Читать книгу Big Ideas. Das Soziologie-Buch - Маркус Уикс - Страница 11
ОглавлениеWIE DER MENSCHLICHE KÖRPER BESTEHT AUCH DIE GESELLSCHAFT AUS UNTEREINANDER VERBUNDENEN TEILEN, BEDÜRFNISSEN UND FUNKTIONEN
ÉMILE DURKHEIM (1858–1917)
IM KONTEXT
SCHWERPUNKT
Funktionalismus
WICHTIGE DATEN
1830–1842 Auguste Comte befürwortet in Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug eine wissenschaftliche Untersuchung der Gesellschaft.
1874–1877 Herbert Spencer spricht im ersten Band seines Werks Die Prinzipien der Soziologie von der Gesellschaft als »sozialem Organismus«.
1937 In The Structure of Social Action greift Talcott Parsons in seiner Aktionstheorie den funktionalistischen Ansatz auf.
1949 Robert K. Merton nimmt in Social Theory and Social Structure Durkheims Anatomiegedanken auf, um gesellschaftliche Störungen zu untersuchen.
1976 Anthony Giddens bietet in Interpretative Soziologie eine Alternative zum strukturalen Funktionalismus.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Soziologie nur schrittweise als eigenständige sozialwissenschaftliche Disziplin neben der Philosophie anerkannt. Um als neues Forschungsfeld zu gelten, musste sie wissenschaftliche Maßstäbe einführen. Unter den Philosophiestudenten, die sich zu dem neuen Wissensgebiet hingezogen fühlten, war auch Émile Durkheim. Ihm zufolge hatte die Soziologie nicht nur das Zeug zu einer großen Theorie, sondern auch zu einer Methode, die dazu beitragen konnte, die Entwicklung der modernen Gesellschaft besser zu verstehen. Durkheim versuchte keineswegs als Erster, das Fach als anerkannte Wissenschaft zu etablieren; in seine Ideen flossen Werke früherer Denker mit ein. Gleichwohl gilt er, zusammen mit Karl Marx und Max Weber, als »Gründervater« der neuen wissenschaftlichen Disziplin.
Erfindung eines wissenschaftlichen Modells
Auguste Comte legte mit seiner Theorie, das Studium der menschlichen Gesellschaft stehe an der Spitze der Naturwissenschaften, das Fundament. Und da die Gesellschaft aus einem Kollektiv menschlicher Tiere besteht, lieferte die Biologie das Modell für die Sozialwissenschaften. Doch nicht jeder stimmte dem zu: Karl Marx etwa legte seinen soziologischen Ideen die neu entwickelte Ökonomie zugrunde. Und dann führte Charles Darwin mit seiner Theorie von der Entstehung der Arten zu einem radikalen Umdenken – vor allem in Großbritannien: Hier fand sein Modell der organischen Evolution in vielen Wissenschaftsdisziplinen Anwendung.
Einer, der sich von Darwin inspirieren ließ, war Herbert Spencer, ein Philosoph und Biologe, der die Entwicklung der modernen Gesellschaft mit der eines Organismus verglich: In beiden dienten verschiedene Teile verschiedenen Funktionen. Spencer führte die Idee eines »organischen« Modells für die Sozialwissenschaften ein.
Durkheim übernahm diesen funktionalen Gedanken sowie das Verständnis, nach dem die Gesellschaft mehr war als die Summe ihrer Individuen. Zudem half ihm Auguste Comtes »Positivismus« bei der Formulierung einer wissenschaftlichen Methode, die das Funktionieren der modernen Gesellschaft beleuchten sollte.
Durkheim konzentrierte sich auf die Gesellschaft insgesamt und ihre Institutionen (und weniger auf die Motivationen und Handlungsweisen ihrer Mitglieder). Vor allem interessierten ihn die Dinge, die die Gesellschaft zusammen- und ihre Ordnung aufrechterhielten. Ihm zufolge bestand die Grundlage soziologischer Studien aus »sozialen Fakten«, also »äußerlichen Tatbeständen des einzelnen Individuums«, die sich empirisch feststellen ließen.
