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8 Geschwisterbande

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Freitag, 19:45

Rebecca hatte Mark nach Hause gebracht. Doch sie wollte ihn in seinem Zustand nicht gleich wieder alleine lassen. Doch eigentlich hatte sie noch wichtige Termine für den heutigen Tag an der Uni. Die konnte sie auf gar keinen Fall verschieben. Mark wollte sie auch nicht so einfach gehen lassen. Er wollte sich in irgendeiner Art bei ihr erkenntlich zeigen.

„Versteh die Frage jetzt bitte nicht falsch. Aber möchtest du noch mit auf einen Kaffee hinaufkommen?“

„Gerne“, antwortete Rebecca, „Aber es tut mir schrecklich leid. Ich muss noch dringend in die Uni. Ich muss ein paar Sachen erledigen, dich ich unmöglich noch einmal aufschieben kann. Aber wenn es dir nichts ausmacht. Ich mache mir Sorgen um dich, und würde dann heute Abend noch einmal nach dir sehen wollen.“

Sie hatten sich verabschiedet. Mark betrat seine Wohnung, schmiss den Schlüssel auf die Ablage im Korridor, ging ins Wohnzimmer. Dort legte er sich auf das Sofa, nachdem er seine Schuhe von seinen Füßen gekickt hatte und schlief augenblicklich ein.

Als er wieder zu sich kam zeigte die Wanduhr, dass es schon viertel vor sieben am Abend war.

In diesem Moment klingelte es an der Tür. Das mochte Rebecca sein. Er empfing sie an der Wohnungstür, freute sich, dass sie noch einmal vorbeikam. Er zeigte Rebecca das Wohnzimmer und verschwand selbst in der Küche.

„Kaffee kommt sofort“, rief er Rebecca zu.

Rebecca nahm auf dem dunkelroten, modernen Stoffsofa Platz und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. An der Wand gegenüber entdeckte sie einige vergilbte Fotos. Eins zeigte zwei Kinder, eine Jungen und ein Mädchen. Mark kam in diesem Moment mit zwei Tassen mit dampfenden Kaffee zu ihr. Nahm neben ihr auf dem Sofa Platz. Er nippte am Kaffee. Rebecca sah ihn neugierig an. „Sag mal, wie alt bist du eigentlich?“

Mark wunderte sich erst über ihre Frage, doch dann antworte er ihr, dass er fünfundzwanzig sei.

„Bist du das da auf dem Foto?“ Mark folgte ihren Blick. Bevor er jedoch antworten konnte, fuhr Rebecca fort, „Und das Mädchen ist deine Schwester, habe ich Recht?“

„Ja!“, Mark wirkte traurig. „Wir wuchsen in einem Kinderheim auf. Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen.“ Etwas tauchte plötzlich am Rande seiner Erinnerung auf, doch er konnte es nicht fassen. Eine unbestimmte Ahnung, wie ein Trugbild, ein Schemen, nicht greifbar. Doch irgendwas flüsterte Mark zu, dass er bereits mehr wusste, als ihm in diesem Moment klar war.

„Sie heißt Marie. Nicht wahr?“ Rebecca holte ihn in die Gegenwart zurück.

„Ja, aber woher kennst du ihren Namen?“ Er sah Rebecca verblüfft an.

„Das ist eine komplizierte Geschichte. Aber ich habe die Befürchtung, dass sich deine Schwester auf Leute eingelassen hat, denen sie nicht gewachsen ist. Aber sie war es, die dich gerettet hat.“

Mark geriet ins Grübeln, hatte die Alte Marie gemeint, als sie sagte, er müsste jemanden anderes retten, damit er mit Jessy wieder zusammenkommen konnte. Aber was sollte bei der ganzen Sache dieser theatralische, gruselige Auftritt der Alten. Mark schüttelte es immer noch, als er an die Begegnung mit ihr zurückdachte. Und warum hatte er so leiden müssen, warum musste er sich erst eine Gehirnerschütterung zuziehen? Hätte die Alte es ihm nicht einfach sagen könne, dass seine Schwester in Gefahr war?

