Читать книгу Big Ideas. Das Soziologie-Buch - Маркус Уикс - Страница 20
ОглавлениеVIELE PERSÖNLICHE PROBLEME MÜSSEN IM SINNE ÖFFENTLICHER BELANGE VERSTANDEN WERDEN
CHARLES WRIGHT MILLS (1916–1962)
IM KONTEXT
SCHWERPUNKT
Die soziologische Denkweise
WICHTIGE DATEN
1848 Marx und Engels beschreiben in Das kommunistische Manifest den historischen Fortschritt als Klassenkampf sowie den Konflikt zwischen Bourgeoisie und Proletariat.
1899 Thorstein Veblen sagt in Theorie der feinen Leute, dass die Oberklasse auf Kosten des Fortschritts oder der sozialen Wohlfahrt nach Profit strebt.
1904/05 Max Weber beschreibt in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus eine vielschichtige Gesellschaft infolge von ökonomischer und politischer Macht sowie gesellschaftlichem Ansehen.
1975 Michel Foucault untersucht in Überwachen und Strafen Macht und Widerstand.
Im Kalten Krieg – v. a. während der McCarthy-Ära und ihrer antikommunistischen Hetzjagd – nahmen nur wenige Soziologen in den USA öffentlich einen sozialistischen Standpunkt ein. C. Wright Mills indes schwamm von Anfang an gegen den Strom. In seinen einflussreichsten Büchern kritisierte er die militärische und wirtschaftliche Machtelite seiner Zeit.
Zur Zeit der »Roten Angst« der 1940er- und 1950er-Jahre riskierte er nicht nur den Konflikt mit dem Staat, sondern auch mit etablierten Soziologen. Er war jedoch kein Apologet des Marxismus und legte eine Kritik an den Auswirkungen der Moderne vor, in der er die Selbstzufriedenheit der Intellektuellen seiner Zeit anprangerte. Sie hatten, so Mills, die Unterdrückung der »Massengesellschaft« zugelassen.
Mills war ein brillanter und kompromissloser Soziologiestudent, der das Werk Max Webers bewunderte und dessen Ideen zur Rationalisierung das eigene zentrale Thema stark beeinflussten.
Entmenschlichte Gesellschaft
Weber sah die moderne Gesellschaft als Resultat eines entmenschlichenden Prozesses, der traditionelle Werte und Bräuche durch eine zweckrationale Entscheidungspraxis ersetzte und nicht nur die Kultur, sondern auch die Struktur der Gesellschaft betraf. Von ihm übernahm C. Wright Mills auch den Begriff »Schicht« (statt des Marxschen Zwei-Klassen-Modells), der neben ökonomischer auch die politische Macht sowie den sozialen Status miteinbezog. Mills sah in Webers Theorien einen weit radikaleren Ansatz, als dies bisher verstanden wurde, und startete eine eigene Untersuchung zu den Auswirkungen der Rationalisierung in der westlichen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts.
Dabei legte er sein Augenmerk zunächst auf die Arbeiterschicht in den USA und kritisierte allen voran die Gewerkschaften dafür, dass sie mit den Kapitalisten zusammenarbeiteten und so die Unterdrückung der Arbeiter weiter möglich machten. Sein Angriff auf den Kapitalismus war indes kein marxistischer; denn Mills zufolge hatte sich Marx nicht genügend mit den sozialen und kulturellen Themen befasst, die mit der Herrschaft der gewerblichen Wirtschaft einhergingen.
Als Nächstes untersuchte er das offensichtlichste Produkt der Rationalisierung: die bürokratische Mittelschicht. Mills zufolge hatte sich die amerikanische Mittelschicht Mitte des 20. Jahrhunderts vom Produktionsprozess entfremdet, von traditionellen Werten wie Stolz und fachliches Können verabschiedet und aufgrund immer mehr um sich greifender Rationalisierung entmenschlicht. Ihre Angehörigen waren »fröhliche Roboter«, die sich an materiellen Dingen ergötzten, intellektuell, politisch und sozial jedoch apathisch und ohne jegliche Kontrolle über ihre eigenen Umstände waren.
