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3 Geisterzug

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Freitag, 05:13

Noch immer dröhnte es in seinen Ohren von der lauten House-Musik in der Disco. Irgendwann war es ihm zu langweilig geworden. Seine Freunde waren schon vor einer guten Stunde gegangen. Nach und nach war es auf der Tanzfläche immer leerer geworden. Ein heißes Hühnchen würde er diese Nacht eh nicht mehr abschleppen. Die Wirkung der Energydrinks ließ zusehends nach und der Alkohol, den er sich gläserweise in den hohlen Kopf geschüttet hatte machte ihn zusätzlich müde. Auf dem Weg zum Bahnhof hatte er einige Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Die kalte Nachtluft ließ seine Gedanken nur wenig klarer werden. Klares Denken hätte auch nur bedeutet, dass er sich wieder erinnert hätte. Da war Mark das Schwindelgefühl in seinem Kopf allemal lieber.

Mark versuchte seinen Blick auf das Ziffernblatt seiner Armbanduhr zu fokussieren. HD war das nicht, was seine Augen ihm da zeigten. Es gelang ihm nicht herauszufinden wie spät, oder eher wie früh es war. Er entschloss sich auf den Bahnsteig zu gehen und einfach so lange zu warten bis die nächste S-Bahn kam. Er nahm den Aufzug, denn in seinem Zustand war die unendlich erscheinende Treppe keine Option und die Rolltreppe war eh defekt.

Eine Reflektion in der Glasscheibe der Aufzugtüren durchdrang plötzlich seinen vom Alkohol ummantelten Sinn und ließ ihn zusammenzucken. Er erkannte das Spiegelbild seiner Exfreundin, so als ob sie hinter ihm auf dem Bahnsteig stehen würde. Mark wirbelte herum. Doch seine Ex stand da nicht. Das Gefühl, dass dort aber vor einer Sekunde noch jemand gestanden hatte ließ Mark nicht los, auch wenn er sich nicht erklären konnte, wie dass hätte möglich sein sollen. Verwirrt verließ er den Aufzug. Er schaffte es zu einer Sitzbank und ließ sich auf das kalte, glatte Holz nieder. Sein Blick erfasste die große Bahnsteiguhr. Viertel nach fünf. Wann wohl die nächste Bahn kam?

Das Geräusch des anspringenden Aufzugmotors riss ihn aus seinen müden Gedanken. Er beobachtete, wie die Kabine durch die Öffnung im Boden des Bahnsteiges nach unten sank. Vielleicht jemand der ebenfalls nach einer durchzechten Nacht nach Hause will, hoffte Mark, mit dem ich noch quatschen kann. Doch als die Aufzugskabine wieder die Bahnsteigebene erreichte war sie leer. Trotzdem öffneten sich die Türen.

Was geht denn hier ab, dachte Mark und sprang auf. In diesem Moment bemerkte er, dass alle Bahnsteige menschenleer waren. Es war so still, dass er sogar das Sirren der Neonröhren über sich hören konnte. Was zum Teufel...! Mark erschauderte. Voller Angst sah er sich um. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken zur Disco zurück zu gehen, um nach anderen Leuten zu sehen. Das polternde Geräusch der in diesem Moment einfahrenden S-Bahn nahm ihm jedoch die Entscheidung ab.

Erleichtert betätigte er den Türsensor, nachdem der Zug zum Stehen gekommen war. Die Türen öffneten sich und Mark stieg ein. Er suchte sich den nächsten Sitzplatz aus, ließ sich auf die harte Polsterung sinken und schloss die Augen. Kurz darauf zogen die Elektromotoren an und die Bahn fuhr los.

“Hallo, mein Lieber“, drang eine krächzende weibliche Stimme an sein Ohr. Sie klang so nah, als ob die Frau ihm direkt gegenübersaß. Doch das konnte nicht sein. Da war niemand, als er sich hingesetzt hatte. Mark öffnete die Augen und blickte direkt in das ungepflegte, runzelige, schmierige Gesicht einer alten Frau. Mark konnte nicht entscheiden, ob ihre schmutzige heruntergekommene Kleidung oder ihr Atem mehr stank. Angewidert setze er sich ganz gerade hin um wenigstens ein wenig mehr Abstand zwischen ihr und sich zu bekommen.

