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4 Kreuzende Wege

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Freitag, 06:10

Mark schleppte sich mit letzter Kraft in die S-Bahn. Die Zeit, die er auf den nächsten Zug hatte warten müssen, erschien ihm wie eine Ewigkeit. Er ließ sich auf eine der Sitzbänke fallen und schloss die Augen. Vielleicht verminderte das ein wenig seine unerträglichen Kopfschmerzen. Doch in dem Moment da die Bahn anfuhr, erwies es sich als großer Fehler, dass er die Augen geschlossen hatte. Augenblicklich wurde sein Gehirn von einem Schwindelgefühl übermannt. Mark riss die Augen auf und seine Hand krallte sich um die Holzlehne an seiner rechten Seite. Der Wagen begann vor seinen Augen wild hin und her zu tanzen, sich zu drehen. Ihm wurde speiübel. Eine nie gekannte Schwäche überkam ihn. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Das Licht der Neonbeleuchtung stach unbarmherzig in seine Augen, dass er glaubte erblinden zu müssen. Doch die Augen zu schließen war keine Alternative. Er musste hier raus. Vielleicht brachte frische Luft ja etwas. Doch dazu musste er es erst mal bis zu Tür schaffen. Die Bahn hielt. Mark stemmte sich in die Höhe. Sein Körper protestierte mit jeder Faser gegen diese abrupte Bewegung. Sein Geist ging unter in einer heftigen Schwindelattacke. Er stolperte vorwärts. Fiel vornüber und schlug auf seine Knie. Es gelang ihm gerade noch sich mit den Händen abzufangen. Die Bahn fuhr wieder an.

Mark schleppte sich auf allen Vieren weiter vorwärts. In einem winzigen Teil seines Gehirns fragte er sich, warum ihm niemand zu Hilfe kam. Doch eine erneute Schwindelwelle fegte diesen Gedanken auch schon wieder fort. Tatsächlich befand sich außer ihm niemand in dem hinteren Wagen des Zuges.

Mark sackte zu Boden. Die nächste Tür war nur noch ein paar Schritte vor ihm. Wieder hielt die Bahn an. Doch auch diesmal schaffte es Mark nicht nach Draußen zu gelangen. Wieder tropfte Blut aus seinen Nasenlöchern und malte rote Flecken auf den hellgrauen Linoleum Boden der S-Bahn. Marks Hand griff nach der Kante der Sitzbank. Jede Bewegung schien wie in Zeitlupe zu passieren. Er musste Husten. Ein metallischer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Seine Hand krallte sich um die Kante, sein Arm spannte sich, so zog er sich weiter nach vorne. Es gelang ihm die Griffstange hinter der Lehne der Sitzbank zu packen und sich hochzuziehen. Währenddessen näherte sich die Bahn dem nächsten Halt: Dortmund Universität. Schwer atmend schob sich Mark in die Nähe der Tür. Der Zug wurde langsamer und hielt an dem unterirdischen Bahnsteig. Doch von alleine würde sich die Tür nicht öffnen. Mark hob seinen linken Arm und drückte den Türsensor. Alles verschwamm vor seinen Augen. Doch die Tür öffnete sich mit einem mechanischen Rollgeräusch und Mark stolperte hinaus. Es gelang ihm gerade noch sich zu einer an der Bahnsteigwand befestigten Bank zu schleppen und sich hinzulegen. Dann verlor er endgültig das Bewusstsein.

Marie drückte sich in die Nische in der Tunnelwand. Dies war zwar ein Notausgang, doch auf der Tür stand in großen Lettern geschrieben: Achtung! Tür Alarmgesichert! Ein Alarm auslöst und die Aufmerksamkeit noch mehr auf sich ziehen wollte Marie auf keinen Fall. Sie hoffte, dass die S-Bahn nach der Notbremsung endlich weiterfahren würde. In welche Schwierigkeiten sie Titus gebracht hatte, tat ihr unendlich leid. Zumal sie nach der kurzen Zeit tiefe Zuneigung für ihn empfand. Sie drückte sich noch enger in den Schatten. Hoffte, dass sie von der S-Bahn aus nicht mehr zu sehen war. Wagte es kaum sich umzudrehen, um zu schauen, was im Zug passierte. Darum erschrak sie sich umso mehr als plötzlich die Antriebsmotoren ansprangen. Es dauerte noch einen Moment, doch dann setzte sich der Zug langsam in Bewegung und fuhr an ihr vorbei. Marie kauerte sich hin, machte sich so klein wie möglich, um nicht doch noch von den Sicherheitsleuten entdeckt zu werden. Dann entfernte sich der Zug weiter und weiter, ließ Marie im diffusen Zwielicht des Tunnels zurück. Nun musste sie sich beeilen aus dem Tunnel heraus zu kommen. Sie lugte aus der Nische in beide Tunnelrichtungen. Entgegen der Fahrtrichtung erkannte sie, dass der Halt Dortmund-Universität gar nicht so weit entfernt war. Sie verließ die Nische und folgte dem schmalen, gepflasterten Notstieg neben dem Gleis.