Das Versagen der Arbeiterschicht und die Unfähigkeit der Mittelschicht, die Kontrolle zu übernehmen, erlaubten einer Machtelite (»power elite«) die Gestaltung der Gesellschaft. Diese war, wie Mills betonte, keine rein wirtschaftliche Elite, sondern schloss militärische, politische und Gewerkschaftsführer mit ein: Der militärisch-industrielle Komplex markierte einen Wendepunkt in der Entwicklung der modernen Gesellschaft hin zu dem, was Mills die »vierte Epoche« nannte – in der die Rationalisierung, die Freiheit und sozialen Fortschritt hatte bringen sollen, mehr und mehr gegenteilige Auswirkungen zeigte.
»Jeder sei sein eigener Methodologe und jeder sein eigener Theoretiker.«
C. Wright Mills
Dies war nicht allein ein Problem liberaler Demokratien, die sich zunehmend außerstande sehen könnten, gesellschaftliche Veränderungen zu kontrollieren, sondern auch der kommunistischen Staaten, in denen sich der Marxismus als gleichermaßen kontrollunfähig gezeigt hatte. Als Kern des Problems sah Mills die Tatsache, dass die Menschen in der Massengesellschaft sich nicht im Klaren darüber waren, wie weitgehend ihr Leben durch die Konzentration der politischen und gesellschaftlichen Macht beeinflusst wurde. Sie führten ihr Leben, ohne zu begreifen, wie die Dinge, die ihnen zustießen, in einen größeren Gesellschaftszusammenhang gehörten. Jede individuelle Sorge – ob Schulden, Arbeits- oder Obdachlosigkeit usw. – wurde als persönliches Schicksal und nicht im Kontext historischgesellschaftlicher Veränderungen gesehen. Wie Mills sagt: »Sie besitzen nicht diejenige Geistesverfassung, die wesentlich wäre, um das Ineinanderspiel von Mensch und Gesellschaft, von Biografie und Geschichte, des Selbst und der Welt zu erfassen.« Eben diese Fähigkeit bezeichnete er als »das soziologische Denkvermögen«.
»Weder das Leben der Einzelnen noch die Geschichte einer Gesellschaft können verstanden werden, wenn man beides nicht zusammen sieht.«
C. Wright Mills
Der Kollaps der Autoindustrie in Detroit (USA) führte zum ökonomischen Niedergang der Stadt. Viele Arbeiter sahen jedoch nicht den Zusammenhang zwischen ihrer Armut und der Machtelite (darunter auch Gewerkschaftsführer).
Das Fehlen einer solchen soziologischen Denkweise hatte demnach zur Herausbildung der Machtelite beigetragen. In seinem Buch Kritik der soziologischen Denkweise (1959) wendet sich C. Wright Mills daher eingehend der Soziologie und den Sozialwissenschaften zu. Da es dem normalen Menschen schwerfällt, die eigenen Sorgen im Kontext öffentlicher Belange zu sehen, liegt es an den Soziologen, darüber aufzuklären und die notwendigen Kenntnisse und Informationen zu verbreiten.
Was sollte sein?
C. Wright Mills stand der akademischen Soziologie seiner Zeit äußerst kritisch gegenüber, hatte sie sich doch in seinen Augen weit von der Alltagserfahrung entfernt und beschäftigte sich zu viel mit der »großen Theorie«. Erkenntnis sollte aber der Praxis dienen. Mills sah die Soziologen in der moralischen Pflicht, bei der Veränderung der Gesellschaft eine Führungsrolle einzunehmen, und die Intellektuellen sollten endlich ihren Elfenbeinturm verlassen und die Menschen mit dem ausstatten, was für eine Gesellschaftsveränderung und für die Umgestaltung des individuellen Lebens zum Besseren hin notwendig war – indem sie zum öffentlichen Engagement in politischen und sozialen Fragen ermutigten.
Im Kern stellte sein Angriff auf die etablierten Vertreter der Soziologie das Selbstverständnis der Wissenschaft infrage. Zu seiner Zeit waren Sozialwissenschaftler äußerst bedacht darauf, soziale, politische und ökonomische Systeme objektiv zu beschreiben und zu analysieren. Mills aber forderte sie auf, sich damit auseinanderzusetzen, in welcher Weise die Rationalisierung und die gesellschaftliche Kontrolle durch eine Elite die Menschen auch auf individueller Ebene betraf. Die Anwendung der soziologischen Denkweise beinhaltete zudem den Abschied von objektiven Untersuchungen dessen, »was ist«, und die Hinwendung zur Frage, »was sein sollte«. In diesem Kontext befürwortete Mills die Übergabe der Macht an eine intellektuelle Elite.
