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SCHENKE DEN ALLTÄGLICHSTEN VERRICHTUNGEN DIESELBE AUFMERKSAMKEIT WIE SELTENEN EREIGNISSEN

HAROLD GARFINKEL (1917–2011)

IM KONTEXT

SCHWERPUNKT

Ethnomethodologie

WICHTIGE DATEN

1895 Émile Durkheim befürwortet in seiner Schrift Die Regeln der soziologischen Methode eine strikt naturwissenschaftliche Methode für die Sozialwissenschaften.

1921/22 Max Webers methodologischer Individualismus wird in seinem posthum veröffentlichten Werk Wirtschaft und Gesellschaft erläutert.

1937 Talcott Parsons formuliert in The Structure of Social Action eine kohärente Gesellschaftstheorie.

1967 Harold Garfinkel veröffentlicht seine Studies in Ethnomethodology.

1976 Anthony Giddens baut in seinem Buch Interpretative Soziologie Ideen aus Garfinkels Ethnomethodologie in seine Darstellung der Soziologie mit ein.

In den 1930er-Jahren startete der US-Soziologe Talcott Parsons ein Projekt, in dem er die verschiedenen Strömungen innerhalb der Soziologie in einer einzigen, kohärenten Theorie zusammenführen wollte. Sein Buch The Structure of Social Action (1937) vereint Ideen von Max Weber, Émile Durkheim und anderen und stellt den Versuch einer universalen Methodologie der Soziologie dar.

Einer seiner zahlreichen Anhänger wurde sein Student Harold Garfinkel. Dieser interessierte sich indes weniger für die »große Theorie« seines Meisters als vielmehr für dessen Idee, die Wurzeln der Gesellschaftsordnung (statt ihre Veränderung) zu untersuchen, und dabei auch für seine Forschungsmethoden.


Das Funktionieren der Gesellschaft

Bei der Analyse der Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung hatte Parsons eine methodische Herangehensweise »von unten nach oben«, statt umgekehrt, vorgeschlagen: Untersucht werden sollten also die Mikrobeziehungen und -interaktionen (und weniger die Strukturen und Institutionen).

Diese Vorgehensweise stellte die üblichen soziologischen Methoden auf den Kopf: Bis dahin dachte man, das Verhalten der Menschen lasse sich vorhersagen, indem man die zugrundeliegenden gesellschaftlichen »Regeln« ausfindig machte.

Garfinkel nahm die Idee auf und entwickelte daraus eine Alternative zur herkömmlichen Methode der Soziologie, die er fortan »Ethnomethodologie« nannte: Die einer sozialen Ordnung zugrundeliegenden Regeln entstehen aus der Art und Weise, in der sich die Menschen in verschiedenen Situationen verhalten. Durch die Beobachtung des Alltagsverhaltens erlangen wir daher Einsichten in die Mechanismen der sozialen Ordnung.

Neue Perspektiven

Weithin bekannt wurde Garfinkels Methode des »Krisenexperiments«. Darin deckte er allgemein erwartete, doch nur selten wahrgenommene soziale Normen auf. So bat er z. B. seine Studenten, ihre Eltern formell mit »Herr X« und «Frau Y« anzusprechen – dies erzeugte oftmals Verzweiflung oder Zorn, da hiermit die Grundlagen der sozialen Ordnung erschüttert wurden.

»Verfahrenstechnisch ziehe ich es vor, bei vertrauten Szenen zu beginnen und zu fragen, wie Störungen ausgelöst werden können.«

Harold Garfinkel

Garfinkel wies mit seiner Ethnomethodologie zudem auf einen Zirkelschluss in der herkömmlichen Soziologie hin: Sozialforscher rechtfertigten ihre Theorien mit Belegen aus bestimmten Experimenten und benutzten gleichzeitig diese Theorien, um ihre Beispiele zu erläutern. Stattdessen sollten sie unabhängig einzelne soziale Interaktionen untersuchen – und nicht nach allgemeinen Mustern oder Theorien suchen. Als Beispiel nannte Garfinkel etwas, das wir alle kennen: das Schlangestehen. Jede soziale Situation kann, so Garfinkel, »als Akt der Selbstorganisation [ihrer Teilnehmer] hinsichtlich ihres allgemeinverständlichen Charakters seines Auftretens entweder als Darstellung oder als Ausdruck einer sozialen Ordnung verstanden werden«.

Garfinkel veröffentlichte seine Ethnomethodologie 1967 – in einer Zeit also, in der alternative Ideen populär wurden – und er gewann, trotz seines nicht immer leicht verständlichen Darstellungsstils, zahlreiche Anhänger. Heute sind seine Ideen auch innerhalb der Soziologie weitgehend akzeptiert – vielleicht nicht so sehr als Alternative zur soziologischen Methodologie, aber doch als Herangehensweise, die zusätzliche Perspektiven bei der Betrachtung der sozialen Ordnung eröffnet.


Eine ordentliche Schlange ist eine kollektiv ausgehandelte, von den Mitgliedern geschaffene Organisationsform, die auf unausgesprochenen Regeln sozialer Interaktion im öffentlichen Raum beruht.

Harold Garfinkel

Harold Garfinkel wurde in Newark/New Jersey (USA) geboren, studierte dort Wirtschaft und Buchhaltung und ging später an die University of North Carolina. Zu dieser Zeit begann er zu schreiben; eine seiner Kurzgeschichten (»Colour Trouble«) wurde in die Anthologie The Best Short Stories, 1941 aufgenommen.

Nach dem Armeedienst in einer nicht kämpfenden Einheit während des Zweiten Weltkriegs studierte er bei Talcott Parsons an der Harvard University und promovierte dort. Später lehrte er in Princeton, an der Ohio State University und schließlich, ab 1954, an der University of California. Garfinkel emeritierte 1987, lehrte aber weiterhin und starb 2011.

Hauptwerke

1967 Studies in Ethnomethodology

2002 Ethnomethodology’s Program

2008 Toward a Sociological Theory of Information

Big Ideas. Das Soziologie-Buch

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