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WO MACHT HERRSCHT, GIBT ES AUCH WIDERSTAND

MICHEL FOUCAULT (1926–1984)

IM KONTEXT

SCHWERPUNKT

Macht/Widerstand

WICHTIGE DATEN

1848 Marx und Engels beschreiben in Das kommunistische Manifest die Unterdrückung des Proletariats durch die Bourgeoisie.

1883 Friedrich Nietzsche führt in seinem Werk Also sprach Zarathustra den Begriff vom »Willen zur Macht« ein.

1997 Judith Butler entwickelt in Hass spricht. Zur Politik des Performativen Foucaults Gedanken vom »Macht-Wissen« mit Blick auf Zensur und Hassrede weiter.

2000 In Empire: die neue Weltordnung beschreiben der italienische Soziologe Antonio Negri und sein amerikanischer Kollege Michael Hardt die Entwicklung einer »totalen« imperialistischen Macht, gegen die sich nur durch Negation Widerstand leisten lässt.

Die Macht zur Aufrechterhaltung oder Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung wird üblicherweise mit politischen oder ökonomischen Begriffen beschrieben. Bis in die 1960er-Jahre beherrschten zwei Theorien das Verständnis von Macht: als Macht des Staates oder der Regierung über die Bürger oder, marxistisch betrachtet, als Machtkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Beide Theorien untersuchten Macht auf der Makroebene – und ignorierten damit entweder die Machtausübung auf den »unteren« Ebenen gesellschaftlicher Beziehungen oder sahen sie als eine Konsequenz der gesellschaftlichen, »vorrangigen« Machtstruktur an.

Mit Blick auf die liberalen Gesellschaften des Westens konstatierte Michel Foucault hier eine unzulässige Vereinfachung. Macht, so Foucault, wird nicht nur durch den Staat oder durch Kapitalisten ausgeübt – sie zeigt sich auf jeder Ebene der Gesellschaft, ob unter Individuen, in Gruppen und Organisationen oder in der Gesellschaft insgesamt: »Macht ist überall und kommt von überall her.« Desgleichen widersprach er der Ansicht, Macht lasse sich wie eine Waffe besitzen und handhaben. Macht, so Foucault, ist vielmehr die Fähigkeit, sie auszuüben – sie entsteht erst, wenn entsprechend gehandelt wird, ist also etwas, das anderen angetan wird: eine Handlung, die das Handeln anderer beeinflusst.


Machtbeziehungen

Anstatt Macht als eine »Sache« zu betrachten, sieht Foucault in ihr ein »Verhältnis« und erklärt die Natur der Macht, indem er Machtbeziehungen auf allen Ebenen der modernen Gesellschaft untersucht. Macht existiert zwischen einem Menschen und dem Staat, in dem er lebt. Andere Formen der Macht bestehen zwischen ihm und seinem Arbeitgeber, seinen Kindern, der Organisation, zu der er gehört, usw. Foucault erkannte, dass Macht eine wesentliche Gestaltungskraft sozialer Ordnung darstellt, und beschrieb, wie sich die Machtbeziehungen seit dem Mittelalter bis heute verändert hatten. Als »souveräne« Ausübung von Macht bezeichnete er die Methoden, die Autoritäten im Feudalismus dazu benutzten, um ihre Untertanen zum Gehorsam zu zwingen – z. B. Folter und Hinrichtungen. Seit der Aufklärung wurden Zwang und Gewalt in Europa jedoch als unmenschlich und, wichtiger noch, als ineffektive Art der Machtausübung angesehen.

Überwachung und Kontrolle

Brutale körperliche Strafen wurden von allgegenwärtigen Verhaltenskontrollen abgelöst: So entstand Disziplin. Die Errichtung von Gefängnissen, psychiatrischen Anstalten, Krankenhäusern und Schulen etwa kennzeichnete die Entwicklung von der Bestrafung hin zu einer disziplinierenden Ausübung von Macht, um Menschen daran zu hindern, sich in bestimmter Weise zu verhalten. Diese Institutionen verhinderten nicht nur Regelüberschreitungen, sondern wiesen Bedingungen auf, in denen das Verhalten von Menschen reguliert und korrigiert, vor allem aber überwacht und kontrolliert werden konnte.

Überwachung spielt bei der Entwicklung der Machtausübung in der modernen Gesellschaft eine zentrale Rolle. Ein Sinnbild dessen sah Foucault im Panoptikum, des effizient konstruierten Gefängnisses nach Plänen des Briten Jeremy Bentham: mit einem zentralen Wachturm, der die pausenlose Überwachung der Insassen ermöglicht. Die Zellen darin werden von hinten beleuchtet und verhindern so Schatten, in denen man sich vor überwachenden Blicken verstecken könnte. Gefangene können nicht wissen, wann sie beobachtet werden, und lernen so, sich zu verhalten, als würden sie rund um die Uhr überwacht. Hier wird Macht nicht mehr durch Zwang zur Konformität ausgeübt, sondern indem Mechanismen etabliert werden, die für Fügsamkeit sorgen.

Verhaltensregulierung

Die »Technologie der Macht« – Mechanismen der Machtausübung – wurde zum integralen Bestandteil unserer modernen Gesellschaft. Seither werden soziale Normen weniger durch Gewalt als durch »behütende« Machtausübung auf das Verhalten durchgesetzt. Hierbei nehmen die Menschen auf zahlreichen Ebenen an einem komplexen System der Machtausübung teil, das das Verhalten der Mitglieder einer Gesellschaft reguliert.

