit entwickelt und abgeschlossen.
Kap. VIII. (§ 19.) Hiermit hast Du, mein Cato, sagte ich, einen Abriss der Lehre jener Philosophen, von denen ich gesprochen habe; und nun möchte ich wissen, weshalb Zeno von dieser alten Lehre abgefallen ist und was er nicht davon gebilligt hat. Haben sie denn nicht anerkannt, dass alle Naturen sich zu erhalten streben und dass jedes Wesen für sich selbst sorgt, um sich in seiner Art gesund und unverletzt zu erhalten? Haben sie denn nicht auch anerkannt, dass das Ziel aller Künste und Wissenschaften in dem, was die Natur am meisten aufsucht, bestehe und dass dies auch von der Kunst des ganzen Lebens gelte; und haben sie nicht auch anerkannt, dass wir aus Leib und Seele bestehen und dass diese und ihre Tugenden um ihrer selbst willen zu nehmen seien. Oder hat es Zeno missfallen, dass den Tugenden der Seele ein so grosser Vorzug gegeben worden ist? Oder haben ihm ihre Aussprüche über die Klugheit, die Erkenntniss der Dinge, über die Verbindungen des menschlichen Geschlechts, so wie über die Mässigkeit, Bescheidenheit, über die Seelengrösse und die Sittlichkeit überhaupt missfallen? Die Stoiker werden eingestehen müssen, dass all diese Lehren vortrefflich sind und dass Zeno deshalb keinen Grund gehabt, sich zu trennen. (§ 20.) Sie werden wahrscheinlich sagen, dass andere grosse Irrthümer bei den Alten bestehen, welche Zeno bei seiner Begierde nach Wahrheit nicht habe ertragen können. So sei es ganz verkehrt, unzulässig und thöricht gewesen, die gute Gesundheit, die Freiheit von allem Schmerz, die Unversehrtheit der äussern Sinne zu den Gütern zu rechnen, statt zu sagen, dass zwischen diesen Dingen und ihren Gegentheilen kein Unterschied stattfinde. Alles was jene Alten für Güter erklärt hätten, seien blos vorzuziehende Dinge, aber keine Güter. Ebenso sei es thöricht, ausgezeichnete körperliche Eigenschaften zu dem zu rechnen, was um seiner selbst willen zu suchen sei; man könne sie wohl hinnehmen, aber nicht aufsuchen, und ebenso sei gegen das Leben, was nur in der einen Tugend bestehe, das Leben, was auch an den übrigen naturgemässen Dingen Ueberfluss habe, nicht zu suchen, sondern nur anzunehmen. Denn die Tugend allein bewirke schon ein so glückliches Leben, dass es nicht glücklicher werden könne. Dennoch solle aber den Weisen, obgleich sie die Glücklichsten sind, noch Manches fehlen, und deshalb suchten sie sich gegen Schmerzen, Krankheiten und Hinfälligkeit zu schützen.
Kap. IX. (§ 21.) O! welche grosse Geisteskraft und welcher gerechte Grund zur Aufstellung einer neuen Lehre! Aber weiter! Es folgt nun, was Du so geschickt zusammengefasst hast, dass alle Unwissenheit, Ungerechtigkeit und ähnliche Laster einander gleichstünden, und dass Die, welche durch ihre Natur und durch Lehre schon der Tugend sich sehr genähert hätten, dennoch vor deren völliger Gewinnung höchst elend seien und dass zwischen deren Leben und dem der gottlosesten Menschen kein Unterschied bestehe; so dass Plato, jener grosse Mann, wenn er nicht weise gewesen wäre, weder besser noch glücklicher als der schlechteste Mensch gelebt haben würde. Dies ist also des Zeno Berichtigung und Verbesserung der alten Philosophie. Aber sie kann weder in der Stadt, noch bei den Gerichten, noch in der Rathsversammlung zugelassen werden; denn wie könnte man ein Gerede ertragen, wo der Sprecher sich öffentlich für den Lehrer eines ernsten und weisen Lebens erklärt, aber dabei nur die Worte ändert, während er denkt und empfindet wie alle Andern, und wo er den Dingen dieselbe Natur zuspricht und nur ihnen andere Namen giebt, an den Ansichten selbst nichts ändert, aber die Worte verändert. (§ 22.) Soll hiernach der Vertheidiger eines Angeklagten in seiner Schlussrede behaupten, die Verbannung und die Einziehung aller Güter sei kein Uebel, und man könne dergleichen wohl ablehnen, aber dürfe dergleichen nicht fliehen? Soll er behaupten, der Richter dürfe nicht mitleidig sein? Und soll man etwa, wenn Hannibal vor die Thore gerückt wäre und seinen Speer gegen die Mauern geworfen hätte; vor dem Volke erklären, die Gefangenschaft, der Verkauf in die Sklaverei, der Tod, der Untergang des Vaterlandes sei kein Uebel? Hätte der Senat, als er dem Scipio Africanus den Triumph zuerkannte, dessen Tugend und Glück als Grund anführen dürfen, wenn die Tugend und die Tapferkeit in Wahrheit nur von dem Weisen ausgesagt werden kann? Was ist dies also für eine Philosophie, die auf dem Markte wie alle Andern spricht, aber in ihren Büchern ihre eigne Sprache redet? Zumal mit diesen neuen Worten doch nur die alten Dinge bezeichnet werden und es trotz der Neuerung doch bei dem Alten bleibt. (§ 23.) Was will es sagen, ob Du den Reichthum, die Macht, die Gesundheit Güter oder blos Vorgezogenes nennest, da Der, welcher sie Güter nennt, sie doch nicht höher stellt, als Der, welcher sie Vorgezogenes nennet? Deshalb hat Panätius, jener unabhängige und ernste Mann, der würdige Freund und Genosse des Scipio und Lälius, in seiner an Q. Tubero gerichteten Schrift über Ertragung des Schmerzes nirgends behauptet, dass der Schmerz kein Uebel sei, obgleich dies, wenn er es hätte beweisen können, die Hauptsache gewesen sein würde; sondern er hat nur die Natur des Schmerzes und seine Beschaffenheit erörtert und gezeigt, wie viel Fremdes darin enthalten sei, und die Mittel, um den Schmerz zu ertragen, dargelegt. Da er ein Stoiker war, so scheint mir durch dessen Ausspruch die Rohheit ihrer Ausdrücke verurtheilt zu sein.
Kap. X. (§ 24.) Um indess Deinen Anführungen, mein Cato, näher zu treten und schärfer auf die Sache einzugehen, so wollen wir das von Dir eben Gesagte mit dem vergleichen, was ich über das Deinige stelle. Das, was Ihr mit den Alten gemein habt, wollen wir als zugestanden annehmen und, wenn es Dir recht ist, nur die Punkte erörtern, wo Ihr abweicht. – Ich bin ganz damit einverstanden, sagte er, dass diese Punkte schärfer und eindringender verhandelt werden; denn das, was Du bisher gesagt, ist zwar gemeinverständlich; ich möchte aber von Dir auch Scharfsinnigeres hören. – Du von mir? sagte ich; indess will ich es versuchen, und wenn mir nicht viel davon beifallen sollte, so werde ich auch das Gemeinverständliche nicht von mir weisen. (§ 25.) Ich stelle zunächst den Satz auf, dass ein Jeder für sich selbst sorgt und von der Natur vor Allem den Trieb empfangen hat, sich selbst zu erhalten. Bis hier sind wir einverstanden; es folgt nun, dass wir untersuchen, wer wir selbst sind, um uns so, wie wir sein sollen, zu erhalten. Wir sind nun Menschen und bestehen aus Leib und Seele, welche ihre besondere Beschaffenheit haben, und wir müssen, wie der erste natürliche Trieb verlangt, beides lieben und aus ihnen das höchste Gut und Uebel ableiten. Sind diese Hauptsätze richtig, so muss das höchste Gut so bestimmt werden, dass es in der Erlangung der meisten und grössten naturgemässen Dinge besteht. Dieses Ziel haben die Alten festgehalten; ich habe es mit mehr Worten ausgedrückt; Jene haben es kurz das naturgemässe Leben genannt und darin das höchste Gut gesetzt. –
Kap. XI. Aber nun zeige mir, wie die Stoiker oder vielmehr Du, (denn wer könnte es wohl besser als Du?) obgleich sie von diesen selbigen Grundlagen ausgegangen sind, dahin gelangen, dass das sittliche Leben, d.h. ein tugendhaftes oder naturgemässes Leben, das höchste Gut sein soll, und wie und wo Ihr plötzlich den Leib und Alles, was zwar naturgemäss ist, aber nicht in unsrer Macht steht, ja sogar die Pflichten habt fallen lassen. Ich frage also, wie ist es gekommen, dass so Vieles von der Natur Empfohlenes plötzlich von der Weisheit im Stich gelassen worden ist? (§ 27.) Selbst wenn man nicht nach dem höchsten Gut für den Menschen suchte, sondern für ein Wesen, was nur ein Geist ohne Körper wäre (es mag diese Annahme erlaubt sein, um die Wahrheit um so leichter zu entdecken), so würde selbst für diesen Geist Euer Ziel nicht gelten. Er würde nach Gesundheit und Schmerzlosigkeit verlangen und die Erhaltung seiner und die Bewahrung alles Dessen begehren und ein naturgemässes Leben sich als Höchstes setzen, d.h. ein Leben, wobei man alles Naturgemässe oder das Meiste und Bedeutendste davon besitzt. (§ 28.) Denn man mag sich ein lebendes Wesen denken, wie man will, selbst wenn es ohne Körper angenommen wird, so muss es doch in seiner Seele Aehnliches haben, wie in dem Körper, und deshalb kann das höchste Gut in keiner andern Weise gebildet werden, als es von mir geschehen ist. Chrysipp sagt bei Darlegung des Unterschieds unter den Geschöpfen, dass Manche durch ihren Körper, Andere durch ihren Geist sich hervorthun; Manche wären auch stark in Beiden, und hiernach erörtert er das jeder dieser Gattungen entsprechende höchste Gut. Den Menschen hat er in die Klasse der durch Geist hervorragenden Geschöpfe gestellt und er bestimmt als dessen höchstes Gut nicht etwa ein geistiges Hervorragen, sondern einen Zustand, als wenn er weiter nichts als Geist wäre.