»Ist es unsere Pflicht, ein vollendetes und ganzes Wesen werden zu wollen, ein Ganzes, das sich selbst genügt, oder im Gegenteil dazu nur Teil eines Ganzen zu sein, Organ eines Organismus?«
Émile Durkheim
In Religionen – insbesondere in so alten wie dem Judentum – sah Durkheim grundlegende gesellschaftliche Institutionen, die den Menschen ein starkes kollektives Bewusstsein verliehen.
Wie andere Pioniere der Soziologie versuchte auch Durkheim, die Kräfte, die die »Moderne« ausmachten, zu verstehen und zu erklären. Doch während Marx ihre Ursachen im Kapitalismus und Weber in der Rationalisierung sahen, verband Durkheim die Entwicklung der modernen Gesellschaft mit der Industrialisierung und insbesondere mit der durch sie in Gang gesetzten Arbeitsteilung.
Ein funktionaler Organismus
Was die moderne von der traditionellen Gesellschaft unterschied, war nach Durkheim eine völlig andere Art des sozialen Zusammenhalts: Die Industrialisierung brachte eine neue Form von Solidarität hervor. In seiner Dissertation mit dem Titel Über soziale Arbeitsteilung skizzierte er die verschiedenen Arten gesellschaftlicher Solidarität:
In primitiven Gesellschaften (z. B. der Jäger und Sammler) verrichten alle Individuen mehr oder weniger dieselben Arbeiten. Und obwohl jeder autark wirtschaften kann, wird die Gesellschaft durch den gemeinschaftlichen Zweck, gemeinsame Werte und die kollektive Erfahrung zusammengehalten. Die Ähnlichkeit der Individuen macht das aus, was Durkheim das »kollektive Bewusstsein« als Basis für die Solidarität dieser Gesellschaft bezeichnet.
Mit wachsender Komplexität der Gesellschaft entwickeln die Menschen zunehmend spezialisierte Fähigkeiten – und an die Stelle bisheriger Eigenständigkeit tritt gegenseitige Abhängigkeit. So benötigt der Bauer nun den Schmied für die Hufeisen seines Pferdes – und der Schmied den Bauern als Lieferanten seiner Lebensmittel. Die »mechanische« Solidarität traditioneller Gesellschaften wird durch eine, wie Durkheim sie nennt, »organische« Solidarität ersetzt, die auf den ergänzenden Unterschieden (bei gleichzeitig gegenseitiger Abhängigkeit) der Individuen basiert.
Diese Form der Arbeitsteilung erreicht mit der Industrialisierung ihren Höhepunkt: Aus der Gesellschaft wird ein komplexer »Organismus«, in dem die individuellen Elemente spezialisierte, zum Wohl des Ganzen gleichermaßen notwendige Funktionen ausüben. Dieser Gedanke – nach dem die Gesellschaft wie ein biologischer Organismus aus verschiedenen Teilen mit jeweils bestimmten Aufgaben funktioniert – wurde in der Soziologie als Funktionalismus bekannt.
Als »soziales Faktum« (damit bezeichnet Durkheim einen vom Willen des Individuums unabhängigen Tatbestand), das bei der Entwicklung von der mechanischen hin zur organischen Solidarität am Werk ist, identifiziert Durkheim das Wachstum und die Konzentration der Bevölkerung: Der Wettlauf um Ressourcen wird immer intensiver. Gleichzeitig steigen mit zunehmender Bevölkerungsdichte die Möglichkeiten für soziale Interaktionen und setzen bei Bedarf eine Arbeitsteilung zwecks Effizienzsteigerung in Gang.
In der modernen Gesellschaft stellt die gegenseitige Anhängigkeit der Individuen die Basis für den Zusammenhalt dar. Aber Durkheim stellt auch fest, dass mit der Arbeitsteilung infolge rapider Industrialisierung soziale Probleme entstehen. Gerade weil die organische Solidarität auf den Unterschieden zwischen den Menschen beruht, verlagert sie sich von der Gemeinschaft hin zum Individuum. Sie verdrängt dabei das kollektive Bewusstsein der von allen geteilten Werte und somit den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft. Ohne diese Verhaltensnormen aber wird die Gesellschaft instabil, die Individuen orientierungslos. Organische Solidarität kann nur wirksam werden, wenn eine Gesellschaft ein Mindestmaß an mechanischer Solidarität beibehält und ihre Mitglieder ein gemeinschaftliches Selbstverständnis teilen.