Dann hätte Marie ihn nicht retten können. Aber da tat sich sofort eine neue Frage auf. Hatte sie ihn erkannt? Und war es etwa von der Alten alles so geplant gewesen? Was spielte sie eigentlich in der ganzen Geschichte für eine Rolle? Viel zu viele Fragen. Mark brummte schon der Schädel. Doch das mochte auch an der Gehirnerschütterung liegen. „Morgen Nacht“, krächzte die Alte so leise, dass es von Marks panischem Geschrei überdeckt wurde, doch er hörte es trotzdem. Als würde die Alte direkt neben ihm stehen erinnerte sich Mark an ihre Worte und zuckte zusammen, als plötzlich ein stechender Schmerz durch seinen Kopf jagte.

„Geht es dir gut?“ Rebeccas Worte drangen wie aus weiter Ferne an sein Ohr. Das Zimmer verschwamm vor seinen Augen. Der Schmerz steigerte sich ins Unerträgliche. Das konnte doch keine normale Gehirnerschütterung sein, war das letzte, was Mark dachte, dann wurde ihm schwarz vor Augen.

***

„Was hast du mir Marie vor?“ Burak musterte Yusuf lauernd. „Du weißt, dass du ihr das nicht durchgehen lassen kannst.“ Wäre es nach Burak gegangen, hätte er sie schon nachdem er sie eingefangen hatte, ganz anders behandelt. Nicht wie eine verlorene Tochter, die endlich zum Vater nach Hause gekommen war, sondern wie eine Verräterin, eine Diebin, eine ungehorsame Sklavin. Er saß mit Yusuf an dem kleinen gusseisernen Tischchen, dessen Platte mit feinen Mosaiksteinchen verziert war. Auf dem Tisch standen eine silberne Teekanne und zwei orientalische Teegläser, die mit wohlriechendem, süßem Tee gefüllt waren. Yusuf sah Burak an. Er wusste, dass er vor Burak, seiner rechten Hand, keine Schwäche zeigen durfte. Doch in seinem Innern spürte er die Schwäche. Yusuf versuchte es vor sich selbst zu leugnen, doch es gelang ihm immer weniger oft. Er war alt. Sein Escort Geschäft hatte er noch ganz unter Kontrolle und so schnell würde ihm da auch niemand gefährlich werden können. Oder etwa doch? Vielleicht gab es schon deutliche Hinweise darauf, dass jemand bereits dabei war, ihm seine Stellung als Alphatier streitig zu machen, und er war in seiner Selbstblendung so blind, dass er es nicht sah, nicht sehen wollte. Doch noch begegnete er Buraks Blick mit Stärke und konnte ihn standhalten, ihn dazu bewegen als erster seinem Blick abzuwenden.

Yusuf nahm eins der Teegläser und nippte von dem starken, süßen Tee. Dann stand er mit einer geschmeidigen Bewegung auf, sie keinesfalls auch nur den Anflug von Schwäche zeigte und rief nach Marie.

Zögerlich öffnete sich die Tür des Containers in dem sich das Büro befand. Marie näherte sich über den orientalischen Teppich, der den Boden des Containers auskleidete unterwürfig den beiden Männern. Yusuf stellte sich direkt vor ihr hin. Er brauchte nichts zu sagen, jeder ihm Raum wusste worum es ging. Er blickte mit ernster Miene von oben auf Marie herab. Wortlos legte er seine Hand auf Maries rechte Schulter, mit einer schnellen Bewegung riss er ihr den Stoff des schwarzen Kleides herunter. Marie erzitterte, Tränen rannen über ihre Wangen. Gänsehaut zeigte sich auf ihren Armen. Sie versteifte sich vor Angst als Yusufs Hand über ihre Haut strich.

„Du hast mich enttäuscht. Ich kann dich nicht länger in meiner Familie dulden.“ Er ging zu seinem Schreibtisch an dem er sonst die geschäftlichen Tätigkeiten erledigte. Nun stand dort eine brennende Kerze, daneben lag ein Siegelring. Auf Siegelplatte waren die Konturen einer Lilie erhaben herausgearbeitet. Yusuf hielt die Siegelplatte in die Flamme der Kerze. Marie folgte mit ihrem Blicken seiner Bewegung. „Nein, bitte nicht.“, schluchzte sie. Doch sie wusste, dass er keine andere Wahl hatte.