Kap. XII. Nur unter der einen Bedingung könnte man das höchste Gut in die Tugend allein setzen, wenn nämlich ein Wesen nur ein Geist ohne Körper wäre und zwar so, dass dieser Geist nichts Naturgemässes an sich hätte, also z.B. keine Gesundheit. (§ 29.) Ein solches Wesen kann man sich aber nicht ein mal näher vorstellen, ohne in Widersprüche zu gerathen. – Wenn Chrysipp sagt, dass Manches verdunkelt und nicht bemerkt werde, wenn es sehr klein sei, so trete ich dem bei, namentlich wenn Epikur in Bezug auf die Lust sagt, dass sehr schwache Lustgefühle oft verdeckt und verhüllt werden; aber in diese Klasse gehören nicht die bedeutenderen Annehmlichkeiten des Körpers, die oft lange Zeit anhalten und deren es eine grosse Anzahl giebt. Also kann nur bei solchen Lustgefühlen, die wegen ihrer Schwäche nicht hervortreten, es häufiger vorkommen, dass es uns geständlich gleich ist, ob sie da sind oder nicht; so ist in Deinen Beispielen es gleichgültig, ob noch eine Laterne zu dem Sonnenschein hinzukommt, oder ein Pfennig zu den Schätzen des Crösus. (§ 30.) Wo aber eine solche Abschwächung nicht eintritt, da kann doch das betreffende Gefühl schwach sein, ohne dass es uns gleichgültig wird. So ist es für Den, der zehn Jahre angenehm gelobt hat, erheblich, ob dieses Leben noch einen Monat länger dauert; es ist dieser Zusatz des Angenehmen von Gewicht, also ein Gut; aber deshalb wird, wenn dieser Zusatz nicht eintritt, das glückliche Leben nicht sofort vernichtet. Damit haben nun die Güter des Körpers grosse Aehnlichkeit; bei ihnen kann eine Vermehrung stattfinden, um welche man sich müht. Deshalb möchte ich es beinah für einen Scherz halten, wenn die Stoiker sagen, dass, im Fall zu dem tugendhaft geführten Leben noch ein Salbenfläschchen oder eine Badestriegel hinzukomme, der Weise ein Leben mit diesem Zusatz wohl lieber nehmen werde, allein glücklicher werde er dadurch nicht. (§ 31.) Passt denn dieses Gleichniss? Verdient es nicht mehr Gelächter als Widerlegung? Mag ein Salbenfläschchen sein oder nicht, so wird man mit Recht ausgelacht, wenn man darum sich müht! Aber wenn Jemand die Schwere der Glieder oder die Pein von Schmerzen damit vertreibt, so verdient er grossen Dank, und wenn ein Weiser von dem Tyrannen gezwungen wird, zur Folter oder an die Pferdemaschine zu gehen, so hat er nicht die Miene, als wenn er ein Salbenfläschchen verloren hätte, sondern die eines Mannes, der einem grossen und schweren Kampf entgegen geht, den er mit seinem Hauptgegner, dem Schmerz, auszufechten hat. Er hält sich dann alle Gründe für ein tapferes und geduldiges Ausharren vor, mit deren Hülfe er diesen schweren und, wie gesagt, grossen Kampf, beginnen soll. Auch handelt es sich nicht darum, ob etwas seiner Kleinheit wegen zurücktritt oder verschwindet, sondern um Dinge, die mitgezählt werden müssen und die Summe voll machen. In einem schwelgerischen Leben verschwindet die einzelne Lust gegen die vielen andern; aber wenn jene auch nur klein ist, so bildet sie doch einen Theil des Lebens, dessen Wesen in die Lust gesetzt worden ist. Auch das einzelne Geldstück verschwindet in den Schätzen des Crösus, aber es ist doch ein Theil davon. Deshalb mögen immer die einzelnen Dinge, die man das Naturgemässe nennt, in einem glücklichen Leben nicht hervortreten, so bleiben sie doch immer Theile des glücklichen Lebens.
Kap. XIII. (§ 32.) Wenn also, wie wir eingestehen müssen, ein natürliches Begehren nach den naturgemässen Dingen besteht, so muss man all diese Dinge gleichsam in eine Summe zusammenrechnen. Erst wenn dies geschehen ist, mag man gemächlich über die Grösse der Dinge und ihre Vortrefflichkeit verhandeln und ermitteln, wie viel ein jedes zum glücklichen Leben beitragt, und mag dies selbst auf jene Verdunkelungen ausdehnen, welche einzelne Dinge wegen ihrer Kleinheit erleiden, so dass sie kaum oder gar nicht bemerkt werden. Und wie steht es mit dem, worüber keine Meinungsverschiedenheit herrscht? Denn Niemand wird bestreiten, dass bei allen Naturen das, worauf Alles bezogen wird, ein Aehnliches ist, und zwar das Höchste von allem Begehrenswerthen. Denn jede Natur liebt sich selbst; keine lässt sich, oder einen Theil seiner, oder den Zustand und die Kraft, oder die Bewegung und den Zustand eines seiner Theile oder der naturgemässen Dinge im Stich. Welche Natur hätte wohl auf ihre Grundeinrichtung keine Rücksicht genommen? Und giebt es eine, die dieses ihr Wesen nicht vom Anfang bis zum Ende bewahrt? (§ 33.) Wie sollte daher die menschliche Natur die einzige sein, die sich selbst, d.h. den Menschen, verliesse, seines Körpers vergässe und das höchste Gut nicht in den ganzen Menschen, sondern nur in einen Theil desselben verlegte? Wie wird man es da erreichen, dass für alle Naturen das höchste Gut, um das es sich handelt, das Gleiche sei, was doch die Stoiker selbst wollen und bei Allen feststeht? Es wäre dies nur dann der Fall, wenn auch bei den übrigen Naturen nur das Vorzüglichste in jeder auch das Höchste für jede wäre, wie die Stoiker das höchste Gut bestimmt haben. (§ 34.) Was zögerst Du somit, die Gesetze der Natur zu ändern? Wozu sagst Du, jedes Geschöpf sei von seiner Geburt ab bestrebt, sich zu lieben und mit seiner Erhaltung beschäftiget? weshalb sagst Du nicht vielmehr, jedes Geschöpf sei mit dem, was das Beste in ihm ist, beschäftiget und sorge für dessen Erhaltung allein, und ebenso thäten auch die andern Geschöpfe nichts, als das zu erhalten, was in jedem das Beste ist? Wie kann es aber ein Bestes geben, wo kein Gutes weiter besteht? Wenn aber auch noch Anderes zu erstreben ist, weshalb wird das höchste Ziel nicht als das bestimmt, was alle diese Dinge befasst, oder die meisten und besten? So wie Phidias selbstständig eine Bildsäule beginnen und vollenden kann, aber auch eine von einem Andern begonnene Bildsäule übernehmen und vollenden kann, so verhält es sich auch mit der Weisheit; denn sie hat nicht selbst den Menschen gemacht, sondern hat den angefangenen von der Natur übernommen. Auf diese blickend hat sie das von dieser begonnene Werk, gleich einer Bildsäule, zu vollenden. (§ 35.) Wie hat nun die Natur den Menschen begonnen? Und was ist die Aufgabe und die Arbeit der Weisheit? Was hat sie zu beenden und zu vollenden? Wenn nur eine gewisse Bewegung des Geistes zu vollenden ist, d.h. die Vernunft, so muss für Den, der dies annimmt, das tugendhafte Handeln als das Höchste gelten; denn die Tugend ist die Vollendung der Vernunft. Wenn aber die Vollendung nur auf den Körper zu richten ist, so ist das Höchste die Gesundheit, die Schmerzlosigkeit, die Schönheit u.s.w. Jetzt handelt es sich aber um das höchste Gut des Menschen.
