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GESCHLECHT IST EINE ART NACHAHMUNG VON ETWAS, FÜR DAS ES KEIN ORIGINAL GIBT

JUDITH BUTLER (GEB. 1956)

IM KONTEXT

SCHWERPUNKT

Performativität des Geschlechts

WICHTIGE DATEN

1905 Der österreichische Psychoanalytiker Sigmund Freud beschreibt in Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie die Herausbildung der kindlichen Sexualität.

1951 Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan beginnt in Paris, Freuds Idee eines Sexualtriebs weiterzuentwickeln.

Mitte der 1970er-Jahre Michel Foucault spricht in Überwachen und Strafen über regulative Regime und in Sexualität und Wahrheit über Sex, Macht und die gesellschaftliche Konstruktion von Sexualität.

1996 Steven Seidman untersucht in dem Buch Queer Theory/Sociology die soziologischen Implikationen der Entstehung einer »Queer-Theorie«.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Soziologie, sich dem Thema Sexualität und Geschlecht zuzuwenden. Die sogenannte zweite Welle des Feminismus der 1970er- und 1980er-Jahre verbreitete die Erkenntnis der französischen Feministin Simone de Beauvoir, die sie in ihrem Buch Das andere Geschlecht (1949) beschrieb: »Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.« Ihr Grundgedanke – der Unterschied zwischen dem biologisch determinierten (engl. sex) und dem durch soziale Einflüsse erworbenen Geschlecht (engl. gender) – ebnete den Weg für eine Neubewertung der Geschlechterrollen in der Gesellschaft und wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten zur Initialzündung der neuen Frauenbewegung.

Darüber hinaus veränderte sich das Bild der Geschlechterrollen in westlichen Gesellschaften durch Anthropologen wie Margaret Mead. Ihre Untersuchungen von Stämmen im Südpazifik zeigten zahlreiche Verhaltensunterschiede zwischen Männern und Frauen als kulturell erworben (und nicht biologisch festgelegt). Ihre schockierenden Erkenntnisse veröffentlichte sie bereits in den 1930er-Jahren. Doch erst die Nachkriegsgeneration nahm sie vermehrt zur Kenntnis und thematisierte vor ihrem Hintergrund z. B. vorehelichen Sex oder Promiskuität (Sex mit wechselnden Partnern) als gesellschaftlich errichtete Tabus.


Infragestellung von Konventionen

In vorderster Linie beim Angriff gegen sexuelle Konventionen stand Michel Foucault mit seinem Werk Sexualität und Wahrheit (1976). Wie ein roter Faden zog sich seine Theorie über die Art und Weise, in der mit dem Durchsetzen sozialer Normen gesellschaftliche Macht ausgeübt wurde, durch das dreibändige Werk und gipfelte in der Aussage, nicht nur unser soziales Geschlecht (gender), sondern auch unser biologisches (sex) werde durch die Kultur, in der wir leben, geformt. Damit erweiterte er die Debatte entscheidend – etwa um die Frage der sexuellen Orientierung und des sexuellen Verhaltens insgesamt. Die Generation der 1960er-Jahre wuchs in einer Zeit liberalisierter Sexualmoral auf; sie kennzeichnete eine »freie Liebe«, die Akzeptanz (oder zumindest die Entkriminalisierung) der Homosexualität und die sexuelle Befreiung durch die Frauenbewegung.

