Читать книгу Big Ideas. Das Soziologie-Buch - Маркус Уикс - Страница 29
ОглавлениеEIN GEFÜHL VOM EIGENEN PLATZ IN DER GESELLSCHAFT
PIERRE BOURDIEU (1930–2002)
IM KONTEXT
SCHWERPUNKT
Habitus
WICHTIGE DATEN
1934 Die Arbeiten des französischen Soziologen und Anthropologen Marcel Mauss zu Körpertechniken legen den Grundstein für Bourdieus Habitus-Konzept.
1958 Max Weber konstatiert: Wer zu einem bestimmten Kreis gehören möchte, von dem wird man einen bestimmten Lebensstil erwarten.
1966 Der englische Historiker E.P. Thompson sagt: Klasse ist »eine Beziehung, die stets in realen Menschen und in einem realen Kontext eingebettet sein muss«.
2003 Die US-amerikanische Kulturtheoretikerin Nancy Fraser sagt: In der kapitalistischen Gesellschaft wirken zwei interagierende Systeme der Unterordnung – die Klassenstruktur und die Statusordnung.
Wie Marx, Durkheim, Weber und Parsons wollten auch andere Soziologen verstehen, wie sich das gesellschaftliche Klassensystem reproduzierte – zunächst in der Annahme, es sei strukturell an die Ökonomie, an das Privateigentum sowie an finanzielles Vermögen gebunden.
Doch in den 1970er-Jahren zeigte Pierre Bourdieu in Die feinen Unterschiede ein weitaus komplexeres Geflecht: Eine gesellschaftliche Klasse bestimmt sich nicht allein durch die Ökonomie, so Bourdieu, »sondern durch den Habitus, der normalerweise mit einer Position einhergeht«. Ein ähnliches Konzept hatte erstmals im 13. Jahrhundert Thomas von Aquin vorgestellt. Der italienische Theologe sagte: Die Dinge, die Menschen mögen, und die Art, wie sie sich verhalten, sind so, weil sie sich für eine bestimmte Art von Person halten. Jeder von uns hat Vorlieben – anders gesagt: einen bestimmten Habitus.
»Der Habitus ist das in den Körper eingegangene Soziale.«
Pierre Bourdieu
Bourdieu weitete diesen Gedanken deutlich aus. Er definierte den Habitus als eine Reihe gesellschaftlich erworbener Neigungen, die eine Person dazu bringen, ihr Leben auf ähnliche Weise zu verbringen wie andere Mitglieder ihrer Gruppe oder Klasse. Sie »weiß«, ob etwas »anmaßend« oder »kitschig« ist – während Mitglieder einer anderen Klasse dieselben Dinge als »schön« und »umwerfend« empfinden. Ein Kind lernt von den Eltern, später in der Schule und in der sogenannten Peergroup, wie es sprechen und sich verhalten soll. Auf diese Weise, sagt Bourdieu, »schreibt sich die gesellschaftliche Ordnung fortschreitend in die Köpfe der Menschen ein«.
Klassenneigungen
Bei seinen Studien zu den Klassenunterschieden in Frankreich stellte Bourdieu in den 1960er-Jahren fest, dass Angehörige derselben Klasse auch kulturelle Werte teilten: Dinge, die sie wussten und schätzten, die Art, wie sie sprachen, die Wahl ihrer Kleidung sowie ihre Meinung zu Kunst, Freizeit, Unterhaltung usw. Die französische Oberklasse etwa las gern Lyrik, Philosophie- und Politikbücher; sie sah bevorzugt klassische oder Avantgarde-Theaterstücke, ging in Museen und Konzerte klassischer Musik – und sie liebte Camping und Bergsteigen.
Angehörige der Arbeiterklasse lasen gern Romane und Zeitschriften, wetteten, besuchten Boutiquen und Konzerte – und liebten Luxuslimousinen. Die jeweilige Auswahl war relativ begrenzt und wurde weniger von den Kosten als vielmehr vom Geschmack bestimmt. Menschen, die zu einer bestimmten Klasse (oder zu einer Fraktion einer Klasse) gehörten, fand Bourdieu heraus, hatten denselben Geschmack, weil sie dieselben Neigungen, denselben »Habitus« an den Tag legten. Und das Bewusstsein dieses Habitus ließ sie ein Gefühl vom eigenen Platz in der Gesellschaft empfinden: Sie »passten« in diese oder jene Klasse.
Fuchsjagd ist ein Zeitvertreib, der manchen aufgrund ihres Habitus natürlich vorkommt. Dieselbe Tendenz lässt indes andere Aktivitäten, z. B. Karaoke, merkwürdig erscheinen.
Das Ausdrücken einer Meinung, z. B. über ein Kunstwerk, vermittelt dem Zuhörer Informationen, die es ihm ermöglichen, das kulturelle Kapital des Sprechers und seine gesellschaftliche Zugehörigkeit zu bestimmen.
