Читать книгу Big Ideas. Das Soziologie-Buch - Маркус Уикс - Страница 3
ОглавлениеEINLEITUNG
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Im Verlauf unserer gesamten Entwicklung haben wir stets in Gruppen gelebt und gearbeitet. Sie wurden mit der Zeit immer größer und komplexer – von Familien über Sippen und Stämme, Dörfer und Städte bis hin zu Nationalstaaten. Unsere Neigung, zusammen zu leben und zu arbeiten, brachte uns dazu, Gemeinschaften zu bilden, die im Zuge unserer wachsenden Kenntnisse und technologischen Fortschritte immer größer wurden. Die Art der Gesellschaft, in der wir leben, beeinflusst wiederum unser soziales Verhalten und wirkt in alle Aspekte unseres Lebens hinein.
Die Soziologie erforscht das Verhalten des Menschen in Gruppen und, umgekehrt, ihre Rückwirkung auf das Individuum – etwa, wie Gruppen gebildet werden, welche Dynamiken sie antreiben, wie diese Dynamiken zum Erhalt oder zur Veränderung der Gruppe und so zum sozialen Wandel beitragen. Heutzutage reicht die Bandbreite der Soziologie von der theoretischen Analyse sozialer Prozesse, Strukturen und Systeme bis hin zur Anwendung dieser Theorien im Rahmen von Sozialpolitik. Und da Gemeinschaften sich aus Individuen zusammensetzen, besteht unweigerlich eine Verbindung zwischen den Strukturen der Gesellschaft und dem Verhalten ihrer einzelnen Mitglieder. Soziologen können deshalb neben den Institutionen und Organisationen der Gesellschaft einzelne Gruppen und Schichten darin oder auch die Interaktionen und Erfahrungen von Individuen betrachten.
»Die Soziologie wurde aus der modernen Begeisterung geboren, die Gesellschaft zu verbessern.«
Albion W. Small (1854–1926)
Es mag überraschen, dass die Soziologie eine verhältnismäßig junge Wissenschaft ist. Obwohl schon im alten China und Griechenland Philosophen die Existenz einer zivilen Gesellschaft und die Vorzüge einer sozialen Ordnung erkannten, dachten sie eher politisch als soziologisch: Sie fragten sich, wie eine Gesellschaft organisiert und regiert werden sollte, anstatt die Gesellschaft, die sie vorfanden, zu studieren. Und wie sich aus den antiken Gesellschaften die politische Philosophie entwickelte, so zeigt sich die Soziologie als Resultat grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen im Zeitalter der Aufklärung.
Insbesondere die technischen Neuerungen im Zuge der Industriellen Revolution veränderten die Produktionsweisen radikal und ließen rasant wachsende Industriestädte entstehen. Traditionelle Sicherheiten, wie sie etwa die Religion bot, wurden durch die Aufklärung infrage gestellt. Damit wurde nicht allein die Autorität der Kirche untergraben: Das sogenannte Zeitalter der Vernunft bedrohte auch die alte Ordnung der Monarchie und Aristokratie – und seine Forderungen nach repräsentativer Herrschaft führten in Amerika und Frankreich zu sozialen Revolutionen.
Gesellschaft und Modernität
Die Aufklärung schuf eine neue, moderne Gesellschaft, und als Antwort auf diese Transformation entwickelte sich Ende des 18. Jahrhunderts die Soziologie. Denker und Philosophen suchten die Natur der Moderne und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft zu verstehen. Einige beklagten den Zusammenbruch traditioneller Gemeinschaften und des sozialen Zusammenhalts von Familien und ländlichen Gemeinden. Sie hielten an den überkommenen Werten und Glaubenssätzen der Religion fest. Andere indes erkannten, dass nun neue soziale Kräfte am Werk waren, die die Gesellschaft neu ordnen, aber auch Spannungen erzeugen konnten.
Ganz im Geiste der Aufklärung suchten diese frühen sozialen Denker nach Wegen, die Gesellschaft objektiv zu untersuchen und eine wissenschaftliche Disziplin zu begründen, die sich von Geschichte, Politik und Philosophie unterschied. Die Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Astronomie und Biologie) waren bereits etabliert – und so war die Zeit reif für das Studium des Menschen und seines Sozialverhaltens.