»Geschlecht ist eine Nachahmung … sich zu vergeschlechtlichen bedeutet die Nachahmung eines Ideals, das niemand vollkommen einnimmt.«

Judith Butler

Geschlechtsidentitäten

Mit der Amerikanerin Judith Butler erfuhr das Thema der Geschlechtsidentitäten eine weitere Öffnung. Ausgehend von de Beauvoirs zentraler These, nach der »Gender« ein soziales Konstrukt ist, kritisiert Butler den herkömmlichen Feminismus dafür, die Implikationen dieses Begriffs nicht weit genug zu fassen und damit männliche und weibliche Stereotypen nur zu bestätigen. Gender, so ihr Argument, ist nicht einfach Männlichkeit oder Weiblichkeit – und Sexualität nicht nur »homo« oder »hetero«. Gender und Sexualität lassen sich weder in dieser Weise polarisieren noch als unveränderbar fixieren, sondern sind fließend und decken ein breites Spektrum an Geschlechtsidentitäten ab. Butlers Kernargument lautet: »Geschlecht ist nicht etwas, das man ist, sondern tut … vielmehr ein ›Handeln‹ als ein ›Sein‹.«


Gay-Pride-Märsche wurden erstmals 1971 in den USA abgehalten: ein Protest gegen die Verfolgung Homosexueller und die Beschränkung der Sexualität auf reine Männlich- bzw. Weiblichkeit.

»… das Gelächter [bricht] aus, sobald man gewahr wird, dass das Original immer schon abgeleitet war.«

Judith Butler

Üblicherweise wird unser anatomisches Geschlecht als Ursache für unser soziales Geschlecht betrachtet. Butler hinterfragt diesen Gedanken einer dauerhaften und kohärenten Geschlechtsidentität. Ihr zufolge sind es die Dinge, die wir tun, unser »Geschlechtsverhalten«, das unser Geschlecht bestimmt – selbst die Art, in der wir unser biologisches Geschlecht wahrnehmen. Wenn wir uns unserem Geschlecht »gemäß« verhalten, ahmen wir Normen nach, nach denen sich die Geschlechter mehrheitlich verhalten. Wir agieren in einer Rolle, die de facto nicht existiert – denn im Kern gibt es keine Originalvorlage für »weiblich« und »männlich«: Das Original selbst ist bereits (aus Normen) abgeleitet. Wenn daher jemand weiblich geboren wird, verhält sie sich in einer Weise, die als »weiblich« gilt (und wünscht sich z. B. einen männlichen Partner), und akzeptiert so die Tatsache, dass Sex mit Männern zu ihrem Geschlecht dazugehört. Dieses Geschlechtsverhalten, so Butler, beinhaltet eine spezifische Sexualität und die Wahl eines Sexualpartners ebenso wie Kleidung, Gesten und alle Arten alltäglicher Verrichtungen – bis hin zur Sprache, die wir benutzen und die die sozialen Normen bestätigt und mit dafür sorgt, wie wir uns verhalten.

Subversives Handeln

Entscheidend, so Butler, ist die konstante Wiederholung dieses Verhaltensvollzugs – die Performanz, die zur Bildung einer Geschlechtsidentität führt, und die » die Akteure selbst beginnen zu glauben und sich entsprechend verhalten«. Um solcher sexuellen Typisierung zu entkommen, fordert Butler zur Subversion auf – dazu, sich bewusst den Normen zu widersetzen und sich den konventionellen Geschlechterrollen konträr zu verhalten, z. B. durch »Cross-dressing« (das Tragen von Kleidung des anderen Geschlechts). Durch diese »Geschlechtsperformanz« lassen sich Normen und Selbstwahrnehmung durchbrechen und auf Dauer sogar das (biologische) Geschlecht ändern. Butler sieht darin keineswegs die triviale Wahl zwischen Lebensstilen – wir können nicht einfach entscheiden, welches Geschlecht wir heute mal leben wollen. Es ist, bei konstanter Wiederholung und regelmäßiger Performanz, ein Akt der Subversion. So können sexuelle Normen, die die Gesellschaft uns auferlegt, »aufgestört« und als künstlich entlarvt werden – nur so kann das Recht auf Gleichwertigkeit aller Arten von Geschlechtsidentität (heterosexuell, lesbisch, schwul, bi-, transsexuell usw.) gesellschaftlich durchgesetzt werden.


