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2 Emergency Exit

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Freitag, 05:40

Fünf Uhr vierzig. Mein Wagen steht wie jeden Morgen an derselben Stelle auf dem Parkplatz vor dem S-Bahn-Halt Essen-Steele-Ost. Doch diesen Morgen werde ich in meinem ganzen Leben nicht mehr vergessen. Es regnet in Strömen, das Autoradio läuft, ich habe die Augen geschlossen und lausche der Musik und den aktuellen Berichten. Erst in einer halben Stunde werde ich die S-Bahn nach Dortmund nehmen. So wie an jeden Morgen. Die Scheiben sind beschlagen und die Regentropfen trommeln auf das Autodach. Plötzlich klopft es gegen die Scheibe der Beifahrertür. Mein Puls schnellt in die Höhe, ich reiß die Augen auf und ich starre durch die vom Regen mit Tropfen benetzte Scheibe in das fahle Gesicht einer jungen Frau. Sie bedeutet mir das Fenster zu öffnen. Ein Druck auf den Schalter des elektrischen Fensterhebers lässt die Seitenscheibe ins Innere der Beifahrertür hinuntergleiten. “Darf ich einsteigen? Es ist kalt und ich bin schon ganz nass“, fragt sie ohne sich vorzustellen. Ich mustere sie misstrauisch. Ihre Haare, mittig knallrot und nach oben gegelt, an den Seiten pechschwarz, sind unbestritten klatsch nass. Sie zittert, und soweit ich das im Dunkeln erkennen kann, sind ihre Lippen vor Kälte schon ganz violett. Oder hat sie eine ausgefallene Vorliebe für schräge Lippenstiftfarben? “Bitte!“, verleiht sie mit bebender Stimme ihrer Frage eine Dringlichkeit, welcher ich mich nicht entziehen kann. Obwohl in meinen Kopf sämtliche Alarmglocken schrillen, betätige ich den Knopf für die Zentralverriegelung, die mit einem deutlichen Klack aufspringt. Sie öffnet die Beifahrertür und lässt sich dankbar auf den Sitz gleiten.

“Ich bin Marie“, stellt sie sich vor und streckt mir ihre feingliedrige, blasse Hand hin. Ihre Fingernägel sind genauso knallrot lackiert, wie ihre Haare gefärbt sind. Der Ärmel ihres schwarzen Strickpullovers reicht ihr bis an die oberen Fingerknöchel. “Und du?“ Mein Blick springt von ihrer Hand zu ihren braunen Augen. “Ich nicht“, antworte ich und bereue meinen billigen Scherz so gleich. Doch ein Lächeln huscht über ihre Lippen; tatsächlich violetter Lippenstift. Wer denkt sich den so etwas aus? “Nein“, lacht sie, “wie heißt Du?“ Joseph, schießt es mir durch den Kopf, doch das scheint mir dann doch zu viel des Guten. “Titus“, antworte ich. Sie sieht mich verblüfft an und verkneift sich ein Lachen. Im Autoradio läuft Sweet Sixteen von Billy Idol und ich versuche ihr Alter zu erraten. Runaway Child, singt Billy. Ist Marie auch eine Ausreißerin? “Meine S-Bahn fährt gleich“, sage ich und versuche meinen Blick von ihrer an beiden Knie aufgerissenen schwarzen Jeans zu lösen. “Nach Dortmund?“ - “Ja.“ - “Da will ich auch hin.“