Die Industrielle Revolution und der sie vorantreibende Kapitalismus begünstigten die Entwicklung der Ökonomie als Erste der neuen »Sozialwissenschaften«. Ihre Grundlagen legte 1776 Adam Smiths Werk Der Wohlstand der Nationen – Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. Etwa zeitgleich wurde auch die Soziologie begründet – durch Theoretiker wie Adam Ferguson und Henri de Saint-Simon sowie etwas später Auguste Comte, dessen Herangehensweise zur Erforschung der Gesellschaft das wissenschaftliche Fundament für die Soziologie als eigenständige Disziplin legte. Ihm folgten drei bahnbrechende Soziologen, deren Analyse und Interpretation des menschlichen Sozialverhaltens den Themenkatalog des Faches im 20. Jahrhundert und darüber hinaus bestimmen sollten: Karl Marx, Émile Durkheim und Max Weber. Jeder von ihnen sah einen anderen Aspekt der Moderne am Werk, durch den die soziale Ordnung geschaffen oder bedroht bzw. ein Wandel herbeigeführt wurde. Der materialistische Philosoph und Ökonom Marx konzentrierte sich auf das Wachstum des Kapitalismus und den daraus folgenden Klassenkampf, Durkheim nahm die Arbeitsteilung im Zuge der Industrialisierung unter die Lupe, und Weber betrachtete die Säkularisierung und Rationalisierung der modernen Gesellschaft. Alle drei fanden enthusiastische Anhänger, die bis heute die zentralen soziologischen Denkrichtungen beeinflussen.
»Die menschliche Natur ist … außerordentlich formbar … und reagiert genau, aber auf verschiedene kulturelle Bedingungen entsprechend unterschiedlich.«
Margret Mead
Eine Wissenschaft der Gesellschaft
Die Soziologie ist ein Produkt des Zeitalters der Vernunft, in dem rationales Denken und die Naturwissenschaften zunehmend den Ton angaben. Die ersten Soziologen achteten deshalb darauf, dass ihre Methoden als wissenschaftlich anerkannt wurden – keine leichte Aufgabe, bedenkt man das Objekt ihrer Untersuchung: das Sozialverhalten des Menschen. Comte schuf die Grundregeln der neuen Wissenschaft »Soziologie«: Sie basierte, wie die Naturwissenschaften, auf empirischen Ergebnissen. Marx bestand ebenfalls auf einer wissenschaftlichen Herangehensweise, und Durkheim errang wohl als Erster die Anerkennung der akademischen Welt für sein Fach.
Um wissenschaftlich zu sein, muss eine Forschungsmethode quantifizierbar sein – das bedeutet: Sie muss messbare Ergebnisse zutage fördern. Marx und Durkheim belegten ihre Theorien mit zahlreichen Fakten, Zahlen und Statistiken. Andere bestanden darauf, Sozialforschung müsse vornehmlich qualitativ sein. So verfolgte insbesondere Max Weber einen interpretatorischen Ansatz bei seiner Untersuchung des modernen Lebens und der Interaktionen und Beziehungen, die für den sozialen Zusammenhalt notwendig sind.
Obwohl anfänglich viele diesen Ansatz als unwissenschaftlich ablehnten, wurden die Methoden der Soziologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend interpretativ und kombinierten häufig quantitative und qualitative Forschungstechniken.
Soziale Reform
Für viele Soziologen ist Soziologie weit mehr als die objektive Erforschung der Gesellschaft und die Analyse und Beschreibung sozialer Strukturen und Systeme. Um die Gesellschaft, in der wir leben, zu verbessern, lassen sich soziologische Theorien (ähnlich wie naturwissenschaftliche) praktisch anwenden. So sahen im 19. Jahrhundert Marx und Comte die Soziologie als Instrument an, um das Funktionieren der Gesellschaft zu verstehen und sie verändern zu können. Ein berühmter Ausspruch von Marx, den sich seine vielen Anhänger zu Herzen nahmen, lautet: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.«
Durkheim, der politisch bei Weitem nicht so radikal war wie Marx, unternahm große Anstrengungen, damit sein Fach als akademische Disziplin anerkannt wurde. Dafür musste er den entsprechenden Autoritäten nicht nur die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit der Soziologie vor Augen führen, sondern auch ihre Objektivität – und das angesichts der politischen Unruhen, die seinerzeit schon über ein Jahrhundert lang in Europa tobten. Dieser Kampf im »Elfenbeinturm« der Wissenschaft (jenseits der realen Welt) beherrschte die Soziologie bis ins 20. Jahrhundert hinein. Doch indem Soziologen zunehmend eine interpretierende Haltung einnahmen, befürworteten sie auch eine Soziologie als Instrument für soziale Reformen.