Kap. XIV. (§ 36.) Weshalb zögern wir also, in seiner ganzen Natur Das zu finden, was als Ziel gelten soll? Denn Alle sind einverstanden, dass die Aufgabe und das Amt der Weisheit in der Pflege des Menschen besteht; aber Einige (damit Du nicht denkst, ich spreche blos gegen die Stoiker) stellen Ansichten auf, wonach das höchste Gut in Etwas ausserhalb der Macht des Menschen verlegt wird, als wenn es sich um ein Ding ohne Seele handelte; Andere richten, als wenn der Mensch keinen Körper hätte, ihr Augenmerk nur auf die Seele, obgleich doch die Seele selbst kein solches leeres Etwas ist (ich weiss nicht, was, denn es ist mir unverständlich), sondern eine Art Körper ist, weshalb auch die Seele mit der Tugend allein nicht zufrieden ist, sondern noch die Freiheit von Schmerzen verlangt. Die Vertreter dieser beiden Ansichten gleichen Einem, der die linke Seite des Körpers vernachlässigt und nur die rechte beschützt; oder sie lassen sich, wie Herillus, das Erkenntnissvermögen der Seele angelegen sein, vernachlässigen aber ihr Handeln. Sie lassen Alle Vieles bei Seite und suchen nur Eines hervor, was sie eifrig verfolgen, als wenn ihre Lehre beschnitten worden wäre. Vielmehr kann nur die Ansicht Derer für vollständig und vollendet gelten, welche bei Ermittelung des höchsten Gutes für den Menschen keinen Theil, weder in seiner Seele noch in seinem Körper ohne Fürsorge gelassen haben. (§ 37.) Ihr, mein Cato, habt, weil die Tugend, wie Alle einverstanden sind, die oberste und ausgezeichnetste Stelle bei dem Menschen einnimmt, und weil die Weisen für vollendet und vollkommen gelten, die Schärfe unsres Geistes durch den Glanz der Tugend verdunkelt. Bei jedem Geschöpf giebt es ein Höchstes und Bestes, wie bei den Pferden und Hunden; allein trotzdem wollen sie auch vom Schmerze frei und gesund sein. Ebenso wird auch bei dem Menschen seine Vollkommenheit in dem, was das Beste an ihm ist, nämlich in der Tugend, am meisten gelobt. Daher scheint Ihr mir den Weg der Natur und ihre Entwickelung nicht gehörig zu beachten. Wenn sie bei dem Getreide den Halm, nachdem das Korn gereift ist, verlässt und nicht weiter beachtet, so thut sie doch nicht das Gleiche bei dem Menschen, nachdem sie ihn zu dem Gebrauch der Vernunft geleitet hat. Das Neue tritt bei ihm immer nur in der Weise hinzu; dass das Frühere, was sie gewährt hat, nicht aufgegeben wird. (§ 38.) So fügt sie den Sinnen später die Vernunft bei, aber wenn dies geschehen ist, verlässt sie die Sinne nicht. Wenn z.B. der Weinbau, dem es obliegt, den Weinstock in allen seinen Theilen aufs Beste herzustellen und zu erhalten, wenn man also sich vorstellte (da auch uns eine Erdichtung, wie Euch, zur Belehrung gestattet sein wird), dass dieser Weinbau in dem Weinstock selbst enthalten wäre, so wird er, ebenso wie vorher, für Alles sorgen, was zur Entwickelung des Weinstocks nöthig ist; aber er wird sich selbst über alle Theile des Weinstocks stellen und sich selbst für das Beste in demselben halten; ebenso werden die Sinne, wenn sie der menschlichen Natur hinzutreten, zwar diese, aber auch sich selbst beschützen, und wenn die Vernunft dann noch hinzugetreten ist, so wird ihr eine solche Herrschaft eingeräumt werden, dass alle ersten Triebe der Natur ihrem Schutze untergeben werden. (§ 39.) Sie wird also von deren Pflege nicht ablassen, wenn sie als die Vorgesetzte das ganze Leben leiten soll. Ich kann mich deshalb über die Widersprüche Derer nicht genug verwundern, die das eine Mal anerkennen, dass die Triebe, welche sie hormê nennen, ferner die Pflichten und die Tugenden selbst zu dem Naturgemässen gehören, aber dann bei Aufsuchung des höchsten Guts dies Alles überspringen und uns zwei Aufgaben statt einer setzen; Einiges soll man annehmen, Anderes begehren, während sie vielmehr Beides in ein Ziel hätten zusammenfassen sollen.
Kap. XV. (§ 40.) Ihr sagt indess, dass die Tugend nicht fest begründet werden könne, wenn das ausserhalb der Tugend Liegende auch zum glücklichen Leben gehören solle. Allein dies ist durchaus verkehrt; man kann die Tugend nicht einführen, wenn nicht Alles, was sie erwählen und was sie verwerfen soll, auf ein Höchstes bezogen wird. Wollten wir uns selbst ganz vernachlässigen, so würden wir in die Fehler und Laster des Aristo verfallen und vergessen, welche Grundsätze wir selbst für die Tugend aufgestellt haben; wollten wir aber diese Dinge zwar nicht vernachlässigen, aber doch nicht zu dem Höchsten mit rechnen, so würden wir so ziemlich der Leichtfertigkeit Herill's uns nähern, und wir hätten dann die Einrichtung für zwei Leben zu treffen. Herill stellt nämlich zweierlei höchste Güter auf; wäre dies richtig, so hätten sie vereinigt werden müssen; jetzt werden sie aber getrennt hingestellt; eines oder das andere, was durchaus verkehrt ist. (§ 41.) Deshalb verhält es sich umgekehrt und die Tugend kann nicht begründet werden, wenn sie nicht die ersten Triebe der Natur als zum Höchsten mit gehörig festhält. Man sucht nach einer Tugend, welche die Natur nicht verlässt, sondern sie beschützt; aber die Eure schützt nur einen Theil und vernachlässigt das Uebrige. Die menschliche Natur würde, wenn sie sprechen könnte, sagen, dass ihre ersten gleichsam Griffe im Begehren auf Erhaltung dessen gerichtet gewesen, womit sie auf die Welt gekommen sei. Indess habe ich noch nicht erklärt, was die Natur am meisten verlangt, und ich will es deshalb nachholen. Es ist offenbar nichts Anderes, als dass kein Theil der Natur vernachlässigt werde. Besteht sie nun blos aus Vernunft, so mag das höchste Gut lediglich in der Tugend bestehn; gehört aber auch ein Leib dazu, sollte da wohl die Entwickelung der Natur dahin führen, dass man das vernachlässigt, was man vor dieser Entwickelung besass? Wäre dann das naturgemässe Leben nicht vielmehr ein Abweichen von der Natur? (§ 42.) So wie einige Philosophen, die von den Sinnen ausgehend später Grösseres und Göttlicheres geschaut haben und dann die Sinne verlassen haben, so verfahren auch Die, welche, von dem Begehren nach den Dingen ausgehend, dann die Schönheit der Tugend erblickt haben; sie werfen alles ausser der Tugend Gesehene bei Seite und vergessen, dass jede Natur in ihrem Begehren sich so entwickelt, dass sie von den Anfängen zu den Zielen fortgeht und sie übersehen, dass sie diesen schönen und bewundernswerthen Dingen die Grundlage entziehen.