Sechs Uhr Zwölf. Gerade fährt die S-Bahn los. Marie saß in Fahrtrichtung, ich ihr gegenüber. Sie gähnt genüsslich, doch das bemerke ich nur aus den Augenwinkeln, da mein Blick einen Mann im hinteren Teil des Wagens fixiert, der die ganze Zeit schon zu uns hinüberschaut. Er war im letzten Moment, als das Türsignal schon ertönte, in die S-Bahn gestiegen. Ich überlege kurz, ob ich diesen Mann zuvor schon einmal gesehen habe. Nein, er scheint heute zum ersten Mal mitzufahren - wie auch Marie, die ich zuvor ebenfalls noch nie gesehen habe, obwohl ich die Strecke jeden Tag zur gleichen Zeit pendle. Ein unangenehmes Gefühl beschleicht mich. Was will dieser Mann von Marie? Dass er etwas von mir will, schließe ich von vorneherein aus. Der Gedanke, dass sie eine Ausreißerin ist kommt mir wieder in den Kopf. Aber wie ein Mitarbeiter von einem Jugendheim sieht dieser Mann nicht aus. Ich schaue Marie an, versuche mir nichts anzumerken zu lassen. Doch sie durchschaut mich.

“Was ist los?“, flüstert sie und ich höre deutlich die Angst in ihrer Stimme.

“Vielleicht irre ich mich ja“, antworte ich, “aber dort hinten scheint sich jemand sehr für uns zu interessieren.“

Erfolglos versuche ich Marie mit einem Wink zu bedeuten, dass sie sich nicht zu dem Mann umdrehen soll. Als sie mich wieder anblickt, steht ihr der Schrecken deutlich ins Gesicht geschrieben.

“Kennst du den?“, frage ich Marie, die sofort verneinend ihren Kopf schüttelt. Ich sehe ihr an, dass sie lügt. “Wer ist das? Was will er von dir“, will ich wissen.

Marie sieht mich mit flehendem Blick an. Beinahe schafft sie es, dass ich nicht weiter bohre, doch meine Neugier ist einfach stärker.

“Du solltest wirklich nicht weiter fragen“, mahnt Marie mich und sieht mich eindringlich an, “Ich will nicht, dass du da mit reingezogen wirst.“

Ich überlege, wie ich ihr helfen kann. Offenbar traut sich ihr Verfolger nicht hier in der S-Bahn etwas zu unternehmen. Also ist Marie solange sie bei mir ist und nicht aussteigt relativ sicher, rede ich mir ein.

“Lass uns bis Bochum fahren und dort zur Bahn-Polizei gehen. Bei den vielen Reisenden, die um diese Zeit unterwegs sind, wird er es kaum wagen, dir etwas anzutun.“ - “Du verstehst das nicht“, zischt Marie, “Bitte misch dich nicht weiter ein. Ich muss nach Dortmund und komm schon zurecht. Ich habe dich nicht gebeten, mein Bodyguard zu spielen. Also lass es bitte.“

Die nächsten drei Haltestellen schweigen wir uns an. Weitere Fahrgäste steigen ein. Ein Mann in einer Monteur Kluft setzt sich unserem Freund gegenüber und versperrt mir die Sicht. Unschlüssig schau ich aus dem Fenster. In der Ferne ziehen die Lichter von Straßenlaternen vorbei, wie Geister in der Nacht. Wir erreichen den nächsten Halt. Es ist Bochum Hauptbahnhof. Ich sehe gerade noch, als der Monteur sich für einen Augenblick zur Seite dreht, dass Maries Verfolger in ein Mobiltelefon spricht. An der Tür die zwischen ihm und uns liegt steigen zwei Mann vom DB Sicherheitsdienst ein. Sie gehen an das hintere Ende des Wagens um die Fahrscheine zu überprüfen. Mittlerweile erreichen wir den nächsten Halt.

Ich frage mich, ob Marie mich nur eiskalt ausgenutzt hat, wie nah der Mann in Steele-Ost schon an ihr dran gewesen ist, was ich erwartet, erhofft habe, was ich in Maries Verhalten hineingedeutet habe - ob ich sie einfach ihrem Schicksal überlassen soll?