Als die Siegelplatte sich erhitzt hatte, trat er zu Marie. Er steckte den Ring auf den Ringfinger seiner rechten Hand, dann ballte er sie zur Faust. Natürlich spürte auch er die Hitze. Er trat noch einen Schritt näher an Marie, dann drückte er die Siegelplatte des Rings mit großem Druck auf Maries Haut zwischen ihrer Schulter und den Ansatz ihrer rechten Brust. Marie schrie auf als das heiße Metall ihre Haut verbrannte. Sie keuchte vor Schmerz auf, und hätte Yusuf sie nicht mit seiner linken Hand am Oberarm festgehalten, wäre sie zusammengebrochen. Viel schlimmer, noch schlimmer als der Schmerz, der von ihrer Schulter durch ihren Körper pochte, war die Tatsache, dass jeder der diesen Zeichen kannte, sie wie eine Aussätzige behandeln würde. Und das war sie ab diesem Zeitpunkt.

Yusuf warf einen Blick zu Burak. Doch was er sah, erschrak ihn zutiefst. Denn in Buraks Augen sah er unstillbare Gier. Yusuf lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Was hatte er getan?

Was immer Burak auch vorhatte, Marie war ihm nun schutzlos ausgeliefert. Yusuf hatte sich in seiner blinden Wut und Enttäuschung dazu hinreißen lassen Marie aus der Verbindung seines Familienclans zu verbannen. Er hatte seinen wertvollsten Besitzt geopfert, um seine eigene Macht, die mehr als nur zweifelhaft war, zu erhalten. Innerlich brach er in sich zusammen. Doch es gab kein Zurück. Er wandte sich von Burak und Marie ab, und ging zu seinem Schreibtisch.

„Bring sie in den Wohnwagen!“

Burak packte die zitternde Marie grob am Arm und zog sie zur Tür. Als die Tür hinter ihnen zuknallte, sank Yusuf um Jahre gealtert in sich zusammen. Er wusste, dass er einen schrecklichen Fehler begangen hatte.

***

„Hey, Mark.“ Rebecca schüttelte den noch immer Bewusstlosen an der Schulter. Plötzlich flackernden seine Augenlider. Er kam offensichtlich langsam wieder zu sich. Für einen Moment sah er Rebecca verwirrt an, dann erinnerte er sich. „Was ist denn mit dir los?“

„Ich weiß nicht. Ich hatte plötzlich einen stechenden Schmerz in meinen Kopf.“

„Soll ich dich zurück ins Krankenhaus fahren?“, fragte Rebecca.

„Nein es geht schon“, wiegelte Mark ab. Dafür war keine Zeit. Jetzt da er so plötzlich erfahren hatte, wie es um seine Schwester stand, musste er erst einmal seine Gedanken sortieren. Mittlerweile war er sich zu hundert Prozent sicher, dass die Frau, welche er nach der kryptischen Weissagung der Alten retten sollte, nur seine Schwester sein konnte. Morgen Nacht, gingen ihm abermals die Worte der alten Frau durch den Kopf. Wenn es war wahr, was die Alte da von sich gegeben hatte, dann blieben ihm noch knapp sechsunddreißig Stunden. Doch erst mal musste er Marie ja überhaupt finden.

Mark sprang auf. Sein übertriebener Aktionismus wurde sogleich von einer weiteren Schwindelattacke belohnt. Doch er fing sich sofort wieder. Er lief in den Flur und schnappte sich seine Autoschlüssel. „Kommst du mit“, rief er Rebecca zu. Rebecca glaubte, dass Mark in seinem jetzigen Zustand blind in sein Verderben rannte. Das konnte sie nicht zulassen, und so folgte sie ihm.

***

Marie schluchzte schmerzvoll. Noch immer liefen ihr Tränen über die Wangen. Sie konnte sie einfach nicht stoppen. Sie nahm Burak und ihre Umgebung nur verschwommen war. Wünschte sich an einen anderen Ort. Er schleifte sie auf den Mercedes zu, drückte sie auf den Rücksitzt. Kurz darauf war auch er eingestiegen, startete den Motor und fuhr los. Dicke Tropfen fielen auf den Wagen, es hatte wieder begonnen zu regnen. Marie kauerte sich auf dem Rücksitz zusammen. Sie verfiel in eine wiegende Bewegung, hatte die Arme um ihren Oberkörper geschlungen, die Augen geschlossen. Der Schmerz an ihrer Schulter zerrte an ihrem Verstand. Die Lichter der Stadt flogen an den regennassen Scheiben vorbei, Traumgebilde. Sie hatte alles verloren. Wie konnte Yusuf ihr das nur antun? Warum? Sie versank in wirre Gedanken, die zu nichts führten, sich im Kreis drehen, sie wahnsinnig machten. Der Schmerz und die Verzweiflung schnürten ihr die Kehle zu. Sie wollte nicht mehr leben.