Kap. XVI. (§ 43.) Mir scheinen daher Alle sich geirrt zu haben, welche das höchste Gut in das sittliche Leben setzten; indess der Eine mehr als der Andere; am meisten Pyrrho, welcher nach Aufstellung der Tugend durchaus nichts Begehrenswerthes daneben gelten lässt; dann Aristo, der nicht so weit ging, sondern Dinge anerkannte, welche den Weisen erregen, so dass er sie begehrt, wenn sie ihm in den Sinn kommen, oder gleichsam begegnen. Er steht über Pyrrho, weil er noch andere Dinge neben der Tugend als begehrenswerth anerkennt, aber er steht hinter den Uebrigen zurück, weil er ganz von der Natur abgewichen ist. Die Stoiker stehen Beiden in so weit gleich, als sie in die Tugend allein das höchste Gut setzen; indem sie aber auch eine Grundlage für die Pflichten suchen, stehen sie über Pyrrho, und indem sie kein solches Entgegenkommendes sich ausdenken, auch höher als Aristo; indem sie aber das von ihnen als naturgemäss Anerkannte und um sein selbst willen zu Suchende nicht in das höchste Gut einschliessen, fallen sie von der Natur ab und gleichen gewissermassen dem Aristo. Dieser stellt entgegenkommende Dinge auf, ich weiss nicht welche; die Stoiker stellen nun zwar ein erstes Naturgemässe auf, aber trennen es vom Endziele und vom höchsten Gute; soweit sie nun jenes zu einem bevorzugten machen, um damit eine Auswahl zu ermöglichen, folgen sie der Natur; indem sie aber bestreiten, dass es zu dem höchsten Gute gehöre, weichen sie wieder von der Natur ab. (§ 44.) Bis hierher habe ich ausgeführt, dass Zeno keinen Grund hatte, von den anerkannten Lehren der Aeltern abzuweichen; ich gehe nun zu dem Uebrigen fort, wenn Du, mein Cato, nicht auf das Bisherige Etwas erwidern willst oder ich nicht schon zu lange gesprochen habe. – Keines von Beiden, sagte er; vielmehr möchte ich, dass Du Deine Ausführung vollendetest, und Deine Rede wird mir nicht zu lang werden. – Sehr gut, sagte ich; was kann mir lieber sein, als mit Cato, dem Muster aller Tugenden, über die Tugend mich zu unterhalten. (§ 45.) Ich bitte Dich, zunächst zu beachten, dass Euer oberster Grundsatz, der alles Andere nach sich zieht und wonach nur das Sittliche allein das Gut und ein sittliches Leben das höchste Gut ist, Euch mit allen Denen gemeinsam ist, welche in der Tugend allein das höchste Gut finden, und wenn Ihr sagt, dass man sich von der Tugend keinen Begriff machen könne, wenn noch etwas Anderes als das Sittliche dazu gerechnet werde, so wird auch dies von Denen behauptet, die ich eben genannt habe. Mir hätte es nun richtiger geschienen, wenn Zeno bei seinem Streit mit Polemo, von dem er die ersten Naturtriebe übernommen hatte und mit dem er die Grundlagen, von Denen sie ausgingen, gemeinsam hatte, den Punkt beachtet hätte, wo er zuerst einzuhalten habe, und bei welchem Punkte der Anlass zu seinen abweichenden Ansichten zuerst hervortrete; und wenn er sich nicht Denen zugesellt hätte, welche gar nicht behaupteten, dass ihr höchstes Gut von der Natur ausgehe, während er doch dieselben Beweisgründe und Aussprüche, welche diese aufgestellt hatten, benutzte.
Kap. XVII. (§ 46.) Ich kann es nicht billigen, dass, nachdem Ihr nur in das Sittliche das höchste Gut verlegt habt, denn doch wieder es für nothwendig anerkennt, Anfänge, die der Natur angemessen und entsprechend sind, aufzustellen und die Tugend in der Auswahl unter diesen bestehen zu lassen. Ihr durftet die Tugend nicht in eine solche Auswahl setzen, und so dem höchsten Gute noch etwas Anderes anfügen; vielmehr muss Alles, was man ergreifen, auswählen und wünschen soll, in dem höchsten Gute selbst enthalten sein, damit Dem, welcher es erreicht hat, nichts abgehe. Siehst Du nicht, wie klar für Die, welche das höchste Gut in die Lust setzen, vorliegt, was sie zu thun und zu unterlassen haben? Bei diesen zweifelt Niemand, wohin all ihre Pflichten abzielen, was er aufsuchen und vermeiden solle. Und wenn das von mir vertheidigte als das höchste Gut anerkannt wird, so erhellt auch hier sofort, welche Pflichten bestehen und was zu thun ist. Bei Euch dagegen, die Ihr nur das Rechte und Sittliche als höchstes Gut anerkennt, sucht man vergebens die Grundlage für die Pflichten und die Handlungen. (§ 47.) Um diese Grundlage zu gewinnen, müssen Alle, sowohl Die, welche sagen, dass sie nur dem nachgehen, was ihnen einfällt oder in dem Sinn kommt, als auch Ihr, zur Natur zurückkehren; und die Natur wird Euch und Jenen mit Recht antworten, dass es falsch sei, wenn man das Endziel des glücklichen Lebens wo anders suche, aber doch die Grundsätze des Handelns von der Natur entnehme; vielmehr müsse dieselbe Grundlage sowohl die Grundsätze des Handelns, wie das höchste Gut befassen. So wie die Ansicht Aristo's schon beseitigt ist, wonach kein Unterschied in den Dingen bestehn, und es neben den Tugenden und Lastern nichts geben soll, wobei eines mehr werth sei als das andere, so irrt auch Zeno, wenn er nur in der Tugend oder dem Laster und in sonst keinem Dinge die geringste Bedeutung für die Erlangung des höchsten Gutes findet. So soll also alles Andere für das glückliche Leben keine Bedeutung haben, aber dennoch soll unter demselben Einzelnes das Begehren bestimmen; als ob dieses Begehren in keiner Beziehung zu dem höchsten Gute stehe. – (§ 48.) Was ist widersprechender, als wenn die Stoiker nach Erkenntniss des höchsten Guts zur Natur sich zurückwenden, um aus ihr die Grundlagen für das Handeln, d.h. für die Pflichten zu gewinnen? Nicht das Handeln oder die Pflicht treibt zu dem Begehr des Naturgemässen, vielmehr wird von diesem das Begehren und das Handeln erweckt.
Kap. XVIII. Ich komme nun zu den kurzen Aussprüchen, welche Du als Folgesätze bezeichnetest; zunächst zum kürzesten von allen: Alle Güter sind lobenswerth und alles Lobenswerthe ist sittlich, mithin sind alle Güter sittlich. Oh! welch bleierner Dolch! wer wird Dir den ersten Satz zugeben; denn dann bedürfte es nicht des zweiten; da, wenn alle Güter lobenswerth sind, sie auch alle sittlich sind. (§ 49.) Niemand, mit Ausnahme des Pyrrho, Aristo und seiner Gesangsgenossen, wird Dir dies zugestehen, und deren Ansichten theilst Du nicht; dagegen wird Aristoteles, Xenokrates mit all ihren Anhängern es nicht einräumen, da ihnen auch die Gesundheit, die Kräfte, der Reichthum, der Rahm und vieles Andere als ein Gut gilt, ohne dass sie sie für lobenswerth halten. Wenn schon diese Männer so verfahren, welche das höchste Gut nicht ausschliesslich in die Tugend setzten, aber die Tugend doch allem Andern voranstellten, was kann man da erst von Denen erwarten, welche die Tugend überhaupt von dem höchsten Gute ausschliessen, wie Epikur, Hieronymus und selbst Jene, die an dem höchsten Gut des Carneades festhalten? (§ 50.) Selbst Callipho und Diodor könnten Dir dies nicht zugestehen, da sie mit der Sittlichkeit noch etwas Anderes, davon Verschiedenes, verbinden. Wirst Du aber, mein Cato, aus nicht zugestandenen Vordersätzen das ableiten wollen, was Du brauchst? – Aber nun kommen wir zu jenem Kettenschluss, obwohl Ihr diese Art von Schlüssen für fehlerhaft haltet. Er lautet: Was ein Gut ist, das ist auch wünschenswerth, und was wünschenswerth ist, das ist zu erstreben, was zu erstreben ist, das ist löblich, und so weiter die übrigen Glieder. Auch hier kann ich nicht nachgeben. Denn in dieser Weise wird Niemand Dir zugestehen, dass das zu Erstrebende löblich sei. Am wenigsten folgerecht, sondern besonders fehlerhaft ist ferner der Schluss, wo Jene, nicht Du, sagen, dass ein ruhmwürdiges Leben auch ein glückliches sei, weil ohne Sittlichkeit Niemand mit Recht gerühmt werden könne. (§ 51.) Polemo wird das dem Zeno zugestehen; ebenso sein Lehrer und seine Anhänger und die Uebrigen, welche die Tugend zwar Allem weit voranstellen, aber ihr doch bei Bestimmung des höchsten Guts noch Etwas beifügen. Aber wenn es auch richtig ist, dass die Tugend des Rühmens werth ist und in unbesiegbarer Weise allem Anderen voransteht, und Jemand auch mit der Tugend allein und ohne sonst etwas glücklich sein kann, so kann man Dir doch nicht zugestehen, dass nur die Tugend und sonst Nichts zu den Gütern zu rechnen sei. Dagegen werden Die, für welche das höchste Gut die Tugend nicht enthält, wahrscheinlich nicht zugestehen, dass Der ein glückliches Leben habe, welcher mit Recht gerühmt werden kann, obgleich auch Diese den Ruhm mitunter zu der Lust rechnen.