“Es tut mir leid.“ Marie scheint meine Gedanken erraten zu haben. Sie sieht mich mit ihren rehbraunen Augen an, dass ich es ihr irgendwie nicht mehr übelnehmen kann. Was bin ich auch für ein Narr, mir was einzubilden, bin ich doch mit Sicherheit mindestens fünfzehn Jahre älter als sie. In diesem Moment steht unser Freund auf, schlendert in unsere Richtung und lässt mich dabei nicht aus den Augen. Sein arrogantes, überhebliches Lächeln widert mich an. Marie bemerkt meinen Blick und dreht sich um. Ihr Blick streift unseren Freund und die beiden Sicherheitsleute. Hilfesuchend legt sie ihre Hand auf mein Knie.

“Hallo Marie. So früh schon unterwegs?“ Maries Verfolger lässt sich mit einer geschmeidigen Bewegung neben ihr auf den in verschiedenen Blautönen gemusterten Sitz nieder. Er fasst ihre Hand, zieht sie von meinem Knie weg und sieht mich dabei freundlich lächelnd an. Doch das Lächeln erreicht seine Augen nicht, die seine Skrupellosigkeit verraten. Ich merkte, wie sich Marie vor Angst und Ekel versteift. Ich nicke mit meinem Kopf in Richtung der Sicherheitsleute.

“Keine Chance“, antwortet mein Gegenüber, greift mit seiner freien Hand in die Seitentasche seiner schwarzen Bomberjacke und zieht einen checkkartengroßen Ausweis hervor. Ich erkenne das DB Logo. Dass der Ausweis falsch ist, wissen wir beide. Ich kann gerade noch den Vornamen lesen, Mike, der auf dem Ausweis angegeben ist, dann verschwindet er wieder in der Jackentasche. “Das sind doch meine Kollegen. Ich habe diese kleine Taschendiebin hier erwischt und bringe sie jetzt zur Bahnpolizei am Hauptbahnhof Dortmund“, erklärt Mike gelassen. Dass er damit durchkommt glaube ich ihm sogar.

“Wer wartet in Dortmund wirklich auf Marie?“, frage ich gerade heraus.

“Ach“, Mike tut erstaunt, “hat sie dir nicht erzählt, mit was sie ihr Geld verdient. Jusuf will doch nur, dass die arme Marie nicht unter die Räder kommt.“ Mir wird alles klar. Marie starrt beschämt zu Boden. Die Situation scheint aussichtslos. Aber kann ich Marie wirklich einfach ihrem Schicksal überlassen?

Flashback. “Was machst du in Dortmund?“ - “Und du“, weicht Marie mir aus. “Ich arbeite in einem kleinen Konstruktionsbüro. Wirklich nichts Aufregendes.“ - “Natürlich, so siehst du auch aus“, neckt sie mich und lacht. “Dann lass mich mal raten, wonach du aussiehst“, sage ich und mustere Marie. Plötzlich beugt sie sich vor und küsst mich auf den Mund. “Nimm mich doch einfach so, wie du mich jetzt kennst.“ Marie fährt mir mit ihren Fingern durch die Haare. Ein Schauer überflutet meinen Geist und löscht meine Vermutungen über Marie. “Okay“, antworte ich.

Sie ist auf keinen Fall Sweet Sixteen, das wird mir jetzt schmerzlich bewusst. In was für dunkle Machenschaften Marie verstrickt ist, will ich das wirklich wissen? Dass sie Hilfe braucht ist nicht von der Hand zu weisen. Ob ich der Richtige dafür bin, kann ich in diesem Moment nicht beantworten. Doch wenn ich auf mein Gefühl höre, dann ist da etwas, was mir sagt, dass ich ihr helfen sollte. Aber wie?

