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11 Dunkelwelt

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Freitag, 06:57

Jessica musste husten. Staub geriet in ihre Atemwege. Ein unglaublicher Schmerz pochte hinter ihrer Stirn. Sie spürte, dass ihre Lippen aufgeplatzt waren. Staub und Blut klebten an ihnen, darunter drückte etwas Hartes gegen die Wunde. Ihre Stirn drückte auf das gleiche Material. Es dauerte eine Ewigkeit bevor Jessica erkannte, dass sie unnatürlich verdreht, bäuchlings auf einem Betonboden lag und sie den Staub der Zentimeter dick auf dem Boden lag einatmete.

Sie versuchte sich auf ihre Arme aufzustützen. Zitternd stemmte sie ihren Oberkörper eine Handbreit vom Boden weg, bevor sie die Kraft verließ, ihre Arme einknickten, sie zusammensackte. Schwer atmend drehte sie ihren Kopf zur Seite um nicht weiter den Staub einatmen zu müssen. Ein weiterer Hustenreiz ließ sie erbeben, verstärkte den pochenden Kopfschmerz derart, dass Jessica befürchtete ihr Schädel würde jeden Moment zerplatzen wie eine überreife Melone, die jemand aus großer Höhe aufs Pflaster fallen ließ. Ihre Zunge fühlte sich an wie ein trockener Schwamm, klebte an ihrem Gaumen, ihr gesamter Rachen war dermaßen ausgetrocknet, als hätte sie tagelang nichts getrunken. Ihre Augen brannten. Zu Tode erschrocken zuckte Jessica zusammen, als sie begriff, dass ihre Augen geöffnet waren, sie aber dennoch nichts sehen konnte. Ein raschelndes Geräusch jagte ihr den nächsten Schrecken ein, ihren Pulsschlag schloss in die Höhe. Die Panik spülte so viel Adrenalin durch ihre Blutbahn, dass sie sich mit einem Ruck aufrichtete. Sie spürte eine Wand rechts von sich und ließ sich außer Atem dagegen sinken. Gespannt, immer noch voller Panik hielt sie den Atem an, um zu horchen, ob sie das Geräusch noch mal wahrnahm. Doch nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann riss sie den Mund auf und zog gierig die Luft ein, weil sie glaubte ersticken zu müssen. Das Rascheln hatte sie nicht nochmal gehört. Aber warum konnte sie nicht sehen, wo befand sie sich überhaupt? Vorsichtig strich sie mit ihrer Hand zuerst über den Boden, dann über die Wand hinter sich. Es fühlte sich wie Beton an, hart, rau, trocken und staubig.

Sie tastete mit der Hand nach vorne. Doch soweit ihr Arm reichte, ohne dass sie sich nach vorne bewegte, griff sie ins Leere.

Sie fuhr sich mit der trockenen Zunge über die aufgesprungenen Lippen und schmeckte ihr eigenes angetrocknetes Blut. Alles hier schien grausam trocken zu sein, was ihr Verlangen nach Wasser zu einer schmerzlichen Gier steigerte.

Sie horchte abermals. Stille. Sie hörte nur ihren eigenen Atem, rasselnd, ihren Herzschlag dumpf in ihren Schläfen pochen. Sie wollte schlafen, fühlte sich so unendlich müde. Doch irgendetwas in ihr warnte sie, wenn sie ihrem Verlangen nachgab und die Augen schloss, würde sie sie nie wieder öffnen. In ihren Ohren rauschte es, doch das war nur die Stille, das Fehlen absolut sämtlicher Geräusche.

Pling. Jessica horchte auf. Sie glaubte ihm ersten Moment einer Halluzination aufgesessen zu sein. Pling. Nein, da war es noch einmal. Und nochmal, Pling. Wasser das auf Metall tropft. Jessica versuchte sich zu Orientieren. Das tropfende Geräusch schien von überall her zu kommen, viel zu schwach, um es einordnen zu können. Doch was, wenn das ihre einzige Möglichkeit war, etwas trinken zu können?

Mit letzter Kraft wand sie sich herum und kroch dann auf allen Vieren in den Raum hinein. In dem Moment, als sie den Kontakt zur Wand verlor blieb ihr beinahe das Herz stehen. Was wenn sie sich verirrte?