Kap. XIX. (§ 52.) Du siehst also, dass Du entweder Sätze benutzest, die man nicht zugesteht, oder dass Sätze, die man zugesteht, Dir nichts nützen. Ich möchte vielmehr annehmen, dass bei allen diesen Schlussfolgerungen es uns und der Philosophie am Besten anstünde, namentlich bei Aufsuchung des höchsten Guts, unser Leben, unsere Absichten und Pläne zu verbessern und nicht blos die Worte. Wer kann, wenn er jene kurzen und scharfsinnigen Sätze hört, die Dir so gefallen, seine eignen Ansichten aufgeben? Man erwartet und horcht, zu vernehmen, weshalb der Schmerz kein Uebel sei? Man hört zwar, dass der Schmerz hart, lästig, verhasst, unnatürlich, kaum erträglich sei, aber trotzdem sei er kein Uebel, weil er keinen Betrug, keine Unredlichkeit noch Bosheit, noch Schuld oder Schlechtigkeit enthalte. Wer dies hört, wird, wenn er auch nicht lachen sollte, doch bei seinem Fortgehen nicht fester in Ertragung des Schmerzes geworden sein, als er gekommen ist. (§ 53.) Du dagegen bestreitest, dass Jemand tapfer sein könne, wenn er den Schmerz für ein Uebel halte. Warum soll er aber tapferer sein, wenn er doch, wie Du zugiebst, den Schmerz für hart und kaum erträglich hält? Die Feigheit entspringt doch aus der Sache und nicht aus den Worten. Du sagst ferner, dass das ganze Lehrgebäude zusammenfalle, wenn man auch nur an einem Buchstaben rüttle. Aber meinst Du, dass ich nur Buchstaben und nicht ganze Seiten wankend mache? Es mag sein, wie Du lobend hervorhobst, dass bei den Stoikern die Dinge in guter Ordnung vorgetragen werden und Alles zu einander passt und unter sich verknüpft ist (wie Du sagtest), aber man darf doch sich dem nicht anschliessen, wenn die Sätze zwar zu einander passen und der Gang richtig eingehalten worden, aber wenn sie von falschen Obersätzen abgeleitet sind. (§ 54.) So wich Dein Zeno schon bei seinem ersten Grundsatze von der Natur ab, wenn er das höchste Gut in die Vortrefflichkeit des Verstandes, die wir Tugend nennen, setzte und nichts Anderes für ein Gut gelten lassen wollte, als das Sittliche, und wenn er behauptete, die Tugend könne nicht bestehen, wenn bei den übrigen Dingen irgend ein Unterschied nach Gut oder Schlecht stattfinde. Aus diesen Vordersätzen hat er die Folgesätze richtig abgeleitet; dies muss ich anerkennen; allein diese Folgesätze sind doch in sich so unwahr, dass die Sätze, aus denen sie abgeleitet sind, nicht wahr sein können. (§ 55.) Denn die Dialektiker lehren, wie Du weisst, dass, wenn die aus einem Satz sich ergebenden Folgen falsch seien, auch der Satz selbst, aus dem sie folgen, falsch sei. Darauf beruht der nicht blos wichtige, sondern auch klare Schluss, von dem die Dialektiker jede Rechtfertigung für überflüssig halten, nämlich der Schluss: Wenn Jenes ist, so ist auch Dieses; wenn aber Dieses nicht ist, so ist auch Jenes nicht. Daher fallen mit Beseitigung Eurer Folgesätze auch Eure Vordersätze. Was sind nun Eure Folgesätze ? Alle, die nicht weise sind, sollen gleich elend sein; alle Weisen sollen höchst glücklich sein; alle rechten Handlungen sollen sich gleich stehn und ebenso alle Uebelthaten. Dies klang im Anfange grossartig, aber als man es genauer betrachtete, konnte man nicht beitreten. Denn die Sinne eines Jeden und die Beschaffenheit der Dinge und die Wahrheit selbst schrien gleichsam laut auf, wie es nicht angehe, dass unter den Dingen, die Zeno gleich machen wollte, kein Unterschied bestehe.
Kap. XX. (§ 56.) Später hat Dein feiner Punier (denn Du weisst ja, dass die Einwohner von Citium, Deine Klienten, aus Phönizien stammen), ein scharfsinniger Kopf, da er sah, dass er in der Sache nicht obsiegen könne und die Natur dem widerstreite, angefangen, die Worte zu verdrehen; zunächst gab er zu, dass die Dinge, welche wir für Güter halten, angemessen, passend und unsrer Natur entsprechend seien, und er begann einzuräumen, dass für den Weisen, d.h. für den höchst Glücklichen es doch angenehmer sei, wenn er das besitze, was er zwar Güter zu nennen nicht wagte, aber als naturgemäss anerkannte. Er behauptete daher nicht, dass Plato, sofern er nicht als Weiser gelten könne, in demselben Zustande wie der Tyrann Dionysius sich befunden habe; denn für Diesen sei das Sterben das Beste gewesen, weil an seiner Weisheit verzweifelt werden musste, während für Jenen das Leben besser gewesen, da er noch die Hoffnung auf Erlangung der Weisheit hatte. Ebenso erkannte er an, dass manche Fehler erträglich seien, andere nicht; weil manche mehr, andere weniger Pflichten verletzen, und dass unter den Unwissenden Manche der Art wären, dass sie die Weisheit niemals erlangen könnten, während Andere, wenn sie entsprechend gehandelt hätten, dies vermocht haben würden. (§ 57.) Dieser Mann sprach allerdings anders wie die übrigen Stoiker, allein innerlich dachte er doch wie sie. Indess schätzte er das, was er selbst als Güter nicht anerkennen wollte, nicht geringer als Die, welche es für Güter erklärten. Was hat er daher mit dieser Veränderung der Worte bezweckt? Er hätte wenigstens etwas von dem Gewichte bei diesen Dingen abnehmen und sie ein wenig geringer als die Peripatetiker schätzen sollen, damit man gesehen, er spreche nicht blos anders, sondern habe auch eine andere Meinung. Aber was sagt Ihr nun über das glückliche Leben, auf welches Alles bezogen wird? Ihr bestreitet, dass es jenes sei, was im Besitz Alles dessen ist, was die menschliche Natur begehrt; vielmehr setzt ihr es in die Tugend allein. Wenn nun aller Streit entweder über die Sache oder über deren Namen geführt wird, so entsteht ein solcher nach beiden Beziehungen, wenn man entweder die Sache nicht kennt oder in deren Namen sich irrt; ist keines von beiden der Fall, so soll man sich sorgfältig derjenigen Worte bedienen, welche die gebräuchlichsten und passendsten sind, d.h. welche die Sache selbst am besten bezeichnen. (§ 58.) Vielleicht kann man aber zweifeln, ob nicht die Alten, wenn sie auch in der Sache nichts versehen haben, doch in den Worten sich passender hätten ausdrücken können; wir wollen also zunächst ihre Ansichten untersuchen und dann auf die Worte zurückkommen.