Zu ihrem eigenen Erstaunen erreichte sie den Bahnsteig schneller als gedacht. Sie erklomm die Stufen und klappte die kleine Absperrung zu Seite, die eigentlich verhindern sollte, dass unbefugte Personen den Tunnel betraten. Sie betrat so unauffällig wie möglich den Bahnsteig, gerade in dem Moment als aus Richtung Dortmund der Gegenzug aus dem Tunnel in den beleuchteten Bereich des unterirdischen Halts einfuhr. Das lenkte die Aufmerksamkeit der wartenden Leute ein wenig von ihr ab.

Ein paar sahen zwar noch verwundert in ihre Richtung, doch Marie ignorierte sie einfach. Zielstrebig wandte sie sich dem Treppenaufgang zu um endlich von hier zu verschwinden. Dabei bemerkte sie einen jungen Mann der reglos auf einer Bank nahe der Treppe lag, irgendwie seltsam verdreht, mehr auf dem Bauch als auf der Seite. Marie schob ihre Absicht den Bahnsteig zu verlassen beiseite und ging zu ihm hin. Sie brachte es nicht fertig, den offensichtlich hilfebedürftigen Mann einfach zu ignorieren, so wie es alle anderen Taten.

“Hallo, geht es ihnen gut?“

Keine Reaktion. Marie bemerkte die blasse Gesichtsfarbe des Mannes, das Blut, das unter seiner Nase klebte. Sie nahm seinen Arm und fühlte am Handgelenk nach dem Puls. Kaum spürbar. Der Mann schien dringend Hilfe zu benötigen. Marie erhob sich.

“Bitte! Kann jemand nen Notarzt rufen!“, sprach sie die Wartenden an. Manche senkten ihre Köpfe, starrten angestrengt auf die Bodenfliesen, andere wechselten ihren Standort, die meisten Beschäftigten sich einfach weiter mit ihrem Handy, als ob sie nichts gehört hätten. Wer wollte schon etwas mit einer Punkerin und einem Betrunkenem zu tun haben. Niemand wollte sich Ärger einhandeln. Und solche sonderbaren Gestalten, wie Marie oder dieser Kerl, der da bewusstlos auf der Bank lag, konnten nur Ärger bedeuten.

„Hey!“, schrie Marie. „Helft mir doch bitte. Kann denn keiner Mal nen Notarzt rufen. Ihr hab doch alle Handys dabei.“ Doch auch das brachte nichts.

„Verdammt. Stellt euch nicht so an. Wir haben keine ansteckenden Krankheiten.“, schimpfte Marie.

Rebecca, die soeben aus der Bahn aus Richtung Dortmund ausgestiegen war, hatte ihren Rucksack von der Schulter genommen und kramte ihr Handy hervor. „Ich helfe dir“, rief sie zu Marie über die Gleise hinüber.

Doch plötzlich wandte Rebecca sich ab und ging zu den Treppen. „Warte, helft mir doch bitte“, rief Marie verzweifelt.

„Mach ich ja.“, antwortete Rebecca, „Aber ich habe keinen Empfang. Dort bei den Treppen geht's vielleicht.“ Kaum hatte die junge Frau ihren Satz beendet da flackerte vom Treppenaufgang auf Maries Seite plötzlich Blaulicht herunter. Marie brauchte einen Moment bevor sie begriff. Polizei! Ihre Aktionen, das Betätigen der Notbremse und ihre Flucht aus S-Bahn, wurden von den Verantwortlichen offensichtlich ernster genommen, als sie es gehofft hatte. Sie musste hier weg.

„Oh, sieht so aus, als ob schon jemand anderes schon einen Notarzt gerufen hat.“, rief Rebecca, die nichts von Maries Aktion wusste.

