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9 Lost Again

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Freitag, 21:05

Nathaniel steht an meiner Seite. Wir schweigen. Ich ertrinke in Selbstmitleid, anstatt endlich zu begreifen, dass es so nicht enden sollte. Zu allem Überfluss beginnt es zu regnen. Passend zu der Stimmung in der ich mich befinde.

Da wir nicht bis auf die Knochen nass werden wollen, sind Nathaniel und ich in den Wagen gestiegen. Der Regen trommelt in dicken Tropfen auf das Autodach. Ich bekomme ein Déjà-vu. Ich könnte schreien. Warum musste mir diese ganze Sache passieren? Warum war das Schicksal so ungerecht zu mir? Da finde ich die Frau meiner Träume und jedes Mal wenn ich glaube ich kann sie greifen und in meine Arme schließen, wird sie von mir fortgerissen. Ich war nie ein besonders ausdauernder Kämpfer, nicht besonders mutig, und gebe auch eher klein bei, wenn eine Situation für mich aussichtslos erscheint. Meiner Meinung nach, habe ich mich für Marie schon besonders ins Zeug gelegt. Obwohl sie ein Call-Girl ist, obwohl sie mit Sicherheit viel zu jung für mich ist, obwohl sie mit Leuten zu tun hat, die eine ernste Gefahr für mich darstellen und in einem Umfeld agieren, in das ich nie im Leben hineingezogen werden wollte. Und trotzdem habe ich versucht, weiter um Marie zu kämpfen. Und das soll nun der Lohn für all meine Mühe sein?

Es scheint, als ob Nathaniel meine letzten Gedanken erraten hat, als er mich ansieht und sagt, „Willst du sie einfach so aufgeben?“

Will ich? Nein, verdammt noch mal. Ich komme mir vor wie in einem dieser Rollenspiele. Ich habe das nächste Level erreicht, doch es sieht so aus, als ob mich jemand zum Start zurückversetzt hätte, mir alle meine Erfolgspunkte gestrichen und den Schwierigkeitsgrad einfach mal so verdoppelt hat.

„Vielleicht sollten wir doch besser zu Polizei gehen? Lass die sich um diese Sache kümmern“, schlägt Nathaniel vor. Ich frage ihn, was er machen würde, wenn Marie Rebecca wäre. Er hat in diesem Moment keine Antwort parat. Doch die Sache aus der Hand zu geben und sich andere darum kümmern zu lassen, käme für ihn auch nicht in Frage, das sehe ich ihm an.

Ich hätte dem Mercedes hinterherfahren sollen, dann hätten wir zumindest noch eine Spur. Auf der Internetseite der Begleitagentur findet sich keine Adresse. Dort ist nur eine Handynummer angeben. Die kann ich natürlich nicht einfach anrufen und sagen, „Oh entschuldigen sie, gibt es bei ihnen eine Marie. Ich habe mich nämlich unsterblich in sie verleibt und finde es ganz schrecklich, was sie mit ihr anstellen. Ich möchte, dass sie auf der Stelle damit aufhören.“ Meine Selbstironie kotzt mich an. Ich schmunzle bitter.

„Lass uns einfach erst mal losfahren“, hör ich mich sagen, starte den Motor und lenkte den Wagen vom Parkplatz. Ziellos fahren wir durch Bochum, als plötzlich mein Handy klingelt. Neue Hoffnung explodiert in mir. Ich lenke das Auto an den Straßenrand.

Rebecca erklärt mir, dass Mark, der junge Mann den Marie gerettet hat, und den ich kurz im Krankenhaus kennengelernt habe, Maries Bruder ist. Dass sie gehofft habe, dass ich vielleicht mittlerweile Marie gefunden hätte. Doch da muss ich sie enttäuschen. Trotzdem schlage ich vor, dass wir uns treffen sollten, denn zu viert steigen unsere Erfolgsaussichten mit Sicherheit. Das rede ich mir jedenfalls ein, um nicht ganz von meiner schieren Verzweiflung um Marie überrollt zu werden.