Die Arbeitsteilung fleißiger Insekten erzeugt im Bienenstock nicht nur ein funktionierendes Ganzes. Die Bienen halten auch eine symbiotische Beziehung zu ihrer Umgebung aufrecht.
Die rasante Industrialisierung, so Durkheim, erzwang eine ebenso rasante Arbeitsteilung, sodass sich die soziale Interaktion in der modernen Gesellschaft nicht in ausreichendem Maße ausbilden konnte, um den Niedergang des kollektiven Bewusstseins auszugleichen. Die Individuen verloren zunehmend den sozialen Zusammenhalt, insbesondere die vormals durch die mechanische Solidarität bereitgestellte moralische Orientierung (z. B. durch die Religion). Für dieses Defizit prägte Durkheim den Begriff der »Anomie« und beschrieb damit den Verlust kollektiver Maßstäbe und Werte und die daraus folgende Schwächung der individuellen Moral. In einer soziologischen Studie über Grundtypen des Selbstmords zeigte er die große Bedeutung der Anomie bei der Verzweiflung auf, die Menschen zur Selbsttötung treiben konnte. Seine Untersuchungsergebnisse zeigten, dass in Gemeinschaften mit starken kollektiven Werten – wie seinerzeit die Katholiken – die Selbstmordrate niedriger war als anderswo. Durkheim fand darin den Wert der Solidarität für die Gesundheit einer Gesellschaft bestätigt.
»… die Gesellschaft [ist] nicht bloß eine Summe von Individuen, sondern das durch ihre Verbindung gebildete System stellt eine spezifische Realität dar, die einen eigenen Charakter hat.«
Émile Durkheim
Eine akademische Disziplin
Durkheim entwickelte seine Ideen auf der Basis stringenter Untersuchungen und empirischer Ergebnisse, z. B. aus Fallstudien und Statistiken. Sein Hauptverdienst ist es, die Soziologie als akademische Disziplin begründet zu haben. Sein positivistischer Ansatz indes trug ihm manche Skepsis ein. Marx etwa (ebenso wie spätere Marxisten) lehnte die Idee ab, die komplexe und unvorhersehbare menschliche Gesellschaft könne durch naturwissenschaftliche Methoden erfasst werden. Gleichwohl verhalf Durkheims Gesellschaftsanalyse dem Funktionalismus innerhalb der Soziologie zu großer Bedeutung und beeinflusste v. a. Talcott Parsons und Robert K. Merton. Seine Erläuterungen zur Solidarität boten eine Alternative zu den Theorien von Marx und Weber. Und obwohl Durkheims Positivismus keinen Anklang mehr findet, spielen von ihm eingeführte Konzepte wie die der Anomie und des kollektiven Bewusstseins bis heute (unter dem Deckmantel der »Kultur«) in der Soziologie eine Rolle.
Émile Durkheim
Durkheim wuchs in der lothringischen Stadt Épinal in einer französischen Rabbinerfamilie auf. Er brach mit der religiösen Familientradition und studierte an der École Normale Supérieure in Paris. Nach seinem Abschluss 1882 in Philosophie interessierte er sich für Gesellschaftswissenschaften, nachdem er Auguste Comte und Herbert Spencer gelesen hatte. Zum Studium der Soziologie ging er nach Deutschland und lehrte ab 1887 in Bordeaux am ersten Fachbereich für Soziologie einer französischen Universität. 1902 ging er an die Pariser Sorbonne und wurde vier Jahre später dort Professor. Mit dem Ansteigen rechtsgerichteter und nationalistischer Politik während des Ersten Weltkriegs sah er sich mehr und mehr marginalisiert. 1917 starb Durkheim an einem Schlaganfall, nachdem sein Sohn André ein Jahr zuvor an der Front gefallen war.
Hauptwerke
1893 Über soziale Arbeitsteilung
1895 Die Regeln der soziologischen Methode
1897 Der Selbstmord