„Nein“, rief Marie, „Das ist die Polizei. Tut mir leid. Ich muss weg.“

„Was?“

Marie sprang auf und blickte sich gehetzt nach einer Fluchtmöglichkeit um. Denn schon war das Geräusch von schweren, schnellen Schritten aus Richtung Treppenaufgang zu hören. Es gab zwar noch einen zweiten Zugang, auf ihrer Seite, doch der befand sich am anderen Ende. Sie würde den Polizisten direkt in die Arme laufen. Es blieb nur noch ein Weg für Marie und nur noch wenige Sekunden sich zu entscheiden.

Sie rannte auf die Gleise zu, kletterte mit einer geschickten Bewegung hinunter auf die Schienen.

„Nein!“ rief Rebecca und befürchtete das Schlimmste. Marie war nicht so zimperlich. Sie überwand beide Gleise und stemmte sich mit unerwarteter Geschicklichkeit auf den Bahnsteig hinauf, gerade als zwei Einsatzbeamte der Bundespolizei den anderen Bahnsteig betraten.

„Hallo, dort liegt jemand bewusstlos auf einer Bank. Bitte schauen sie mal nach dem Mann“, versuchte Rebecca die Aufmerksamkeit von Marie abzulenken. Warum sie das tat, wusste sie in diesem Moment selbst nicht so Recht, doch irgendwie fühlte es sich richtig an.

Der eine reagierte auf sie und bewegte sich schon in Marks Richtung. Der andere jedoch hatte Marie bemerkt und zog die richtigen Schlüsse aus dem Einsatzbefehl und der flüchtenden Person.

„Halt! Polizei, bleiben sie stehen!“

Marie dachte gar nicht daran. Schlimm genug, dass die Polizisten sie entdeckt hatten. Sie rannte in Richtung der Treppe. Die würde sie hinauf zum Universitätsgelände bringen. Vielleicht gelang es ihr ja in der Menge der Studenten und Mitarbeiter der Uni unerkannt unter zu tauchen. Das hoffte sie zumindest. Aus den Augenwinkeln sah sie gerade noch, dass der eine Polizist in sein Sprechfunkgerät sprach und Marie hoffte, dass er endlich einen Notarzt anforderte. Sie fragte sich, warum sie sich diesem ihr fremden jungen Mann so verbunden fühlte. Da war etwas, dass sie nicht näher bezeichnen konnte, doch ein unsichtbares Band verflocht ihr Schicksal mit seinem. Marie hatte noch nie in ihrem Leben solch eine Empfindung verspürt. Es war etwas – etwas das viel tiefer ging. Eine Art Seelenverwandtschaft.

Dann war sie aus dem Blickfeld der Beamten und ihr wurde die Sicht nach unten durch die Mauer des Treppenaufgangs versperrt.

Rebecca sah, dass sich der eine Polizist nun um die bewusstlose Person auf der Bank kümmerte. Sein Kollege jedoch nahm die Verfolgung dieser Punkerin auf. Er stürmte die Treppe des andern Bahnsteiges hinauf und würde unweigerlich oben auf dem Platz zwischen den Gebäuden der Universität Bibliothek auf sie treffen. Wenn es irgendwie möglich war, dann wollte Rebecca verhindern, dass der Polizist sie in die Hände bekam. Von der eigentlichen Gefahr ahnte weder sie, noch der Polizist, noch Marie etwas.

Marie befand sich nun auf dem Platz zwischen den Bibliotheksgebäuden. Sie sah sich um, hier war sie zuvor noch nie gewesen, musste sich erst einmal orientieren. Es befanden sich schon einige Studenten auf dem Platz. Einige von ihnen strebten der Haltestelle der Hochbahn entgegen, die auf dem weitverzweigten Unigelände verkehrte. In der Zeit, die Marie brauchte um sich einen Überblick zu verschaffen, hatte der Polizist ebenfalls den Platz erreicht. Zeitgleich lösten sich zwei dunkel gekleidete Gestalten aus dem Schatten des Haltestellengebäudes der Hochbahn und näherten sich Marie. Yusufs Lakaien.