Der Zufall will es, dass wir verabreden uns am Bochumer Hauptbahnhof zu treffen. Fünf Minuten später erreichen wir über den Südring den Bahnhofvorplatz. An einem dunkelblauen Golf blitzen die Scheinwerfer auf. Das wird wohl Mark sein. Ich lenkte meine Wagen hinter seinen und wir steigen aus. Rebecca begrüßt Nathaniel mit einem zärtlichen Kuss. Wir drängeln uns unter zwei Regenschirmen zusammen und tauschen unsere Informationen aus. Doch als wir zum Ende gekommen sind, herrscht plötzlich betretenes Schweigen. Keiner hat eine Ahnung davon, wie es nun weitergehen soll.

Ich schaue gerade Mark an, dessen Ähnlichkeit mit seiner Schwester mich sofort wieder an Marie denken lässt, als dieser plötzlich wie vom Blitz getroffen in Richtung Haupteingang des Bahnhofs blickt und im gleichen Moment kreidebleich wird, als ob er einen Geist gesehen hat. Und das scheint er tatsächlich. Denn plötzlich läuft er ohne ein weiteres Wort los, in Richtung der großen, verglasten Front der Empfangshalle, dessen Dach wie die mächtige Frontansicht eines Manta Rochen mit offenem Maul aussieht.

„Mark?“, ruft Rebecca und schaut ebenso verwundert wie Nathaniel und ich hinter ihm her, bevor sie ihm folgt.

„Na Klasse! Rebecca bleib hier!“ Nathaniel sieht mich unschlüssig an. Wir können nicht einfach hinterher, schließlich stehen die beiden Autos nicht gerade verkehrsgerecht am Straßenrand. „Los hinterher mit dir. Ich bleibe bei den Autos.“

Als ich in die Empfangshalle komme, bietet sich mir ein skurriles Bild. Mark steht wie angewurzelt einem halben Meter vor einer Bank unter der zentralen Anzeigentafel auf der eine alte, ungepflegte Frau sitzt. Mark ist immer noch kreidebleich und starrt die Frau mit offenem Mund an. In diesem Moment erhebt sich die Alte und geht einen Schritt auf ihn zu. Es scheint so, als wären sie in einer anderen Welt, denn offenbar nehmen sie Rebecca und mich gar nicht wahr.

„Nun weißte, wer‘s is“, spricht die Alte Mark an und ihre Stimme klingt rau wie raschelnde Blätter im Herbstwind, „Such se an nem Ort wo nie de Sonne scheint unnerm großen U. Ein vergessner Ort und ein Ort des Vergessens. Dort is auch Jessica.“

Die Alte wendet sich ab und verschwindet Richtung Bahnsteige.

„Was war denn das“, will ich von Mark wissen. Erst jetzt merkt er, dass Rebecca und ich neben ihm stehen. Verstört blickt Mark mich an. „Habt ihr sie auch gesehen!“, fragt er noch immer fassungslos. „Sie war also wirklich da?“

„Was? Aber sicher doch. Hast du sie schon zuvor gesehen?“

„Ja gestern am frühen Morgen, als ich aus der Disco kam. Bevor Marie mich fand. Ich war kurz eingenickt, nachdem ich in die S-Bahn gestiegen bin – und plötzlich sitzt diese Alte mir direkt gegenüber und spricht in Rätsel. Ich geriet so in Panik, dass ich an der nächsten Haltestelle aus der Bahn gestürmt und gegen eine Säule geknallt bin.“

„Daher deine Gehirnerschütterung.“, folgert Rebecca.