“Hast versucht zu vergessen“, krächzte die Alte unvermittelt, “Hast es nich geschafft. Kannst se zurückbekommen, wenne willst. Doch musste ne andere vor Bösem retten.“ Mark verstand nur Bahnhof. Er wollte aufstehen und sich woanders hinsetzen. Doch die Alte packte mit ihrer dreckigen Hand, die in einem Fetzen von einem Handschuh steckte seinen Oberschenkel und drückte ihn mit erstaunlicher Kraft zurück auf den Sitz.

“Hey, lass mich sofort los, du alte Hexe!”, rief Mark.

„Nein, hör zu!“, schnitt die Alte ihm das Wort ab und starrte direkt in sein Gesicht. Mark versuchte ihrem durchdringenden Blick auszuweichen. Doch er musste sie ansehen, er konnte ihrem Blick nicht ausweichen.

„Hör zu!“, krächzte die Alte, und es schien als würde sie kaum noch Luft bekommen. Mark befürchtete, dass die Frau jeden Moment direkt vor ihm starb. Er wich angeekelt noch weiter zurück, sodass die Sitzlehne schon schmerzhaft gegen seine Rippen drückte. „Du musst se retten. Du bist ihre letzte Chance. Ihr seid auf besondere Art mittnander verbunden.“

Mark starrte die Alte voller Panik an, ihm war heiß und kalt zugleich. Er wollte hier einfach nur noch weg. Doch die Alte vermochte ihn zu bannen, so sehr er sich auch dagegen wehrte. Ihm schossen vor Panik Tränen in die Augen.

„Lass mich los!“ Er schrie sie an, stemmte sich mit aller Kraft gegen sie.

„Morgen Nacht,“ krächzte die Alte so leise, dass es von Marks panischem Geschrei überdeckt wurde, doch er hörte es trotzdem.

Dann ließ die Alte ihn plötzlich los, wich so geschwind zur Seite, dass Mark vollkommen überrascht, erschöpft, schwer atmend in sich zusammensackte. Er verlor für Sekunden das Bewusstsein.

Das Kreischen der Bremsen als die S-Bahn den nächsten Halt erreichte, holte ihn zurück in die Gegenwart. Am ganzen Körper zitternd, sprang er auf und blickte sich gehetzt um. Doch die Alte war verschwunden. Er rannte durch den ganzen Wagen, doch er fand sie nicht. Dann bemerkte er die geöffneten Türen und sein Gehirn hatte nur noch einen Befehl für ihn. Raus hier! Er hechtete hinaus.

Wurde jedoch sofort abrupt gestoppt, als er brutal vor eine Säule, die er gar nicht wahrgenommen hatte, krachte. Er hörte noch das schrecklich knackende Geräusch in seinem Nacken, dann verlor er abermals das Bewusstsein.

Regungslos lag Marks Körper vor der Säule auf den körnigen Asphalt. Die Türen der S-Bahn schlossen sich geräuschlos. Sekunden später fuhr der Zug los. Als das hintere Ende des Zuges gerade den Bereich des Bahnsteigs verlassen hatte, verlosch die komplette Beleuchtung im Inneren des Zuges. Zuletzt waren die blutroten Rücklichter der S-Bahn zu sehen, als diese im Dunkel der Nacht verschwand. Das Signal vor dem Bahnsteig, rechts von den Gleisen sprang auf Rot. Doch auf der Aufnahme dieser Nacht der Videoüberwachung war der Zug nicht zu sehen. Und im Fahrplan war für fünf Uhr und eineinhalb Minuten auch kein Zug aufgeführt. Ein kühler Wind strich über den menschenleeren Bahnsteig und wirbelte Staub und lose Blätter auf. Schatten huschten an Mark vorbei und der S-Bahn hinterher. Passagiere die irgendwann den letzten Zug verpasst hatten und nie angekommen waren. Doch in der Dunkelheit geriet eine Seele in Gefahr und Mark alleine würde sie retten können. Noch war die Zeit auf seiner Seite. Doch mit jedem Atemzug verstrichen die Sekunden und der Countdown war schon längst gestartet. In dieser Nacht wurden die Weichen gestellt im Leben von sechs Menschen, die sich zuvor in dieser Konstellation noch nicht begegnet waren. Doch das Schicksal führt sie zusammen. Es beginnt, hat bereits begonnen.