Es war nur ein Schuss ins Blaue gewesen, doch nachdem Mike Yusuf über Maries Flucht informiert hatte, folgte dieser seinem Gespür für solche Situationen und schickte zwei seiner Männer zum Campus. Mit einem Mädchen, das nicht einsehen wollte, dass es zu gehorchen hatte, war er immer noch fertig geworden. Auch Marie würde schon noch ihre Lektion lernen, obwohl es bei ihr noch etwas Anderes war. Ihre Beziehung ging über das rein geschäftliche weit hinaus. Marie arbeitete zwar für ihn, doch gleichzeitig war sie so etwas wie eine Tochter für ihn.

Rebecca nahm die letzten Stufen und kam auf den Platz gehetzt. Im Gegensatz zu Marie und dem Polizisten hatte sie Yusufs Männer schon entdeckt. Sie wusste zwar nicht, welche Verbindung die beiden Männer zu Marie hatten. Doch Rebecca erkannte instinktiv, dass Marie in Gefahr war.

„Hey du!“, rief Rebecca um sie auf sich aufmerksam zu machen. So laut sie nur konnte. Was natürlich auch alle anderen Personen auf dem Platz auf sie aufmerksam machte. Doch das hatte Rebecca genauso beabsichtigt. Marie blickte für einen Moment zu ihr herüber, dabei entdeckte sie Yusufs Männer, die sie offenbar kannte. Sie blieb abrupt stehen und sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Es blieb ihr nicht viel Zeit sich einen neuen Plan zu überlegen, denn der Polizist war schon bis auf wenige Schritte heran.

Auch Yusufs Männer strebten mit schnellen Schritten auf Marie zu. Yusuf hatte seinen Männern eingetrichtert, dass sie Marie zu ihm bringen sollten, jedoch ohne dabei viel Aufsehen zu erregen, noch Marie in irgendeiner Weise zu verletzen. Doch Burak war da anderer Meinung als sein Chef.

Er zückte eine Pistole und gab so die Tarnung auf. Unglaublich schnell waren sie bei Marie, die keine Chance hatte ihnen zu entkommen. Burak packte ihren Arm, drehte ihn ihr auf den Rücken und schob sie zwischen sich und dem Polizisten.

„Halt! Du sollest diese Sache wirklich uns überlassen“, rief Burak.

Der Polizist hatte die Hand schon am Griff seiner Waffe, war mit der plötzlichen Wendung der Situation aber offensichtlich überfordert.

„Du willst doch nicht dafür verantwortlich sein, dass das hier eskaliert!“ Burak blickte den Polizisten direkt in die Augen. Der junge Beamte zog seine Waffe aus dem Holster und zielte auf ihn.

„Lass die Frau los!“, rief er entschlossen, konnte jedoch das Zittern in seiner Stimme nicht ganz verbergen. Aber er hatte sein Gegenüber gründlich unterschätzt. Burak hob seine Waffe und drückte die Mündung gegen Maries Schläfe. Marie zuckte erschrocken zusammen. Auch Rebecca stockte der Atem.

„Bitte…“, flehte Marie.

Der Rest ihres Satzes ging im Geräusch der Sirene eines Rettungswagens unter der sich der S-Bahn Haltestelle näherte. Gleichzeitig schoss plötzlich ein schwarzer Lieferwagen mit verdunkelten Scheiben heran. Mit quietschenden Reifen lenkte der Fahrer ihn rücksichtslos vom Parkplatz der sich in der Nähe befand direkt auf das Campusgelände. Im gleichen Moment bog der Rettungswagen um die Ecke fuhr ebenfalls auf den Platz. Chaos entstand. Die Leute sprengten auseinander, suchten Schutz in den Gebäudeeingängen, den Zugängen zu den Haltestellen, wichen panisch den heranrasenden Wagen aus.

Das Durcheinander ausnutzend, wich Burak mit Marie zu dem schwarzen Lieferwagen zurück. Dessen hintere Türen wurden von innen heraus aufgestoßen. Ohne den Blick von dem Polizisten zu nehmen, stieß Burak Marie in den Laderaum des Lieferwagens und folgte ihr. Der Rettungswagen geriet in die direkte Schusslinie zwischen ihm und dem Polizisten. Die Türen wurden aufgestoßen und zwei Sanitäter sprangen hinaus auf den Platz. „Wo ist die Verletzte Person?“, rief der eine von ihnen dem Polizisten entgegen.

„Äh… unten… bei der S-Bahn.“

Ungläubig blickte Rebecca dem schwarzen Lieferwagen hinterher, welcher mit quietschenden Reifen den Campus verließ.

Das Mädchen im Regen

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