Darüber konnte sie sich später immer noch Gedanken machen. Jetzt war es einfach nur überlebenswichtig Wasser zu finden. Sie kroch weiter, ihre Knie schrammten über den Boden, zum Glück hatte sie eine Jeans an. Und es schien Jessica als ob das Pling langsam lauter wurde. Sie konnte das Wasser regelrecht riechen. Sie kroch schneller vorwärts. Trinken! Sie musste endlich etwas trinken!

Nur diesen einen Gedanken im Kopf spürte sie im ersten Moment gar nicht, dass sie mit ihrer rechten Hand in eine Glasscherbe griff. Der messerscharfe, gezackte Rand schnitt in ihre Handfläche. Ihr blieb der Atem weg. Dann entrang sich ihrer trockenen Kehle ein entsetzter Schrei. Sie spürte das Blut an ihrer Handfläche entlanglaufen, Tränen schossen ihr in die Augen. Ihre Hand zitterte unkontrolliert, ihr Atem ging stoßweise, Panik ergriff ihren Körper, Schweiß rann ihren Rücken hinab. Ihre rechte Hand verkrampfte sich, formte sich zu einer Kralle. Sie spürte Marks Freundschaftring an dem Ringfinger ihrer rechten Hand. Sie schrie ihren Schmerz hinaus, bis sie nicht mehr konnte, ihr die Luft wegblieb, ihre Lungen zu platzen drohten.

Schluchzend brach sie zusammen.

Sie konnte später nicht sagen, wie lange sie zusammen gekauert dort wimmernd vor Schmerz lag. Ihre Hand pochte, der Schmerz zog ihren Arm hinauf. Sie erkannte dass die Glasscherbe nicht in ihrer Hand stecken geblieben war. Aber sie musste die Wunde verbinden um die Blutung zu stoppen.

Ihr T-Shirt! Sie zog sich das Teil über ihren Kopf, wickelte es um ihre Hand und verknotete es irgendwie. Ob es etwas nutze, konnte sie nicht sehen. Zitternd kam sie wieder auf alle Viere. Doch sie traute sich nicht weiter zu kriechen. Wo eine Glasscherbe lag konnten noch mehr liegen. Mit bebenden Fingern tastete sie nach vorne. Pling.

Sie brach abermals in Tränen aus. In diesem Moment war sie sich sicher, dass das Geräusch nur eine Einbildung war. Es gab kein rettendes Wasser. Sie würde hier verdurstend, elendig zu Grunde gehen. Lichtblitze tauchten vor ihren Augen auf. Sie versuchte sie weg zu blinzeln. Der Boden unter ihr begann zu schwanken. Sie schwankte mit, verlor beinahe das Gleichgewicht. War da vorne Licht von mehreren Taschenlampen? Suchten sie schon nach ihr. Sie wollte rufen, doch nur ein heiseres Krächzen entrann sich ihrer Kehle. Sie hob ihre Hand um den Rettern ein Zeichen zu geben. Doch im gleichen Moment wurde ihr bewusst, dass sie sie nicht sehen würden.

„Hallo, hier...“, ihre Stimme versagte. Sie hörte Schritte. Schnelle Schritte, jemand rannte. Doch das Geräusch entfernte sich von ihr. Dann hörte sie nichts mehr.

„Neeeiiin!“, schrie sie, verzweifelt, entsetzt, kraftlos. Sie sank zu Boden, gab sich auf.

Pling!

Jessica lachte schrill auf. Sie glaubte den Verstand zu verlieren. Das Lachen geriet zu einem verzweifelten Geräusch. Tränen hatte sie keine mehr. Doch ihr Überlebenswille war noch nicht ganz gebrochen. Sie sammelte ihre letzten Kräfte, dann kroch sie auf allen Vieren weiter in Richtung des tropfenden Geräusches.

Sie konnte nicht sagen, wie weit sie gekrochen war, doch plötzlich berühren die Fingerspitzen ihrer rechten Hand eine feuchte Stelle vor sich. Vorsichtig hob sie die Finger an ihren Mund. Sie traute sich kaum ihre Lippen zu berühren. Doch sie musste herausfinden, ob es Wasser war, was sie berührt hatte. Sie schob ihre Zunge zwischen den trockenen Lippen hervor. Tastete mit der Zungenspitze nach ihren Fingern. Dann schmeckte sie es. Wasser!

Kein Wasser aus der Vulkaneifel. Aber es war wohl genießbar. Doch das Bisschen da vor ihr auf den Boden würde sie nicht retten. Sie kroch weiter, stieß unerwartet gegen eine Wand. Auch diese war feucht.