Kap. XXI. Nach ihnen wird das Begehren in der Seele erweckt, wenn ihr Etwas als naturgemäss erscheint; alles Naturgemässe sei aber schätzenswerth und zwar jedes nach seiner Bedeutung. Von dem Naturgemässen habe ein Theil nichts von dem oft genannten Verlangen in sich; und es gelte weder als sittlich noch als löblich; ein anderer Theil errege in allem Lebendigen die Lust und bei dem Menschen auch die Vernunft. Von Letzterem werde das Passende sittlich, schön und lobenswerth genannt; das Andere heisse das Natürliche, und dieser Theil, verbunden mit dem Sittlichen, vollende das glückliche Leben. (§ 59.) Von allen jenen angenehmen Dingen, die sie zwar Güter nennen, aber die sie nicht höher stellen, als Zeno, welcher leugnet, dass sie zu den Gütern gehören, ist das Sittliche und Löbliche bei Weitem das vorzüglichere; wenn aber ein zwiefaches Sittliche vorliege, von denen das eine mit Gesundheit, das andere mit Krankheit verbunden ist, so könne man zwar darüber nicht zweifeln, zu welchem von beiden die Natur selbst uns führen werde; allein trotzdem sei die Macht der Sittlichkeit so gross und sie übertreffe alles Andere so sehr, dass der Mensch sich durch keine Strafe und keinen Lohn von dem abbringen lassen werde, was er als recht erkannt habe; vielmehr könnten alle Schwierigkeiten, Widerwärtigkeiten und Unfälle durch die Tugenden, mit welchen die Natur uns geschmückt habe, zu nichte gemacht werden. Dies sei zwar nicht so leicht und jene Dinge seien von Bedeutung; denn was hätte man sonst so Grosses an der Tugend; aber unser Urtheil müsse immer dahin gehen, dass in diesen Dingen nicht die Hauptsache für das glückliche oder unglückliche Leben enthalten sei. (§ 60.) Kurz, die Dinge, welche Zeno schätzbar, annehmbar und naturgemäss genannt hat, nennen Jene Güter, und das glückliche Leben besteht nach ihnen aus den genannten Dingen, oder wenigstens aus den meisten und wichtigsten davon. Zeno nennt dagegen nur das ein Gut, was wegen seiner eigenthümlichen Schönheit zu erstreben ist, und nur das ein glückliches Leben, was tugendhaft verlebt wird.
Kap. XXII. In der Sache selbst wird zwischen mir und Dir, mein Cato, keine Meinungsverschiedenheit bestehen; in der Sache sind wir überall einig; nur geben wir den Dingen verschiedene Namen. Auch Zeno hat dies wohl gewusst, allein er ergötzte sich an glänzenden und hochklingenden Worten; denn wenn er es so meinte, wie er sprach, so bliebe kein unterschied zwischen ihm und dem Pyrrho und Aristo. Wenn er aber mit Diesen nicht einer Meinung war, wozu nutzte es da, sich von Denen, mit welchen er in der Sache einig war, in den Worten zu trennen? (§ 61.) Wenn nun die Schüler des Plato und deren Zuhörer wieder lebendig würden und zu Dir sprächen: Wir hören, mein Cato, dass Du der Philosophie eifrig ergeben, ein Mann voll Rechtlichkeit, der beste Richter, der gewissenhafteste Zeuge seiest und wundern uns deshalb, weshalb Du uns den Stoiker nachsetzest, die über die Güter und Uebel ganz so denken, wie Zeno es von dem Polemo gelernt hatte, und nur sich solcher Ausdrücke bedienen, die zwar beim ersten Hören Bewunderung erwecken, aber wenn man ihren Sinn erkannt hat, nur das Lachen erregen. Wenn Du diese Ansichten billigst, weshalb hältst Du sie nicht mit den richtigen Worten fest? Wenn das Ansehn der Person Dich bestimmt hat, so ziehst Du also uns Allen und selbst dem Plato Einen, ich weiss nicht, wie ich ihn nennen soll, vor? Zumal da Du im Staate Dich auszeichnen willst, hättest Du von uns am besten ausgerüstet und belehrt werden können, um den Staat mit Deiner ganzen Würde zu schützen. Denn wir haben dies untersucht, beschrieben, verzeichnet und gelehrt, und über die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten und über die Arten, Zustände, Veränderungen, Gesetze, Einrichtungen und Sitten der Staaten ausführliche Bücher verfasst. Ebenso hättest Du für die Beredsamkeit, welche auch den vornehmsten Männern zur grossen Zierde gereicht und in welcher Du ein Meister sein sollst, aus den Denkmälern unsres Geistes Vieles lernen können. – Wenn jene Männer so zu Dir gesprochen hätten, was hättest Du ihnen wohl antworten können? – (§ 62.) Thue Du dies lieber für mich, sagte er, da Du ja auch für Jene gesprochen hast; oder ich möchte Dich um ein wenig Zeit für meine Antwort bitten, wenn ich nicht vorzöge, jetzt nur Dich zu hören und die Antwort für jene auf eine andere Zeit zu versparen, wo ich Dir antworten werde.
Kap. XXIII. Nun, mein Cato, wenn Du die Wahrheit ihnen in Deiner Antwort sagen wolltest, so müsstest Du folgendermassen sprechen: Diese Männer von so grossem Geiste und bedeutendem Ansehn hätten Dir zwar nicht misfallen; aber Du hättest bemerkt, dass die Dinge, welche sie wegen der alten Zeiten noch wenig erkannt hatten, von den Stoikern durchschaut worden seien; diese hätten sie scharfsinniger untersucht und sie ernster und eindringender aufgefasst; denn sie hätten zuerst es ausgesprochen, dass die Gesundheit nicht zu erstreben, sondern nur zu wählen sei und dass sie nicht als Gut einen Werth habe, sondern weil sie nicht für nichts zu achten sei; obgleich auch die Männer, welche sie zu den Guten rechnen, sie deshalb nicht höher stellen. Du hättest es nicht ertragen können, dass jene Alten, jene Langbärte, wie wir von den Unsrigen zu sagen pflegen, ein Leben für wünschenswerther und besser und erstrebenswerther gehalten hätten, wo mit dem sittlichen Verhalten auch eine gute Gesundheit, ein guter Ruf und Vermögen verbunden sei, als ein Leben, wo man zwar auch ein rechtschaffener Mann aber »in vielerlei Weise« wie der Alcmäon bei Ennius
». . . . . von Krankheit geplagt sei, verbannt und in Elend.«
(§ 63.) Jene Alten hätten ein solches Leben weniger scharfsinnig ein wünschenswerthes, vorzüglicheres und glücklicheres genannt; dagegen hätten die Stoiker es nur als ein solches bezeichnet, was man bei der Wahl vorzuziehen habe, nicht weil es glücklicher, sondern naturgemässer sei; auch hätten ihnen alle Menschen, die nicht weise wären, für gleich elend gegolten. Die Stoiker hätten es nämlich bemerkt, die Aeltern aber übersehen, dass Menschen befleckt mit Vatermord und allen Verbrechen keineswegs elender seien als die, welche bei einem züchtigen und rechtschaffenen Lebenswandel nur jene vollendete Weisheit noch nicht erreicht hätten. (§ 64.) Und hier hast Du jene ganz unpassenden Gleichnisse vorgebracht, die man von den Stoikern zu hören bekommt; denn das weiss allerdings Jeder, dass, wenn Mehrere aus der Tiefe des Meeres sich erheben, die, welche der Oberfläche des Wassers schon nahe sind, dem Athem holen zwar näher sind, als die noch in der Tiefe befindlichen, aber trotzdem so wenig wie diese schon Athem holen können. Also soll es nichts helfen, wenn man in der Tugend vorschreitet, und soll man vor der Erlangung der Tugend immer gleich unglücklich sein, weil bei dem Wasser dies nichts nützt, und weil die kleinen Hündchen, die bald sehen werden, ebenso blind sind als die nur erst gebornen? Dann müsste auch Plato, weil er die Weisheit noch nicht sah, geistig so blind gewesen sein, wie Phalaris.