„Sie spricht immer noch in Rätseln“, warf ich ein und wurde langsam ungehalten, „Oder habt ihr verstanden was sie uns sagen wollte. Wenn sie uns was zu sagen hat, dann soll sie kein Katz-und-Mausspiel mit uns treiben. Vielleicht weiß sie wirklich was von Marie und kann uns sagen wo wir sie finden können. Los kommt!“ Ich laufe los, und hoffe, dass ich diese geheimnisvolle Alte noch wiederfinde. Zum Glück ist es um diese Zeit fast menschenleer im Bochumer Hauptbahnhof. Es sollte ein leichtes sein, sie zu finden. Rebecca und Mark folgen mir, als ich in Richtung Gleise laufe. Doch die alte Frau ist nirgends zu sehen.

„Ob sie zur U-Bahn runter ist“, fragt Rebecca.

„Nein, dann hätte sie an uns vorbeigemusst“, wirft Mark ein, „Sie scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.“

„Sie kann sich nicht einfach in Luft auflösen“, entgegne ich, „Die Alte ist doch kein Geist. Geister gibt es nicht.“

„Bist du dir da sicher“, meint Rebecca und blickt mich angstvoll an. Mein Blick wandert zu Mark, der ebenfalls so aussieht, als würde er an Geister glauben.

„Das bringt uns doch nicht weiter“, ruf ich unwirsch, „Lasst uns lieber versuchen, dieses Rätsel zu lösen. Vielleicht steckt darin wirklich ein Hinweis darauf, wo wir Marie finden können.“

Mark überkommt plötzlich eine Schwindelattacke. Er schwankt und kann sich gerade noch mit seiner rechten Hand an einer Wand abfangen. Es dauert nur Sekunden. So als wäre es gar nicht passiert läuft er im nächsten Augenblick zurück zur Bank auf der die Alte gesessen hatte. Rebecca und ich folgen ihm. Verwundert blicke ich Rebecca an. Mark hebt eine zusammengefaltete Zeitung von der Sitzfläche der Bank auf. Ich frage mich, warum wir die Zeitung nicht schon vorhin wahrgenommen haben, oder lag sie zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht dort. Er faltet sie auf. In der Zeitung liegen drei vergilbte DIN A4 Seiten, eng mit Schreibmaschine beschrieben. Jedoch sind es offensichtlich nur Kopien von den Originalseiten. Ich erhasche einen Blick auf die Überschrift: Tiefstollen-Anlage. Bericht über den derzeitigen Zustand der Anlage und der Eingangsbauwerke.

„Was ist das? Und wo kommen die Seiten so plötzlich her?“ Rebecca starrt ungläubig auf den Bericht, den Mark in seinen zitternden Fingern hält.

„Es scheint so, als ob es unter Dortmund eine riesige Bunkeranlage gibt“, vermutet Mark und überlegt laut weiter, „Ein Ort wo niemals die Sonne scheint. Unter dem großen U. Das U der ehemaligen Unions-Brauerei.“

Ich entdecke plötzlich ein Datum im oberen Teil des Textes der ersten Seite. 1982. „Der Bericht ist über dreißig Jahre alt“, gebe ich zu bedenken. Doch Mark geht gar nicht auf meinen Einwand ein.

„Hier sind die Eingänge beschrieben. Einige sind wohl noch begehbar. Wir sollten nach Dortmund, auf der Stelle“, erklärt er aufgeregt.

„Warum sollten wir Marie in dem Bunker finden“, fragt Rebecca verwundert.

„Das perfekte Versteck…“, sag ich halblaut vor mich hin und mich gruselt es, „… um jemanden für immer verschwinden zu lassen? Nicht umsonst hat Marie versucht zu fliehen.“

„Und Jessica? Was haben die beiden miteinander zu tun. Da blicke ich immer noch nicht durch. Ob sie sich begegnet sind?“

Ich sehe Mark fragen an. Er zuckt mit den Schultern. Und die Alte? Füg ich in Gedanken hinzu? Sie bleibt immer noch ein Rätsel. Aber irgendwie versucht sie uns auf eine bestimmte Spur zu leiten. Doch woher weiß sie so viel über Marie, Mark und Jessica?

Das Mädchen im Regen

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