Pling! Ein dicker Tropfen fiel ihr direkt auf die Stirn, rann seitlich an ihrer Nase herab und auf ihre Oberlippe. Jessica kämpfte sich in einen aufrechten Stand, dabei musste sie sich an der Wand vor sich abstützen. Mit zitternden Bewegungen hob sie ihren rechten Arm und streckte die Hand in die Höhe. Ein weiterer Tropfen löste sich von irgendwo dort oben und traf ihre Finger. Gierig saugte sie die Feuchtigkeit von ihrem Finger, als ein dritter Tropfen abermals ihre Stirn traf. Jessica drehte sich herum, sodass sie die Wand in ihrem Rücken hatte, reckte ihr Gesicht in die Höhe und hielt ihren Mund auf. Pling! Der Tropfen fiel ihr direkt in den Mund. Geduldig stand sie einfach da und nahm Tropfen für Tropfen in sich auf.

Während sie ihren Durst löschte, machte Jessica sich Gedanken darüber, wie sie weiter vorgehen sollte. Wäre es nicht hilfreich etwas über den Ort herauszubekommen, an dem sie sich befand? Dass letzte an das sie sich erinnern konnte war das Bild, wie dieser Kerl mit dem Messer auf sie zukam, ausholte und… Wie ein Blitz hatte sie der Schlag getroffen. Er musste sie verschleppt haben, vielleicht in eine Höhle oder so etwas. Nein, keine Höhle. In Dortmund gab es keine Höhlen. Doch wohl eher ein Keller. Ein wirklich großer Keller. Oder vielleicht eine Lagerhalle? Sie erinnerte sich an das Erlebnis von gerade eben. Das Licht der Taschenlampen und das Geräusch der sich rasch entfernenden Schritte. Jessica überlegte, ob sie es wirklich erlebt, oder ob sie es sich nur eingebildet hatte. Dann erinnerte sie sich an ihren verzweifelten Schrei und hörte noch einmal das Echo, welches er ausgelöst hatte. Solch ein Echo konnte es in einer Lagerhalle nicht geben, schloss sie. Doch wo hatte der Kerl sie dann hin verschleppt? Hatte sie überhaupt eine Chance alleine hier rauszukommen, oder musste sie ausharren und warten, bis der Kerl wiederkam? Wenn er überhaupt wiederkam? Vielleicht hatte er sie auch an diesem Ort gebracht, damit niemand sie finden würde? Ihr blieb vor Schreck der Atem weg, und sie verscheuchte diesen dunklen Gedanken sofort wieder aus ihrem Kopf. So zu denken, brachte sie nicht weiter. Jessica war keine Frau, die so schnell aufgab. Sie war taff und selbstbewusst. Eine moderne, tapfere junge Frau, die sich solch einer Situation nicht kampflos ergab.

Sie sah sich um, nur um ein weiteres Mal festzustellen, dass sie absolut nichts sehen konnte. Jessica war davon ausgegangen, dass sich ihre Augen irgendwann an die Dunkelheit gewöhnen würden, dass sie dann wenigstens Schemen würde erkennen können. Doch hier war es so stockdunkel, sie war so weit von irgendeiner Lichtquelle entfernt, dass ihr ihr Sehsinn vollkommen nutzlos war. So tat sie das einzig vernünftige, wie sie dachte, schloss die Augen und teilte ihre Konzentration auf ihre restlichen Sinne auf. Wenn sie sich noch immer in Dortmund befand, und davon ging sie aus, konnte sie vielleicht ein Stadtgeräusch wahnnehmen, das Poltern der U-Bahn, oder ganz entfernt das Rauschen von Autoverkehr, oder vielleicht der Lärm eines Clubs. Doch das Einzige was sie hörte war ihr eigener Atem und das Pochen ihres Blutes in ihren Adern. Abermals stellte sie sich die Frage, ob es klüger war einfach an Ort und Stelle zu warten, was passieren würde, oder ob sie versuchen sollte einen Weg nach draußen zu finden. Doch auf der Suche nach dem Wasser hatte sie sich eh schon recht weit von ihrem Ausgangspunkt entfernt, da konnte sie auch weitergehen. Doch wenn sie gefragt worden wäre, ob sie keine Angst hatte sich zu verlaufen, dann hätte sie gelogen, wenn sie mit Ja geantwortet hätte.