Kap. XXIV. (§ 65.) Jene Gleichnisse, mein Cato, passen hier nicht, weil in den Fällen dieser Gleichnisse, wenn man auch schon grosse Fortschritte gemacht hat, doch noch die Lage dieselbe bleibt, der man entgehen will, so lange man nicht völlig herausgekommen ist; denn der im Wasser kann nicht eher Athem holen, bis er aufgetaucht ist, und die Hündchen sind, ehe ihre Augen sich geöffnet haben, ebenso blind, als wenn sie immer blind bleiben würden. Dagegen kann man als Gleichniss setzen, dass Jemand schwache Augen hat oder dass ein Anderer körperlich siecht; diese bessern sich durch ihre Kur von Tag zu Tag und der Eine wird täglich wohler und der Andere lernt täglich besser sehen. Diesen gleichen Alle, welche nach der Tugend streben; ihre Fehler, ihre Irrthümer nehmen ab; Du müsstest denn meinen, dass T. Gracchus der Vater, nicht glücklicher als sein Sohn gewesen sei, da Jener den Freistaat befestigen und Dieser ihn umstürzen wollte. Trotzdem war der Vater kein Weiser (denn wo und wenn giebt es einen solchen; woher kommt er, oder wo ist er?), vielmehr war er glücklicher, weil er dem Lobe und der Ehrenhaftigkeit nachstrebte, und in der Tugend schon weit vorgerückt war. (§ 66.) Lass uns Deinen Grossvater Drusus mit G. Gracchus vergleichen, der beinah sein Zeitgenosse war. Die Wunden, welche Letztrer dem Freistaate schlug, heilte Jener. Wenn nichts so elend macht, als Gottlosigkeit und Verbrechen, so kann man zwar zugeben, dass alle unwissende elend seien, wie dies auch richtig ist; allein das Elend Dessen, der dem Vaterland beisteht, und Dessen, der es vernichten will, ist nicht gleich gross. Deshalb ist eine grosse Erleichterung der Fehler bei Denen vorhanden, welche einige Fortschritte zur Tugend gemacht haben. (§ 67.) Ihr erkennt an, dass ein Fortschritt zur Tugend statthaben, könne, aber bestreitet, dass eine Minderung der Fehler möglich sei. Indess verlohnt es sich der Mühe, den Grund, womit diese scharfsinnigen Männer dies beweisen wollen, näher zu betrachten. Sie sagen, dass in Wissenschaften und Künsten, wo das Höchste noch wachsen könne, auch das entgegengesetzte Höchste noch zunehmen könne; aber zum Höchsten der Tugend, könne nichts hinzukommen und deshalb könnten auch die Fehler nicht wachsen, da sie nur das Gegentheil der Tugenden seien. Aber soll denn das Klare durch das Zweifelhafte beseitigt, oder nicht vielmehr das Zweifelhafte durch das Klare gelöst werden? Es ist doch klar, dass der eine Fehler grösser ist als der andere; dagegen ist es zweifelhaft, ob bei dem höchsten Gut, wie Ihr es fasst, noch eine Steigerung eintreten kann, und Ihr versucht somit das Klare durch das Zweifelhafte aufzuheben, anstatt dass Ihr durch das Klare die Zweifel aufhellen solltet. (§ 68.) Ihr werdet deshalb hier wieder von demselben Einwand getroffen, dessen ich mich schon vorher bedient habe. Wenn nämlich die mancherlei Fehler deshalb in der Grösse nicht verschieden sein können, weil bei dem höchsten Gute, wie Ihr es bildet, keine Vermehrung eintreten könne, so muss vielmehr, da es klar ist, dass die Fehler aller Menschen nicht gleich sind, Euer höchstes Gut eine Aenderung erleiden; denn wir müssen festhalten, dass, wenn eine Folge sich als falsch ergiebt, nothwendig der Satz, aus dem die Folge hervorgeht, falsch sein muss.
Kap. XXV. Was ist nun die Ursache von all diesen Verlegenheiten? Nur eine ruhmsüchtige Prahlerei bei Bildung des höchsten Gutes. Denn wenn nur das Sittliche das alleinige Gut sein soll, so fällt damit die Sorge für die Gesundheit fort, so wie die Thätigkeit in den eignen Angelegenheiten, die Theilnahme an den Staatsgeschäften, die Ordnung in der Führung der Geschäfte und alle Pflichten am Leben; ja, jenes Sittliche selbst muss aufgegeben werden, in welches Ihr Alles verlegt. Chrysipp hat dies am sorgfältigsten gegen Aristo dargelegt. Aus dieser Schwierigkeit sind nur jene »irreführenden Bosheiten«, wie Accius sagt, entstanden. (§ 69.) Denn die Weisheit wüsste nicht, wohin sie den Fuss setzen sollte, wenn alle Pflichten aufgehoben würden, und dies geschah, wenn alle Auswahl und aller Unterschied beseitigt wurden, welche nicht bestehen konnten, sobald alle Dinge einander so gleich gemacht wurden, dass eines nicht mehr, als das andere anzog. Aus dieser Verlegenheit gingen jene Spitzfindigkeiten hervor, die schlimmer waren als die des Aristo; denn dessen Sätze waren noch einfach, die Eurigen sind aber hinterlistig. Denn wenn Du den Aristo fragst, ob er die Schmerzlosigkeit, den Reichthum, die Gesundheit, zu den Gütern rechne, so wird er es verneinen, und auf die Frage, ob deren Gegentheile nicht Uebel seien, wird er auch dies bestreiten. Fragt man aber den Zeno, so wird er zwar mit denselben Worten antworten, aber, wenn man verwundert Beide fragt, wie wir unser Leben führen können, wenn wir es für gleichgültig halten sollen, ob wir gesund oder krank seien, ob wir von Schmerzen frei oder davon gepeinigt werden und ob wir uns gegen Kälte und Hunger schützen können oder nicht, so wird Aristo sagen, dass man grossartig und herrlich lebe, wenn man thue, was Einem beliebe, sich niemals ängstige, niemals begehre und niemals sich fürchte. § 70. Was sagt aber Zeno? Er sagt, das seien Missgeburten des Denkens und man könne unter diesen Bedingungen nicht leben; indess sei der Unterschied zwischen dem Sittlichen und Unsittlichen ein ungeheurer, ich weiss nicht wie grosser, aber unter den übrigen Dingen besteht kein Unterschied. (§ 71.) So weit sagt er dasselbe; aber nun höre und lache nicht, wenn Du es vermagst. Diese mittlern Dinge, sagt er, zwischen denen kein Unterschied bestehe, sind aber doch so beschaffen, dass Einzelnes davon zu wählen. Anderes zu verwerfen und vieles Andere für gleichgültig zu halten ist; d.h. man soll Einzelnes wollen. Anderes nicht wollen und um wieder Anderes sich nicht kümmern. Aber, erwidert man, Du hattest doch eben gesagt, dass in diesen Dingen kein Unterschied bestehe; darauf wird dann Zeno sagen, dass er auch noch jetzt dabei bleibe, denn in den Tugenden und Fehlern bestehe auch kein Unterschied.