***

Ziellos war Mark losgefahren. „Du solltest mit Titus reden. Er sucht Marie auch“, schlug Rebecca plötzlich vor.

„Wer ist Titus“, wollte Mark wissen und sah Rebecca an. Diese gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass er auf die Straße achten sollte, bevor sie erklärte, „Ich weiß nicht genau, wie sie sich getroffen haben. Aber ich denken er hat sich in deine Schwester verliebt.“

„Und warum sind sie dann nicht zusammen“, wollte Mark wissen. Er dachte kurz an Jessy und ihren Streit. Rebecca rang innerlich mit sich, ob sie Mark wirklich sagen sollte, welcher Tätigkeit seine Schwester nachging. Doch letztendlich hatte er ein Recht darauf es zu erfahren. Früher oder später würde er es eh erfahren. Und früher war mit Sicherheit besser.

„Nun“, begann sie zögerlich, „ich denke Maries Chef sieht es nicht gerne, wenn sie nur mit ihm zusammen wäre.“ Rebecca biss sich auf die Zunge. Was sollte Mark denn mit dieser Beschreibung anfangen. Mark sah sie dementsprechend auch fragend an. Er schaltete die Scheibenwischer ein, denn in diesem Moment begann es zu regnen. „Sie ist ein Callgirl“, platzte Rebecca mit der Wahrheit heraus und wartete seine Reaktion ab. Doch Mark starrte nur stur geradeaus auf die Straße. Rebecca ließ ihm einige Augenblicke Zeit, dann kramte sie ihr Handy aus ihrer Handtasche und wählte Titus Nummer. Dass Titus Marie mittlerweile gefunden und zugleich auch wieder verloren hatte, davon ahnte sie nichts.

Burak zerrte sie von dem Rücksitz des Mercedes. Marie hatte jeglichen Antrieb verloren. Er stieß sie vor sich her auf den Wohnwagen zu. Es regnete inzwischen in Strömen. Doch Marie spürte es gar nicht. Lethargisch stand sie neben Burak der die Wohnwagentür aufschloss. Rücksichtlos stieß er sie in den Innenraum und schob sie vor sich her zu der Schlafstelle.

„Setz dich“, befahl er, nahm ein Glas aus dem Schrank oberhalb der kleinen Spüle, füllte es mit Mineralwasser und hielt es Marie hin. „Hier trink erst mal was. Und dann wisch dir das Gesicht ab.“

„Was wird jetzt“, flüsterte Marie. Die Frage war nicht direkt an Burak gerichtet, trotzdem antwortete er. „Du kannst für mich arbeiten. Yusuf ist am Ende. Ich bin die Zukunft. Ich würde dich sogar trotz dem für mich arbeiten lassen.“ Er berührte sie an der Schulter, auf der das Brandzeichen wie ein Schandmahl prangte. Marie zuckte unter seiner Berührung zusammen. Sie hob das Glas an ihre Lippen und trank. Was sie nicht wusste, war, dass Burak zuvor Liquid-X-Tropfen in das Wasser gemischt hatte.

„Lass mich für einen Moment alleine“, bat Marie Burak mit leiser, brüchiger Stimme. „Okay.“ Burak konnte warten. Marie hatte genug vom Wasser getrunken. Das Betäubungsmittel würde bald seine Wirkung entfalten und Marie willenlos machen. Dann stand Buraks Plänen nichts mehr im Weg. Sie und Yusuf waren die einzigen, die bezeugen konnten, was er mit Jessy gemacht hatte. Doch Yusuf fürchtete er nicht. Der alte Mann hatte selbst genug Dreck am Stecken. Wenn er aussagte, würde er ebenso für Jahrzehnte hinter Gittern verschwinden. Marie – die unschuldige Marie war die Einzige, die ihn in Schwierigkeiten bringen konnte. Das durfte er nicht zulassen, und aus diesem Grund musste sie verschwinden. Am besten für immer. Aber vorher wollte er noch seinen Spaß mit ihr haben.

Das Mädchen im Regen

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