Jessica tastete mit ihrer rechten Hand nach der Betonwand und dann ging sie langsam los, entfernte sich dabei mehr und mehr von der Wasserquelle und fragte sich bei jedem weiteren Schritt ob das wirklich klug war. Um sich auf andere Gedanken zu bringen, rekapitulierte sie nochmals die Ereignisse, bevor der Kerl sie bewusstlos geschlagen hatten. Sie fragte sich, in welcher Beziehung er mit dem Verletzten aus der S-Bahn gestanden hatte, warum der dem armen Kerl das Messer in den Bauch gerammt hatte, und das an so einem öffentlichen Ort wie dem Dortmunder Hauptbahnhof? In was war sie da bloß hineingeraten? Unwillkürlich musste sie an Mark denken, an ihren aus jetziger Sicht unsinnigen Streit. Was wenn sie ihn nie... Nein sie verbot sich diesen Gedanken. Solche Gedanken führten nur dazu, dass man aufgab. Jessica war noch lange nicht an dem Punkt angelangt, an dem sie aufgeben würde. Tapfer ging sie weiter, ihre Augen geschlossen um die anderen Sinne zu schärfen, strich sie mit ihren Fingern an der Wand entlang um nicht sie Richtung zu verlieren. Ihr Gefühl sagte ihr, dass es leicht bergab ging. Sie schlurfte weiter über den erstaunlich ebenen Boden und versuchte die riesige Halle in welcher sie sich offenbar befand bildlich vorzustellen, fragte sich, wozu sie diente.

Plötzlich stießen ihre Finger an eine Kante. Jessica blieb verwundert stehen. Sie drehte sich mit dem Rücken zur Wand und legte ihre linke Hand gegen den Beton um nicht den Kontakt zu verlieren, dann tastete sie mit der rechten in die Leere. Sie musste einen Durchgang erreicht haben. Vorsichtig schob sie sich seitlich in diese Richtung, bis sie endlich, und zum Glück bevor sie mit der linke die Wand hätte loslassen müssen, die gegenüberliegende Seite erreichte. Ein schmaler Gang, schloss sie und stellte sich so hin, dass sie mit ihrer rechten die eine Wand berührte und mit ihrer linken die andere. Sie schob vorsichtig ihren Fuß nach hinten und stieß mit ihrer Schuhkante plötzlich gegen eine Stufe. Stufen, die nach oben führen. Jessica entschloss sich, ihnen zu folgen, weil sie glaubte, dass ein möglicher Ausgang wohl eher höher lag.

Freitag, 21:52 (Gegenwart)

Yusuf saß in dem Bürocontainer hinter dem schweren, mit kunstvollen, erotischen Schnitzereien verzierten Schreibtisch. Er hielt eins dieser bunten, für Europäer ziemlich kitschigen, orientalischen Teegläser in der Hand und nippte an dem süßen heißen Tee. Er konnte nicht sagen wie Burak es einfädelte, doch er ahnte, nein er wusste bereits, dass er geschlagen war. Nur der Zeitpunkt seiner Niederlage lag noch im Ungewissen. Aber auch in diesem Punkt, war sich Yusuf sicher, dass er nicht mehr lange warten musste. Noch ehe er den Tee ausgetrunken haben würde, fielen die Würfel zu Gunsten von Burak, und seine Macht würde zu Staub zerfallen, wie alles, wenn es zu Ende ging. Und sein Ende war besiegelt.

Er fürchtete sich nicht davor. Er hatte immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Zu lange schon hatte er sich im Licht des Glückes gesonnt. Doch eine tiefe Traurigkeit erfasste ihn, wenn er an Marie dachte. Er wusste, dass er sie niemals wiedersah. Sie war am Ende sein Glück gewesen, sie war die Tochter, die er in jungen Jahren nicht bekommen hatte, sie war sein wertvollster Schatz gewesen. Alles andere hatte keinen wirklichen Wert, all die Macht, all das Geld, die schönen eleganten Anzüge, die teuren Wagen, die hübschen Mädchen, die sich um ihn stritten, obwohl er doch eigentlich schon viel zu alt für sie gewesen war. All das war vergänglich, so wie er selbst. Doch die Liebe, töchterliche Liebe, die er in Maries Nähe von ihr gespürt hatte, überdauerte die Ewigkeit. Sie war eine nie endende Macht. Doch die Menschen waren blind, konnten nicht erkennen, was wirklich zählte in dieser Welt, so wie auch er es viel zu spät erkannt hatte. Und dann hatte er in dem letzten Moment, indem er sich für sie hätte entscheiden können, falsch entschieden, hatte wie ein Narr nach dem lockenden Versprechen der falschen Macht gegiert, obwohl er tief in seinem Innern schon wusste, dass er verloren hatte. Der Gedanke, dass er nun niemals die Chance erhalten würde, sich bei Marie für seine Narrheit zu entschuldigen zerriss ihn Innerlich. Er starrte auf die schwere Mahagoniplatte vor sich, als jemand mit schweren Schlägen gegen die Containertür klopfte.