Kap. XXVI. (§ 72.) Ich frage, wer hat dies nicht gewusst? Indess höre man weiter. Er sagt, die Gesundheit, der Reichthum, die Schmerzlosigkeit, welche Du genannt hast, nenne ich nicht Güter, sondern auf Griechisch proêgmena, d.h. in Eurer Sprache wörtlich: Vorgezogene; doch möchte ich sie Vorangestellte oder Vorzügliche nennen, da dies erträglicher und gelinder klingt. Ebenso nenne ich die Krankheiten, die Armuth, den Schmerz, nicht Uebel, sondern wenn es gefällt, Zurückgestossene. Deshalb sage ich nicht, dass ich jene Dinge begehre, sondern nur wähle; ich wünsche sie mir nicht, sondern nehme sie nur, und ebenso fliehe ich ihre Gegentheile nicht, vielmehr sondere ich sie nur gleichsam ab. – Was sagt aber Aristoteles und die andern Schüler des Plato? dass sie alles Naturgemässe Güter nennen, und ihre Gegentheile Uebel. Siehst Du nun nicht, dass Dein Zeno in den Worten mit Aristo zusammentrifft, in der Sache aber von ihm abgeht, dagegen mit Aristoteles und den Andern in der Sache übereinstimmt und nur in den Worten abweicht? Aber weshalb will man, wenn man in der Sache einig ist, nicht in den gewohnten Worten sprechen? Oder werde ich lernen, bereitwilliger das Geld zu verachten, wenn ich es zu den vorgezogenen Dingen und nicht zu den Gütern rechne, und tapferer den Schmerz zu ertragen, wenn ich ihn hart, schwer erträglich und naturwidrig nenne, als wenn ich ihn zu den Uebeln rechne. (§ 73.) M. Piso, unser vertrauter Freund, hat neben vielem Anderen auch diese Meinung der Stoiker in seiner Weise verspottet. Wie, sagte er, Du leugnest, dass der Reichthum ein Gut sei und nennst ihn ein Vorgezogenes; aber was hilft dies? Wird der Geiz deshalb abnehmen? Wie sollte dies kommen? Hält man sich an die Worte, so ist zwar das Vorgezogene ein längeres Wort als das Gut. – Das thut nichts zur Sache, sagt Ihr. – Nun gut, aber sicherlich ist es bedeutungsvoller. Allerdings weiss ich nicht, woher der Name Gut kommt; aber das Vorgezogene kommt wohl daher, weil es andern vorgezogen wird. Dies scheint mir wahrhaftig von grosser Bedeutung. Also, sagte er, hat Zeno den Reichthum, indem er ihn zu dem Vorgezogenen rechnet, höher gestellt als Aristoteles, der ihn nur als ein Gut anerkennt, aber nicht als ein grosses Gut, vielmehr als ein solches, was dem Rechten und Sittlichen nachgesetzt werden müsse, und um dessen Erlangung man keine zu grosse Mühe aufwenden solle. Ebenso sprach er über alle jene andern Dinge, bei welchen Zeno den Namen verändert hatte; diese Dinge, die nach Zeno keine Güter und keine Uebel sein sollten, habe er danach, und zwar die Güter mit anziehenderen, und die Uebel mit abschreckenderen Namen, als wir, bezeichnet. So Piso, ein vortrefflicher Mann, der Dir, wie Du weisst, ganz ergeben war. Ich möchte nun, um endlich zum Schluss zu kommen, nur noch Einiges hinzufügen; denn es würde zu weit führen, wenn ich auf Alles antworten wollte, was Du gesagt hast.
Kap. XXVII. (§ 74.) Mittelst derselben glänzenden Worte habt Ihr es zu Königreichen und Macht und so grossen Reichthümern gebracht, dass Ihr sagen könnt, Alles in der Welt gehöre dem Weisen. Er allein soll überdies schön, frei und ein Bürger sein; die Thoren sollen von alledem das Gegentheil sein; ja, Ihr lasst sie sogar verstandlos sein. Ihr nennt das paradoxa wir wollen es Wundersätze nennen. Allein wo bleibt das Wunderbare, wenn man näher hinzutritt? Ich will mit Dir die Dinge, die Du unter jedem dieser Worte begreifst, vergleichen, und es wird sich kein Meinungs-Unterschied herausstellen. Ihr sagt, dass alle Fehler gleich gross seien. Ich mag jetzt mit Dir nicht so scherzen, als es über dieselben Dinge von mir gesah, wie ich den Murena gegen Deine Anklage vertheidigte. Ich musste damals zu Ungelehrten sprechen, auch Etwas der Zuhörerschaft zum Besten geben; jetzt haben wir die Frage eindringender zu erörtern. (§ 75.) Die Fehler sollen gleich sein, aber in welcher Weise? Ihr sagt, weil es über das Sittliche hinaus nicht noch ein mehr Sittliches geben könne. Allein ich bitte fortzufahren, denn hierüber herrscht grosse Meinungsverschiedenheit. Ich müsste die besondern Beweisgründe hören, weshalb alle Fehler gleich gross sein sollen. Ihr sagt: Wenn von mehreren Saiten einer Cither keine so gestimmt ist, dass sie zusammenstimmen, so sind alle gleich missgestimmt, und ebenso weichen alle Fehler gleich ab, eben weil sie abweichen; sie sind deshalb gleich. Allein wir werden hier durch eine Zweideutigkeit getäuscht. Allerdings kann es alle Saiten gleich treffen, dass sie verstimmt sind, aber deshalb sind sie nicht alle gleich verstimmt. Dies Gleichniss kann also nichts beweisen. Denn wenn mehrere Geizige als Geizige sich alle gleich sind, so ist doch ihr Geiz noch nicht bei allen der gleiche. (§ 76.) Aber es kommt noch ein anderes unpassendes Gleichniss. Ihr sagt: Ein Steuermann fehle gleich sehr, mag er ein Schiff mit Spreu oder ein Schiff mit Gold umschlagen lassen; ebenso, fehlt auch Derjenige gleich, welcher seinen Vater und seinen Sclaven widerrechtlich schlägt. Aber seht Ihr nicht, dass es die Kunst des Steuermanns nichts angeht, welche Art von Gütern er geladen hat. – Deshalb hat es auf das gute oder schlechte Steuern keinen Einfluss, ob das Schiff mit Spreu oder mit Gold beladen ist; aber den Unterschied zwischen dem Verwandten und dem Sclaven kann man kennen und soll ihn kennen. Deshalb kommt bei dem Steuern nichts, bei den Pflichten aber viel darauf an, in welcher Art gefehlt wird. Und selbst bei dem Steuermann ist der Fehler, wenn das Schiff durch seine Nachlässigkeit untergegangen ist, grösser, wenn es Gold als wenn es Spreu geladen hatte; denn bei jedem Geschäft verlangt man die Anwendung der gewöhnlichen Klugheit und Vorsicht; Alle, welche ein Geschäft betreiben, müssen sie haben, und deshalb können selbst in diesem Sinne die Fehler nicht als gleich gelten.
Kap. XXVIII. (§ 77.) Allein die Stoiker halten an dem Ausspruch trotzdem fest und wollen in Nichts nachgeben. Da alle Fehler, sagen sie, aus der Schwachheit und Unbeständigkeit hervorgehn und diese Mängel bei allen Thoren gleich gross sind, so müssen auch ihre Fehltritte gleich gross sein. Allein man kann nicht zugeben, dass bei allen Thoren die Mängel gleich gross seien und dass L. Tubulus keine grössere Schwachheit und Unbeständigkeit gezeigt habe, wie P. Scävola, auf dessen Antrag er verurtheilt worden ist. Sollten denn die Dinge, in welchen gefehlt wird, sich gleich stehn, und sollte nicht je nach der Grösse oder Kleinheit derselben auch die bei ihnen begangenen Fehler grösser oder kleiner werden? (§ 78.) So scheinen mir denn, um zum Schluss zu kommen. Deine Stoiker hauptsächlich an dem einen Fehler zu leiden, dass sie glauben, zwei entgegengesetzte Ansichten aufrecht erhalten zu können. Denn kann es einen grössern Widerspruch geben, als wenn man sagt, das Sittliche sei allein ein Gut, und dabei anerkennt, dass die Natur uns das Verlangen nach den dem Leben zusagenden Dingen gegeben habe? Indem sie das festhalten wollen, was mit dem erstem Satze stimmt, treffen sie mit Aristo zusammen, und indem sie wieder dies vermeiden wollen, vertheidigen sie sachlich dasselbe, wie die Peripatetiker, aber verbeissen sich in die Worte. Und indem sie diese nicht aus der Ordnung sich herausnehmen lassen wollen, wird ihre Rede und ihr Benehmen noch abschreckender, rauher und härter. (§ 79.) Panätius, den das Finstre und Rauhe in ihren Aussprüchen verletzte, billigte weder die Bitterkeit ihrer Lehrsätze, noch die Stacheln ihrer Erörterungen; er war dort milder und hier klarer; immer führte er den Plato, Aristoteles, Xenokrates, Theophrast und Dikäarch im Munde, wie seine Schriften ergeben. Ich empfehle Dir jene zum eifrigen, fleissigen und angestrengten Studium. (§ 80.) Doch es naht der Abend, ich muss nach Hause zurückkehren; deshalb schliesse ich für heute, aber hoffe, dass wir unsere Besprechung öfter wiederholen werden. – Ich bin dabei, sagte Cato, denn was kann man Besseres thun? Zunächst erbitte ich mir von Dir die Gefälligkeit, dass Du dann meine Widerlegung gegen Deine heutigen Anführungen anhörest; aber bleibe eingedenk, dass Du Alles billigst, was wir wollen, nur dass wir uns andrer Worte bedienen, während ich von Euren Lehren nichts billigen kann. – Du giebst mir, sagte ich, da ein Bedenken auf den Weg; doch wir werden ja sehn. – Mit diesen Worten trennten wir uns.