Die S-Bahn erreicht die Station Dortmund-Universität. Ich zermartere mir den Kopf um eine Lösung zu finden. Marie sitzt mir gegenüber wie ein Häufchen Elend, zumindest habe ich diesen Eindruck. Doch in dem Moment als die S-Bahn wieder anfährt, spring sie plötzlich auf. So plötzlich, dass selbst Mike für den Bruchteil einer Sekunde vollkommen überrascht ist. Genau diese Sekunde reicht Marie um an ihm vorbei zu hechten. Sie springt hinüber zu den nächstgelegenen Türen, als die beiden Sicherheitsleute auf den Tumult aufmerksam werden. Mike springt auf und will ihr nach. Ich werfe mich mit meinem ganzen Gewicht in seinen Rücken. Wir gehen zusammen zu Boden. Die Bremsen der S-Bahn kreischen auf und ein unglaublicher Ruck durchschlägt den Wagen, als Marie die Notbremse herunterreißt. Durch die abrupte Bewegung werden Mike und ich zur Seite gewirbelt, gegen den Unterbau der Sitzbank. Mike kommt unter mir frei und ist sofort auf den Beinen. Ich brauche unendlich quälende Sekunden länger um mich aufzurappeln. Die Sicherheitsleute stürmen heran. Marie zerrt an dem Hebel für die Notentriegelung der Tür, kaum, dass die S-Bahn stehen geblieben ist. Zischend löst sich die Verriegelung. Marie versucht vergeblich die schweren Türen aufzuschieben. Mike packt sie an der Schulter und reißt sie zurück. Ich taumle zu ihnen hin. Mein Arm windet sich um Mikes Hals. In irgendeinem Film habe ich eine ähnliche Szene schon gesehen. Doch wie schwer es ist jemanden mit solch einem Griff zurück zu zerren, erkennt man nicht, wenn man auf dem Sofa vor der Flimmerkiste sitzt. Mike beachtet mich gar nicht. Er zerrt an Maries Pullover.

„Was soll das“, schreit einer der Sicherheitsleute und ist bis auf wenige Schritte heran. Marie rammt mit unglaublicher Wucht und der Kraft der Verzweiflung ihren Ellenbogen in Mikes Magengrube und dann unter sein Kinn. Sein Kopf ruckt nach oben, sodass ich ihn besser zu packen bekommen. Ungeschickt verlagere ich mein Gewicht nach hinten und schaff es doch, ihn von Marie wegzuzerren. Marie bekommt irgendwie die linke Tür aufgeschoben. „Auseinander“, schreit der Sicherheitsmann und sieht wirklich wütend aus. Marie springt aus der S-Bahn. Glücklicherweise kann sie sich auf den unebenen Boden neben der Bahn abfangen. Doch der Sprung von gut einem Meter Tiefe staucht ihren Körper heftig zusammen, dass sie keuchend nach Luft schnappt. Ich sehe gerade noch aus den Augenwinkeln, wie sie sich irgendwie wieder aufrappelt und in Richtung Notausgang humpelt, der sich nur wenige Meter von den Türen der S-Bahn entfernt in Fahrtrichtung befindet. Der Sicherheitsmann drängt sich an Mike und mir vorbei und streckt seinen Kopf aus der S-Bahn, schreit Marie hinterher, „Stehenbleiben!“ Seine Stimme schallt bedrohlich durch die Tunnelröhre. Der zweite Sicherheitsmann versucht Mike und mich auseinander zu bringen. Bevor es ihm gelingt verpasst mir Mike noch einen Faustschlag ins Gesicht. „Idiot“, spuckt er mir entgegen.

„Die ist weg“, hör ich den Sicherheitsmann sagen. Er schiebt mit Wucht die Tür zu und hilft dann seinem Kollegen uns auseinander zu bringen. Sekunden später steht Mike an eine Trennwand gelehnt auf der einen Seite, die Hand des Sicherheitsmanns auf seine Brust gedrückt und ich auf der anderen, das Blut, das aus meiner Nase tropft, mit einem Taschentuch stillend. Der zweite Sicherheitsmann spricht in sein Sprechfunkgerät im Kontakt zum S-Bahn-Fahrer und der Fahrdienstleitung.

Marie, geht es mir durch den Kopf. Werde ich sie je wiedersehen?

Das Mädchen im Regen

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