"Die Tür ist offen", rief Yusuf, ohne eine sichtbare Gefühlsregung. Gleich darauf schwang die Tür auf und vier mit Maschinenpistolen bewaffnete SEK-Beamte drangen in den Container ein. Yusuf stellte in aller Seelenruhe das Teeglas auf den Schreibtisch, stand auf und ließ sich ohne Gegenwehr festnehmen. Man hatte an dem Messer, mit dem der Marokkaner erstochen worden war, Spuren von Yusufs DNA festgestellt. Nun wurde er unter dringendem Mordverdacht festgenommen.

Burak hielt das schwere Mercedes Coupé direkt vor dem sieben Stockwerte und rund siebzig Meter hohem ehemaligen Gär- und Lagerkeller der Dortmunder Union Brauerei an. Das nach dem Abriss der anderen Brauereigebäude mächtig wirkende turmartige Gebäude mit dem vierseitigen, vergoldetem, beleuchtetem U auf dem Dach, diente mittlerweile als Museum für Zeitgenössige Kunst und als Veranstaltungsort für Events in der modernen Kunstszene. Doch Burak zog etwas vollkommen anderes an diesen Ort. Denn nur wenigen war bekannt, dass sich am Rand des Gebäudes ein Zugang zu einer riesigen Bunkeranlage aus dem zweiten Weltkrieg, die sich unter dem Dortmunder Hauptbahnhof und großen Teilen der Innenstand noch immer erstreckte, befand.

Burak war es gelungen sich Zugang zu der Bunkeranlage zu verschaffen. Hier war der perfekte Ort für das, was er mit Marie vorhatte. Er parkte das Coupé rücksichtlos einfach auf dem Bürgersteig vor dem Gebäude, dicht vor der Wand in der eine unscheinbare, graue Metalltür eingelassen war - der Zugang zu der Bunkeranlage.

Es regnete noch immer in Strömen. Fluchend stieg Burak aus, schlug die Tür zu, war mit ein paar Schritten auf der Beifahrerseite und zog, nachdem er die Beifahrertür geöffnet hatte, Marie aus dem Wagen. Sie trug noch immer das schwarze Minikleid von ihrem letzten Auftrag. Er zog die willenlose Marie hoch und lehnte sie gegen den Wagen. Für jemanden der sie beobachtete, musste Marie wie volltrunken wirken. Burak sah sich um; niemand zu sehen. Es war für einen Freitagabend zwar noch recht früh, trotzdem waren die Straße und der Bürgersteig in diesem Moment menschenleer. In der Ferne sah er ein paar Wagen in gemäßigtem Tempo auf ihn zukommen, er sollte sich beeilen.

"Leg deine Arme um meine Schultern", befahl er Marie. Diese gehorchte ihm. Dann hob er sich Marie auf den Rücken. Keine besondere Herausforderung für den durchtrainierten Burak. Er ging auf die Tür zu, zog einen Schlüssel aus der Hosentasche seiner Jeans und schloss auf. Keine Minute später stand er mit Marie hinter der Tür im Dunkel, doch nur einen Moment. Er fand den mehr als fünfzig Jahre alten Lichtschalter auf der rechten Seite, betätigte ihn, und die ebenso alte Beleuchtung flammte an der schräg nach unten führenden Decke zuverlässig auf. Burak stand mit Marie am oberen Ende einer steilen Treppe, die mehrere Meter in die Tiefe führte. Er stütze Marie ab und begann mit ihr den Abstieg. Burak hatte die Dosis der K.O. Tropfen so gewählt, dass Marie bald wieder bei vollem Bewusstsein sein würde, damit sie auch mitbekam was er mit ihr, diesem unschuldigen Engel, anstellten wollte. Ein böses, gieriges Grinsen huschte über sein Gesicht und in seinen Augen reflektierte das Licht dieses verfluchten Ortes auf eine diabolische Weise. Er betrachtete lüstern ihr nasses Dekolleté und den Ansatz ihrer Brüste. Er strich ihr mit vor Erregung zitternden Fingern eine Strähne ihres schwarzen Haares aus der Stirn.

