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GEMEINSCHAFT UND GESELLSCHAFT

FERDINAND TÖNNIES (1855–1936)

IM KONTEXT

SCHWERPUNKT

Gemeinschaft und Gesellschaft

WICHTIGE DATEN

1651 Der englische Philosoph Thomas Hobbes beschreibt in Leviathan die Beziehung zwischen der Natur des Menschen und der Struktur der Gesellschaft.

1848 In Das kommunistische Manifest legen Marx und Engels die Auswirkungen des Kapitalismus auf die Gesellschaft dar.

1893 Émile Durkheim beschreibt in Über soziale Arbeitsteilung die Idee einer gesellschaftlichen Ordnung durch organische und mechanische Solidarität.

1904/05 Max Weber veröffentlicht Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus.

2000 Zygmunt Bauman führt den Gedanken der »verflüssigten Moderne« in einer zunehmend globalisierten Gesellschaft ein.

Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigten sich zahlreiche Wissenschaftler mit den gesellschaftlichen Folgen der Moderne und dem unaufhörlichen Wachstum der kapitalistischen Industriegesellschaft – unter ihnen die »Gründungsväter der Soziologie«, Émile Durkheim, Max Weber und Ferdinand Tönnies. Tönnies’ grundlegender Beitrag bestand in seiner Typenanalyse sozialer Gruppen, die er erstmals 1887 in seinem viel beachteten Werk Gemeinschaft und Gesellschaft veröffentlichte. Darin legte er eine fundamentale Unterscheidung zwischen traditionellen ländlichen Gemeinschaften und modernen Industriegesellschaften dar. Erstere zeichneten sich durch Familien, Kirchen und ähnliche Verbände aus. Diese kleineren Gemeinschaften hatten ein gemeinsames Ziel, und die Interaktion ihrer Mitglieder war von Vertrauen und Kooperation geprägt.


Sieg des »Willens«

In größeren Gesellschaften wie denen moderner Städte führten Arbeitsteilung und Mobilität zur Auflösung der traditionellen Verbände – an ihre Stelle trat die Gesellschaft. Hier waren Beziehungen unpersönlicher und oberflächlicher, zudem von individuellem Eigennutz statt gegenseitiger Hilfe geprägt.

In der Praxis existierten in jeder gesellschaftlichen Gruppe mehr oder weniger große Anteile der beiden Extreme Gemeinschaft und Gesellschaft. Allerdings führte, so Tönnies, der Ethos des Kapitalismus in der Industriegesellschaft zur Vorherrschaft der Interaktionsformen der Gesellschaft.

»Die naturgegebenen Verhältnisse sind … gegenseitig, … [Gemeinschaft] ist dort gleichsam von Natur früher als seine Subjekte oder Glieder.«

Ferdinand Tönnies

Zentrale Kategorie dieser Theorie ist der »Wille«, der das Handeln der Menschen motiviert. Tönnies unterscheidet zwischen einem »natürlichen Willen« (Wesenswille) – der etwas um seiner selbst willen, aus Gewohnheit oder auch aus moralischer Verpflichtung tut – und dem »rationalen Willen« (Kürwille), der ein bestimmtes Ziel verfolgt. Während den Gemeinschaften ein Wesenswille unterliegt, handeln Gesellschaften wie große Organisationen und Unternehmen nach einem Kürwillen. Dieser charakterisiert die urbane Gesellschaft des Kapitalismus.

Trotz seiner politisch linksgerichteten Haltung wurde Tönnies von Zeitgenossen eher als konservativer Denker betrachtet, der stärker den Verlust der Gemeinschaft in der Moderne beklagte und sich weniger für soziale Veränderungen stark machte. Ungeachtet des Respekts, den er sich unter seinen Kollegen erworben hatte, erlangten Tönnies’ Ideen folglich zunächst nur wenig Einfluss. Gleichwohl ebneten seine Theorie und Methodologie den Weg für die Soziologie des 20. Jahrhunderts. So klingt in Durkheims Gedanke einer organischen und einer mechanischen Solidarität der Kontrast zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft nach – und Max Weber griff Tönnies’ Willenskategorie als Motor für gesellschaftliches Handeln auf.

Ferdinand Tönnies


Ferdinand Tönnies kam in Schleswig-Holstein zur Welt. Nach Philologie- und Geschichtsstudien in Straßburg, Jena, Bonn und Leipzig promovierte er 1877 in Tübingen. Anschließend widmete er sich zunehmend politischen und sozialen Fragen. 1881 wurde er Privatgelehrter an der Universität in Kiel; aus politischen Gründen erhielt er erst 1913 eine Professur dort. Eine Erbschaft ermöglichte ihm bald, sich auf eigene Forschungen zu konzentrieren. 1909 wurde er Mitbegründer der deutschen Gesellschaft für Soziologie. Seine Sympathien für die Sozialdemokratie und öffentliche Stellungnahme gegen den Nationalsozialismus führten 1931, drei Jahre vor seinem Tod, zu seiner Entlassung aus dem Universitätsdienst.

Hauptwerke

1887 Gemeinschaft und Gesellschaft

1922 Kritik der öffentlichen Meinung

1931 Einführung in die Soziologie

Big Ideas. Das Soziologie-Buch

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