Hustend erwachte Mark Minuten später. Sein Kopf dröhnte, drohte jeden Moment zu zerplatzen. Er lag mit dem Gesicht auf dem Asphalt, spürte zwischen Nase, Lippen und Boden etwas feuchtes, Warmes. Er hob seinen Kopf und berührte mit seinen Fingern vorsichtig die Stelle zwischen Nase und Oberlippe. Obwohl er das Schlimmste befürchtete, ließ ihn der Schmerz zusammenzucken. Als er seine Finger betrachtete, sah er Blut. Es dauerte Minuten bevor er sich auf seinen Knien und den Händen aufgestützt, halbwegs aufgerappelt hatte. Was für ein Alptraum. Es gelang ihm sich an der Säule, gegen die er geknallt war, weiter hochzuziehen, bis er aufrecht stand. Seine Knie zitterten unter dem Gewicht seines Körpers. Sein Kopf, sein Nacken, alles schmerzte. Er lehnte seine Stirn an das kalte Metall der Säule. Es gelang ihm ein Taschentuch aus der Tasche seiner Jeans zu ziehen und unter seine Nase zu drücken.

Er hatte doch gar keine Drogen genommen. Oder hatte ihm jemand was in seinen Drink gemischt? Oder…? Nein, den Gedanken wollte er gar nicht zulassen. Das konnte nicht passiert sein.

Er hob seinen Kopf um zu sehen an welcher Haltestelle er sich befand. Verschwommen erkannte er die weißen Buchstaben auf dunkelblauem Grund. Langendreer. Er war tatsächlich nur zwei Haltestellen gefahren. Ihm war es wie eine Ewigkeit vorgekommen. Noch immer konnte er den Gestank der Alten riechen, sah ihr schrumpeliges, dreckiges Gesicht direkt vor seinem, konnte sogar ihren heißen, fauligen Atem auf seiner Wange spüren.

Mark versuchte sich einzureden, dass das alles nicht passiert war, dass es nur seiner Fantasy entsprungen war. Doch er wusste es besser. Sie hatte gesagt, dass er Jessy zurückbekommen würde. Doch wollte er das nach dem Streit am Abend mit ihr überhaupt noch. Er erinnerte sich an ihr mädchenhaftes Gesicht. Sie sah so viel jünger aus, als sie tatsächlich war, seine Prinzessin. Strahlend blaue Augen, blonde Locken, und die feinen Grübchen, die sich in ihrem Gesicht zeigten, wenn sie lächelte.

Doch wer war die andere Frau von der die Alte gesprochen hatte?

Mark war sich nicht sicher, ob er ihr überhaupt glauben konnte. War es nicht reiner Zufall gewesen, dass sie sich überhaupt getroffen hatten? Oder hatte die Alte etwa auf ihn in der S-Bahn gewartet, gelauert? Aber wie konnte sie wissen, dass er gerade diesen Zug nehmen würde? Viel zu viele Fragen und doch hatte Mark das Gefühl, dass er diese mysteriöse Sache nicht einfach so abhaken konnte, sollte. Im lief es immer noch eiskalt den Rücken hinunter, wenn er darüber nachdachte. Doch vielleicht war es im Moment einfach besser nach Hause zu kommen. Er konnte vor Müdigkeit kaum noch geradestehen und die Schmerzen in seinem Kopf trieben ihn geradezu in den Wahnsinn. Er hoffte nur, dass er überhaupt schlafen konnte. Auf jeden Fall sollte ich mir noch ein Aspirin reinziehen, bevor ich versuche Schlaf zu finden, dachte Mark, schleppte sich zu einer Bank und wartete auf die nächste Bahn, die ihn endlich nach Hause bringen sollte.

Das Mädchen im Regen

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