Jessica hatte sich verirrt. Das Labyrinth aus Gängen, Tunneln und Treppen narrte sie wieder und wieder. Sie befürchtete sich immer tiefer in dieses Wirr-Warr zu verlaufen. Sie hatte vollkommen die Orientierung verloren. Und die undurchdringliche Dunkelheit, die Angst und die Erschöpfung gaukelten ihr immer wieder Geräusche und Lichter vor, die gar nicht existierten. Kopfschmerzen, weil sie schon stundenlang nichts gegessen und auch nichts mehr getrunken hatte, quälten sie zusätzlich. Sie sank an der rauen Betonwand in ihrem Rücken herunter, bis sie mit gesenkten Kopf und hängenden Schulter am Boden saß und nicht mehr weiterwusste. Dieses unterirdische Labyrinth war eine Todesfalle. Ein Ort um Menschen verschwinden zu lassen. Tränen rannen ihr heiß über ihre Wangen, und in ihrer Verzweiflung fing sie sie mit ihrer Zunge auf, schmeckte die salzige Flüssigkeit und glaubte, dass sie nichts Anderes mehr zu trinken bekommen würde, als ihre eigenen Tränen. Der Schnitt in ihrer rechten Hand machte sich pochend bemerkbar, der Schmerz zog sich ihren ganzen Arm hoch und manifestierte sich bohrend in ihren Schläfen. Schlaf, da war wieder das Verlangen einfach hier sitzen zu bleiben, die Augen zu schließen, einfach aufzugeben. Schmerz und Verzweiflung schnürten ihr die Kehle zu. Tränen schossen ihr aus dem Augen und mit letzter Kraft entrann sich ihre Kehle ein krächzender letzter Schrei. "Neiiiiin!"

Ein schwacher Lichtschimmer drang an ihre Augen. Durch das Licht erkannte Jessica, dass sie sich nicht weit von einer T-Gabelung entfernt befand. Zittern starrte sie zum Licht hinüber. Zu geschwächt sich aufzurappeln, oder sich in irgendeiner Weise zu wehren, konnte sie nur abwartend was dort auf sie zukam.

Langsam schlurfende Schritte näherten sich von rechts. Ein leises Husten drang an Jessicas Ohren. Die Lichtquelle schien leicht zu schwanken, denn der Lichtschein, der um die Ecke drang veränderte sich leicht bei jedem schlurfenden Schritt.

"Verdammter Staub", hörte Jessica eine weibliche Stimme krächzen. Dann bog eine alte, gebückt gehende Gestalt um die Ecke. In der rechten Hand hielt die Frau eine altertümlich wirkende Grubenlampe. Hinter dem Glas brannte eine gelbliche Flamme und blendete Jessica, die solange in völliger Dunkelheit herumgeirrt war für einen langen Moment, sodass die alte Frau, als Jessica wieder etwas sehen konnte plötzlich direkt vor ihr stand. Zu Tode erschrocken zuckte Jessica zusammen.

"Vor der alten Emma musse dich nich grausen", meinte die Alte und sah Jessica direkt in die Augen. "Is dieser Ort, vor deme dich gruseln solltest! Der Tod schleicht um inne Tunnel seit bald sechzig Jahr und er ist wieder auf der Suche. Doch die alte Emma beschützt dich schon Mädchen."

Jessica starrte die Alte nur verwundert an. Stand sie wirklich vor ihr erzählte ihr ein grausiges Märchen, oder entsprang sie Jessicas Fieberwahn? Jessica versuchte etwas zu erwidern, doch ihr trockene Zunge und ihr ausgedörrte Rachen brachten nur ein unverständliches Krächzen hervor.

"Wart, hier trink erst mal wat!" Emma beugte sich zu hier herunter und Jessica befürchtete, dass die Alte jeden Moment auf sie fallen musste, so klapperig wirkte sie. Doch dann hielt sie ihr einen verbeulten Zinnbecher hin, in dem köstliches Wasser im Licht der Grubenlampe glitzerte. Jessica dachte nicht weiter nach, nahm der Alten den Becher aus der Hand, führte ihn mit beiden Händen an ihren Mund und trank gierig aus dem Becher, bis das Wasser ihr rechts und links am Kinn herunterlief.