»Aufgabe der Soziologie wie aller Wissenschaften ist es, Verborgenes zu enthüllen.«
Pierre Bourdieu
Dies zeigte sich v. a. bei marxistischen und anderen politisch links orientierten Soziologen. Nach dem Zweiten Weltkrieg untersuchten z. B. Charles Wright Mills und Michel Foucault die Macht in der Gesellschaft und ihre Auswirkungen auf das Individuum. Und auch andere Soziologen weiteten ihre Fragestellungen aus: von einer rein akademischen Untersuchung der Gesellschaft, wie sie ist, hin zu praktischen Implikationen für die Politik, um einen gesellschaftlichen Wandel in Gang zu setzen.
Institutionen und Individuen
Als Ausdruck wachsender Relevanz der Soziologie erfuhr das Fach in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr Akzeptanz und auch öffentliches Interesse. Und indem sich immer mehr Denker sozialen Fragen widmeten, weiteten sich die Themen innerhalb der Soziologie aus. Neben traditionelle Studien über die Strukturen und Systeme einer modernen Gesellschaft, die Kräfte des gesellschaftlichen Zusammenhalts und die Ursachen sozialer Spannungen traten Untersuchungen zu den Verbindungen der genannten Aspekte sowie zur Interaktion zwischen Individuen und sozialen Gruppen.
Vor rund 100 Jahren teilte sich die Soziologie, grob gesehen, in zwei Lager: jene, die ihren Gegenstand auf Makroebene betrachteten (also die Gesellschaft als Ganzes und ihre Institutionen im Auge hatten), und die Soziologen, die sich auf die individuelle Lebenserfahrung innerhalb der Gesellschaft und damit auf die Betrachtung der Mikroebene konzentrierten. Wenngleich diese Unterscheidung noch immer gültig ist, sehen Soziologen heute die enge Verbindung zwischen beiden Ebenen und viele arbeiten über in beiden Sphären angesiedelte Gruppierungen, etwa soziale Schichten, ethnische und religiöse Gruppen, Familien oder durch sexuelle Zugehörigkeit oder Orientierung definierte Gruppen.
Daneben reagiert die Soziologie auf den immer schnelleren Wandel. Seit dem Zweiten Weltkrieg wurden zahlreiche Konventionen zugunsten neuer sozialer Normen abgeschafft. Im Westen prangerten Bürgerrechts- und Frauenbewegungen die fehlende gesellschaftliche Gleichstellung der Rassen und Geschlechter an, und soziologische Theorien halfen mit, die Haltung zu Sexualität und Familie in der Gesellschaft zu verändern – ganz im Sinne Zygmunt Baumans, der sagt: »Die Aufgabe der Soziologie ist es, dem Individuum zu helfen. Wir stehen im Dienste der Freiheit.«
Das globale Zeitalter
Die technologischen Erneuerungen zogen mindestens einen ebenso großen sozialen Wandel nach sich wie einst die Industrielle Revolution. Zunehmende Automatisierung und Computerisierung, die wachsende Dienstleistungsindustrie und Konsumgesellschaft – sie alle tragen zu der Gesellschaft, in der heute viele leben, bei. Während einige Soziologen sie als Fortsetzung des Modernisierungsprozesses betrachten, sehen andere sie als Indiz für den Beginn des postmodernen, postindustriellen Zeitalters.
Fortschritte in der Kommunikation und Mobilität lassen die Erde zudem schrumpfen. In jüngster Zeit wenden sich Soziologen daher Fragen kultureller und nationaler Identität sowie den Auswirkungen der Globalisierung zu. Wachsende Internetkommunikation und immer mehr Fernreisen lassen neue soziale Netzwerke entstehen: Sie kommen ohne persönliche Begegnung aus und bringen dennoch Individuen und Gruppen auf eine Art und Weise zusammen, die noch vor 50 Jahren unvorstellbar war. Und moderne Technologien liefern der Soziologie neue Instrumente zur Erforschung und Analyse dieser neuen sozialen Strukturen.
»Die wahre politische Aufgabe in einer Gesellschaft wie unserer ist es, die Funktion der scheinbar neutralen und unabhängigen Institutionen … zu kritisieren und gegen sie anzugehen …, sodass man sie bekämpfen kann.«
Michel Foucault