»»Foucaults Sexualität und Wahrheit … warnt uns vor der Vorstellung einer vollkommenen Freiheit von Macht. Eine totale Befreiung von Macht kann es nicht geben.«

Judith Butler

Diese durchdringende Art von Macht ergibt sich durch die Kontrolle der Gesellschaft über die Haltungen, Glaubenssätze und Praktiken ihrer Mitglieder. Das System all dieser Vorstellungen nennt Foucault den »Diskurs«. Das Glaubenssystem einer Gesellschaft entwickelt sich, indem die Menschen schrittweise bestimmte Ansichten akzeptieren – bis zu dem Punkt, an dem diese Ansichten gesellschaftlich »eingebettet« werden und fortan definieren, was gut und was schlecht, was normal und was anormal ist. Die Mitglieder der Gesellschaft orientieren ihr Verhalten an diesen Normen – und zwar weitgehend unbewusst dessen, dass der Diskurs ihr Verhalten lenkt, indem er sich widersetzende Gedanken und Handlungen unmöglich macht.


Das Panoptikum des Philosophen Jeremy Bentham ist das überwachende Auge Foucaults. Der Rundbau ermöglicht die permanente Sicht auf die Gefangenen, sodass sie sich ihrer Disziplinierung und Kontrolle fügen. Nicht nur Gefängnisse, sagt Foucault, sondern alle hierarchischen Strukturen (z. B. Schulen, Fabriken) entwickelten sich nach diesem Modell.

Diskursive Regime

Als Instrument und zugleich Auswirkung von Macht wird der Diskurs beständig untermauert: Er kontrolliert Gedanken und Verhalten, die wiederum das Glaubenssystem formen. Und weil es definiert, was richtig und was falsch ist, ist das diskursive Regime ein »Wahrheitsregime«, das ein Bündel unbestreitbaren allgemeinen Wissens hervorbringt.

Foucault griff den Gedanken »Wissen ist Macht« auf und prägte für die subtile Beziehung der beiden Aspekte den Begriff »Macht-Wissen«: Wissen erzeugt Macht und wird von Macht erzeugt. Heute findet Machtausübung in Form von Kontrolle darüber statt, welche Wissensformen akzeptiert sind – indem sie als Wahrheiten präsentiert und andere Wissensformen ausgeschlossen werden. Zugleich wird das akzeptierte Wissen, der Diskurs, durch die Ausübung von Macht produziert.

Anders als frühere Machtformen lässt dieses Macht-Wissen keinen unmittelbar Agenten erkennen. Aufgrund seiner alles durchdringenden Natur scheint es nichts zu geben, wogegen man sich wehren könnte. Und in der Tat weist Foucault darauf hin, dass politischer Widerstand – etwa in Gestalt einer Revolution – nur die Macht des Staates, nicht aber die allgegenwärtige, alltägliche Machtausübung träfe. Und doch sieht er die Möglichkeit zum Widerstand – und zwar gegen den Diskurs selbst, durch alternative Diskurse. Macht, die auf Tatbeteiligung basiert, erlaubt den Beteiligten zumindest ein gewisses Maß an Freiheit. Damit der Diskurs als Machtinstrument fungiert, müssen die, die ihm unterliegen, an der Machtbeziehung teilnehmen. Und wo eine Machtbeziehung herrscht, so Foucault weiter, besteht die Möglichkeit zum Widerstand, denn ohne Widerstand besteht keine Notwendigkeit zur Machtausübung.


Ein Schäfer wacht über seine Herde – mit dieser Analogie beschreibt Foucault die »behütende« Macht, die Menschen dazu anleitet, sich in bestimmter Weise zu verhalten und zu gestatten, regiert zu werden.

»Diskurs überträgt und schafft Macht; er bestätigt sie, wie er sie auch untergräbt und aufdeckt.«

Michel Foucault

Der Einsatz von Macht

Foucaults Konzepte des Macht-Wissens und des Diskurses wurden zunächst vielfach als spekulativ und vage abgetan. Später jedoch waren seine Vorlesungen äußerst populär. Und seine Ideen in den Schriften Überwachen und Strafen sowie Sexualität und Wahrheit fanden nicht nur in die Soziologie, sondern auch in die Philosophie und Geschichtswissenschaft Eingang und prägen heute die Analyse dessen mit, wie der gesellschaftliche Diskurs in zahlreichen Arenen als Machtinstrument eingesetzt wird.

Zudem verdanken der Feminismus, die sogenannte Queer-Theorie und die Kulturwissenschaften Foucaults Erläuterungen eine Fülle von Erkenntnissen darüber, wie Verhaltensnormen durchgesetzt werden. Dennoch teilen sich weiterhin die Meinungen zur Frage, ob seine Theorien nur vage Schlussfolgerungen aus mangelhaften Untersuchungen beinhalten oder ob Foucault einer der originellsten und weitreichendsten Denker der Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts war.

Michel Foucault


Der brillante Universalgelehrte – der in Philosophie, Psychologie, Politik und Literaturkritik wie in der Soziologie bleibenden Einfluss hinterließ – wurde (und wird) häufig mit dem französischen Poststrukturalismus in Verbindung gebracht. Geboren wurde Foucault in Poitiers (Frankreich). Er studierte Psychologie und Philosophie an der École Normale Supérieure in Paris und lehrte bis zu seiner Promotion 1959 in Schweden, Polen und Deutschland. 1966–1968 lehrte er in Tunesien, und nach seiner Rückkehr nach Paris leitete er die Universität in Vincennes. Zwei Jahre später wurde er ins Collège de France gewählt und dort Professor für die »Geschichte der Denksysteme«. Foucault wurde eines der ersten berühmten Opfer des HIV-Virus und starb 1984 an AIDS.

Hauptwerke

1969 Archäologie des Wissens

1975 Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses

1976–1984 Sexualität und Wahrheit (3 Bände)

Big Ideas. Das Soziologie-Buch

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