Burak schleppte Marie einen schmalen Gang entlang. Die Deckenbeleuchtung war hell genug, dass er zügig vorankam. Doch er würde für den Rest des Weges die Taschenlampe brauchen, welche er vorsorglich mitgenommen hatte, denn dieser Gang war einer der wenigen Bereiche in dem noch die Beleuchtung funktionierte. Im weitaus größeren Teil der Bunkeranlage war es stockdunkel und einsam.

Burak achtete gar nicht auf die hingeschmierten Graffiti an den raunen Gangwänden, als er die nächste Treppe erreichte. Er hob sich Marie abermals auf den Rücken. Dann stieg er langsam ein wenig angestrengt die noch gut erhaltenen Stufen weiter in die Tiefe hinunter. Dort unten führte dann ein Gang mit einer Bogenförmig ausgebauten Decke zu den ersten Schutzunterkünften in denen sogar noch verrostete Bettengestellte standen. Doch Buraks Weg sollte ihn noch weiterführen, in eine große Halle, in welcher rostige Ketten von der gewölbten Decke herunterhingen.

Er spürte Maries Körper an seinem. Spürte ihren gleichmäßigen, warmen Atem in seinem Nacken, spürte wie ihr Brüste an seinen Rücken drückten. All das, und der Gedanke an das, was er mit ihr vorhatte erregten ihn, sodass er seine Schritte beschleunigte. Niemand würde ihn hier unten stören. Als ihn nun die Dunkelheit umfing, schaltet er die kleine, leistungsstarke LED-Taschenlampe an und setzte seinem Weg mit einem erwartungsvollen Lächeln auf den Lippen fort. Er schmeckte die salzigen Schweißtropfen auf seiner Lippe, die ihm von der Stirn liefen. Burak setzte Marie ab. Sollte sie die letzten Meter in ihr Verderben doch selbst laufen. Marie konnte langsam wieder einigermaßen klar denken, doch ehe sie irgendeinen vernünftigen Gedanken erfassen konnte, oder sich richtig ihrer Umgebung bewusst wurde, stieß Burak sie schon unsanft vorwärts.

"Los bewegt dich. Dort lang", fegte seine Stimmer an ihr Ohr und Marie wusste, dass er keinen Widerstand ihrerseits dulden würde. So gehorchte sie und stolperte vorwärts. Er trieb sie einen schmalen Gang entlang der im Licht der Taschenlampe wild vor ihr zu tanzen schien. Marie fiel es schwer sich auf den Beinen zu halten. Noch immer verwirrten die K.O.-Tropfen ihr Sinne. Immer wieder bekam sie von Burak einen ungeduldigen Stoß in den Rücken. Was wollte er von ihr, wo waren sie hier? Sie brachte nicht den Mut auf ihn zu fragen, wollte seine Ungeduld nicht noch mehr auf die Probe stellen. Der Gang, dem sie folgten führte stetig weiter in die Tiefe. Die Luft die Marie atmete war trocken, doch je weiter und tiefer sie kamen, umso klammer wurde es.

Dann reflektierte der Schein der Taschenlampe eine Wasserfläche, welche die gesamte Breite des Ganges ausfüllte. Unschlüssig blieb Marie stehen, gerade als die Spitze ihres rechten Stilettos das Wasser berührte.

"Verdammt, warum muss es auch heute Nacht regnen", vernahm sie Burak hinter sich.

"Gibt es keinen anderen Weg?", fragte Marie vorsichtig.

"Es wäre eine zu großer Umweg", erklärte Burak und wies mit der Taschenlampe auf das den überschwemmten Gang, "Los weiter!"

Marie fügte sich abermals, lief in das Wasser, welches ihr bald bis an die Knöcheln reichte und eiskalt war. Burak folgte ihr. Sie hörte ihn fluchen. Offenbar waren seine vierhundert Euro teuren, italienischen Lederschuhe nicht wasserdicht. "Schneller!", trieb er sie wütend an.

Jessica war der Alten den Gang hinunter gefolgt. Sie bogen um eine Ecke und kamen in einen weiteren Gang, in dem sich rechts und links etliche türlose Öffnungen befanden. Die Alte schlurfte zur ersten und verschwand in dem Raum, welcher sich dahinter befinden musste. Jessica folge ihr zögerlich. Doch sie wollte auch nicht im Dunklen zurückbleiben, da das Licht der Grubenlampe nur noch schwach aus dem Raum zu ihr hinaus in den Gang leuchtete.