Ein Pioniergeist
C. Wright Mills’ Kritik an der herrschenden Soziologie sowie seine Interpretation des veränderten Charakters des Klassenkampfes wurden unter Fachleuten weithin abgelehnt. Gleichzeitig wurden seine Bücher und Aufsätze von einer breiten Öffentlichkeit gelesen und wirkten somit außerhalb des sozialwissenschaftlichen Establishments. Philosophen und politische Aktivisten nach der McCarthy-Ära fühlten sich v. a. von seiner Beschreibung des militärisch-industriellen Komplexes angezogen. Viele seiner Ideen fanden in den sozialen Bewegungen der US-amerikanischen Neuen Linken – ein Begriff, den Mills 1960 in seinem »Brief an die Neue Linke« mit prägte – ihren Widerhall.
Arbeitslosigkeit kann dazu führen, dass Menschen sich selbst die Schuld für ihre Situation geben. Doch eine soziologische Denkweise, so Mills, kann helfen, den größeren Zusammenhang zwischen Ursachen und Auswirkungen zu erkennen.
In den 1960er-Jahren machte der Soziologe Herbert Marcuse die Ansichten der Neuen Linken auch in Deutschland bekannt. Mills’ früher Tod 1962 verhinderte, dass er die Aufnahme seiner Ideen in Europa erleben konnte – etwa unter den neuen sozialistischen Intellektuellen, insbesondere in Frankreich. Michel Foucaults Begriff der Macht z. B. erinnert in vielfacher Hinsicht an C. Wright Mills’ Überlegungen.
Heute wächst angesichts des sogenannten Krieges gegen den Terror und der verheerenden Folgen der Finanzkrise zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Erkenntnis, dass vieles in unserem alltäglichen Leben von größeren gesellschaftlichen und historischen Zusammenhängen bestimmt wird. Peter Dreier, ein US-amerikanischer Berater für Städtebaupolitik, meinte 2012, C. Wright Mills hätte gewiss die Occupy-Wall-Street-Bewegung gegen soziale und ökonomische Ungerechtigkeit geliebt. In dieser Bewegung einfacher Menschen gegen eine Machtelite und deren, wie sie sagen, Kontrolle der Gesellschaft bis in die Privatsphären hinein zeigt sich die soziologische Denkweise in einer Kampagne für soziale Veränderung.
Charles Wright Mills
Leidenschaftlich unabhängig und kritisch, wie er war, schrieb C. Wright Mills seine ungewöhnlichen Haltungen einer einsamen Kindheit zu, da seine Eltern mehrfach den Wohnort wechselten. Geboren in Waco/Texas, studierte er zunächst an der Texas A&M University, verließ die erstickende Atmosphäre dort aber schon nach einem Jahr, ging nach Austin/Texas und studierte dort Soziologie und anschließend Philosophie. Der talentierte, aber schwierige Mills setzte seine Studien an der University of Wisconsin fort, wo er mit seinen Professoren stritt und sich weigerte, Änderungen an seiner Doktorarbeit vorzunehmen. 1942 wurde er promoviert – da unterrichtete er bereits an der University of Maryland und schrieb zusammen mit Hans Gerth (einem seiner Doktorväter) From Max Weber: Essays in Sociology. 1945 ging er schließlich mithilfe eines Guggenheim-Stipendiums an die Columbia University.
Obwohl er wegen seiner rückhaltlosen Kritik an den Wortführern der Sozialwissenschaften nie zum »Mainstream« gehörte, war das öffentliche Interesse an seinen Thesen beträchtlich. Als er 1962 nach einem weiteren Herzinfarkt starb, endete seine Karriere mit nur 45 Jahren allzu abrupt.
Hauptwerke
1948 The New Men of Power: America’s Labour Leaders
1956 Die amerikanische Elite
1959 Kritik der soziologischen Denkweise