Geschlechtsidentität ist nach Butler nicht ein Teil des Wesens einer Person, sondern ein Produkt des Handelns und Verhaltens. Es ist die Performanz (das wiederholte Ausagieren) dieser Handlungen und Verhaltensweisen – in Kombination mit den Tabus in einer Gesellschaft –, die das erzeugt, was als männlich oder weiblich wahrgenommen wird.

Kontroverse und Veränderung

Butlers Ausweitung des Themas wurde seit den 1990er-Jahren zum Meilenstein auf dem Weg zur sogenannten Queer-Theorie. Mit ihren Ideen zeigt sie die gesellschaftliche Bedingtheit unserer Wahrnehmung von Sexualität und Geschlecht. Ihren Theorien liegt das Foucaultsche Verständnis von Macht und ihrer vielschichtigen gesellschaftlichen Ausübung zugrunde. Und nicht allein unsere Geschlechtsidentität wird durch wiederholte und dauerhafte Performanz bestimmter Verhaltensweisen geformt – auch unsere politischen und gesellschaftlichen Perspektiven. In diesem Sinne, so Butler, lassen sich auch andere Aspekte unseres Lebens verändern, wenn wir uns bewusst normenkonträr verhalten.

»›Drag‹ ist in dem Maße subversiv, als es die Nachahmungsstruktur reflektiert, mit der … das Geschlecht produziert wird und den Anspruch der Heterosexualität, Natur zu sein, infrage stellt.«

Judith Butler


Priscilla – Königin der Wüste ist ein Kultfilm von 1994 über zwei »Drag Queens« und einen Transsexuellen. Manche sahen darin die Reproduktion von Stereotypen, andere ein Plädoyer für LSBT-Fragen (Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender).

Butlers Ideen erfuhren erhebliche Kritik – nicht zuletzt von feministischer Seite. Man warf ihr vor, sie unterstelle all denen, die die sexuellen Normen der Gesellschaft erfüllten und nachahmten, mangelnde Freiwilligkeit. Und wie vielen postmodernen Theoretikern warf man auch ihr vor, ihr in sich geschlossenes Theoriegebäude verberge im Grunde nur ein paar simple Ideen. Insgesamt findet sie jedoch mehr Anhänger als Gegner – und das soziologische Forschungsfeld zu Geschlecht und Sexualität hat durch ihre Thesen entscheidende Öffnungen erfahren. Ob zufällig zeitgleich oder als Resultat ihrer Arbeit zeigen westliche Länder heute eine weitgehend liberalisierte Haltung zu verschiedenen Ausdrucksformen von Sexualität – bis dahin, dass gleichgeschlechtliche Paare und LSBT-Themen allgemein akzeptiert sind und mancherorts kaum noch Kontroversen auslösen. Dort aber, wo kulturelle Moralvorstellungen weiterhin restriktiv sind und Regime andere als heterosexuelle Lebensformen grimmig verfolgen, sind die Auswirkungen nicht konformen Sexualverhaltens umso größer und demonstrieren unverkennbar subversiven Charakter.

Judith Butler


Judith Butler gehört seit den 1990er-Jahren zu den einflussreichsten Stimmen im Bereich feministischer und LSBT-Themen und ist eine prominente Aktivistin gegen Krieg und Rassismus. Sie stammt aus einem russisch-ungarisch-jüdischen Elternhaus, studierte an der Yale University (USA) und promovierte dort 1984. Nach Lehrtätigkeit an diversen Universitäten ging sie 1993 an die University of California in Berkeley, wo sie 1998 Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft und Rhetorik wurde. Sie sitzt im Vorstand der Internationalen Kommission für die Menschenrechte von Schwulen und Lesben und erhielt 2012 in Frankfurt/M. den Theodor-W.-Adorno-Preis. Butler lebt in Kalifornien, zusammen mit ihrer Partnerin Wendy Brown.

Hauptwerke

1990 Das Unbehagen der Geschlechter

1993 Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts

2004 Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen

Big Ideas. Das Soziologie-Buch

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