Als Jessica den Raum betrat, fand sie die Alte auf einem verrosteten Bettgestell sitzen. Sie hielt die Grubenlampe vor ihr Gesicht, aus welchem traurige Augen in weite Ferne blickten. "Jahrzehnte isses her. Werd die Nacht nie vergessn, in der die Bomben fieln."

Bomben? Jessica brauchte einen Moment bevor sie begriff. "Schreckliche Zeit, vergangen. Doch der Tod is noch immer hier. Hier unten im Dunkeln. So dunkel." Die Stimme der Alten wirkte brüchig und müde. So wie sie da auf dem matratzenlosen Bettgestell hockte, wirkte sie zerbrechlich und verwundbar. Und plötzlich veränderte sich das Bild. Statt der Alten sah Jessica ein junges Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt, auf dem verrosteten Bettgestell sitzen. Ängstlich hielt sie die Grubenlampe deren Flamme unruhig zitterte. Mit dem linken Arm hielt sie einen schmutzigen Teddy umklammert und drückte das Stofftier fest an sich. "Du musst hier warten, bis wir zurück sind", hörte sie die Stimme der Alten von irgendwo her. Das Mädchen blickte eine Person an, die hinter Jessica stehen musste. Fast hätte Jessica sich umgedreht um nachzusehen, ob dort jemand stand. "Mami", kreischte die Alte ängstlich. Plötzlich saß sie wieder vor Jessica. "Aber se sind nich wieder gekommen. Nie mehr!"

Jessica schluckte einen dicken Kloß herunter. Tränen standen in ihren Augen. Fast wollte sie zu der Alten hin und sie in den Arm nehmen.

"Zu viele sind hier unten geblieben", sprach die Alte unbeirrt weiter und jetzt nahm sie Jessica wieder war, denn sie blickte sie direkt an. "Es sind genug. Dieser Dämon wird weder dich noch Marie kriegen. Nicht solange es die alte Emma verhindern kann."

Erstaunlich beweglich stand Emma auf und trat auf Jessica zu. "Komm, Mädchen, wer sind schon zu lang hier unten"

Jessica trat zu Seite und ließ Emma vorbei. Diese ging den Gang den sie gekommen waren zurück. Jessica folge ihr, sicher, dass Emma sie unbeschadet hinaus führen konnte.

Burak betrat die große Halle vor Marie und blieb so abrupt stehen, dass sie beinahe auf ihn geprallt wäre. Er schrie auf Türkisch, schimpfte derart derbe, dass Marie zusammen zuckte. Fließend türkisch konnte sie nicht, doch die Worte, welche Marie aufschnappte, reichten ihr. Hure war noch eins der harmloseren Worte. Burak war dermaßen außer sich, dass er Marie am rechten Arm packte, und grob in die Mitte der Halle schleuderte, sodass sie stolperte, auf ihre Knie aufschlug und sich auf die Lippe biss. Ein metallischer Geschmack machte sich in ihrem Mund breit, als sie mit der Zunge über ihre aufgeplatzte Lippe fuhr. Sie bemerkte den abgewetzten Stuhl, der in der Mitte der leeren Halle stand, stützte sich keuchend auf der Sitzfläche ab. Doch Burak war schon bei ihr, riss sie in die Höhe, um sie gleich darauf auf den Stuhl nieder zu drücken. Er hielt die Taschenlampe in die Höhe und drehte sich einmal um seine eigene Achse, ließ ein böses, arrogantes Lachen erklingen.

"Schau, dies ist mein Reich. Niemand wird dich hier finden, kleine Marie. Nun gehörst du mir", verkündete er, brachte sein Gesicht ganz nah an Maries Gesicht heran, sodass sie seinen heißen Atem auf ihren Wangen spürte. Angewidert wand Marie ihren Kopf zur Seite. Doch Burak packte ihr Kinn und zwang sie ihn anzusehen.

Abermals hielt er die Taschenlampe in die Höhe und leuchte zur Decke hin. Er drückte seine Hand, mit der er immer noch Maries Kinn hielt nach oben und nötigte sie seinem Blick zu folgen.

Dort oben konnte Marie schwere, rostige Ketten erkenne, die bedrohlich über ihrem Kopf von der Decke hingen.

Burak brachte seine Lippen so nah an ihr Ohr, dass er es beinahe berührte. "Wir werden viel Spaß miteinander haben", flüsterte er.

Das Mädchen im Regen

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