Die Konstruktion des Habitus hängt nicht vom Individuum oder seiner Umgebung ab, sondern entsteht durch das Zusammenspiel des Subjekts mit den Strukturen und Institutionen seiner Umgebung. Individuen werden in einer sozialen Umgebung geboren, die sich durch einen bestimmten Lebensstil – von Bourdieu »Habitus« genannt – auszeichnet. Gruppen innerhalb der Klassen entwickeln ebenfalls einen Habitus, der sie von anderen Gruppen unterscheidet. Ein Gruppenhabitus schreibt sich in ähnlicher Weise in die Neigungen und Gesten eines Individuums ein. Die soziale Klasse lässt sich an der Art, wie jemand geht, spricht und lacht, ablesen und zwar in erster Linie, weil er bzw. sie in einem Umfeld mit bestimmtem Gruppenhabitus aufgewachsen ist.
Der Habitus, verstanden als innere Verankerung von Neigungen einer Gruppe, zu der wir gehören, stattet uns mit einem Gefühl für die Art von Person aus, die wir sind, und für das, was Menschen wie wir denken, fühlen und tun ebenso wie für das, was sie wie tun sollten. Er verleiht uns ein »Gefühl vom eigenen Platz in der Gesellschaft«, da das internalisierte Selbst sich perfekt in die Struktur dieser Welt einfügt. Begibt sich jemand in ein anderes soziales »Feld« (in andere Institutionen und Strukturen), dann fühlt er/sie sich auf Schritt und Tritt »wie ein Fisch an Land«.
Formen des Kapitals
Bourdieu sieht den Habitus eines Menschen aus verschiedenen Arten (ökonomischem, kulturellem und sozialem) Kapital zusammengesetzt – aus »einer Reihe von effektiv brauchbaren Ressourcen und Kräften«, wie er sagt. Mit ökonomischem Kapital sind finanzielle Mittel und Eigentum gemeint. Das kulturelle Kapital besteht aus der Fähigkeit, das »Kulturspiel« zu spielen, d. h. Verweise und Bezüge in Büchern, Filmen, Theater usw. zu erkennen und zu wissen, wie man sich verhält (z. B. in Gesprächen bei Tisch), was man wann und wie anzieht – und selbst, wie man auf jemand anderen herabsieht. Da der Habitus einer Person diese als Angehörige einer Klasse (oder Fraktion bzw. Gruppe) definiert, trägt er entscheidend zur Grenzziehung innerhalb der sozialen Ordnung bei.
Bourdieu zufolge zeigt sich der Habitus oftmals in »klassifizierenden Urteilen«, die über Dinge (z. B. Gemälde) gefällt werden, dabei aber vor allem die Person, die spricht, einordnen. Bezeichnet jemand ein Gemälde als »nett« oder »passé«, erfahren wir kaum etwas über das Kunstwerk, dafür umso mehr über die Person und ihren Habitus.
Zudem verfügen wir über ein »soziales Kapital«: menschliche Ressourcen – Freunde, Kollegen usw. – aus unseren sozialen Netzwerken. Diese Beziehungen geben uns ein Gefühl gegenseitiger Verpflichtung und gegenseitigen Vertrauens und bieten uns bisweilen Zugang zu Einfluss und Macht. Der Gedanke des Sozialkapitals offenbart sich in modernen sozialen Netzwerkplattformen wie Facebook und LinkedIn. Sie stellen dem Individuum Möglichkeiten bereit, sein Sozialkapital zu erweitern.
Darüber hinaus sah Bourdieu ein wissenschaftliches (intellektuelles Wissen) und ein linguistisches Kapital (sprachliche Souveränität) sowie ein politisches Kapital (der Status innerhalb der politischen Welt) bei der Bestimmung der Klassenzugehörigkeit am Werk.
»Die wissenschaftliche Analyse [belegt] den sozialisationsbedingten Charakter kultureller Bedürfnisse.«
Pierre Bourdieu
Das Klassenspiel
Der von Marx beschriebene Klassenkampf lässt sich mit Bourdieus Begriffen auf individueller Ebene nachzeichnen: Zunächst entwickelt eine Person Beziehungen innerhalb der eigenen Klasse (Familie und Schule), bevor sie sich in verschiedene soziale Arenen oder »Felder« begibt (Institutionen und gesellschaftliche Gruppen), in denen Menschen permanent ihren Habitus zum Ausdruck bringen und reproduzieren. Ob jemand in einem dieser Felder erfolgreich ist oder nicht, hängt vom Typus seines Habitus und seines Kapitals ab.
Jedes soziale Feld hat seine Regeln, die den Gruppenhabitus widerspiegeln. Menschen erkennen einander ihr »symbolisches Kapital« und dessen Wert innerhalb des Feldes an. Das symbolische Kapital repräsentiert die Summe aller anderen Kapitalformen eines Mitglieds und drückt sich in Prestige, Ruf und sozialem Rang einer Person aus. Im Laufe des Lebens setzen Menschen ihre verschiedenen Arten von Kapital ein und entwickeln »Strategien«, mit denen sie um weiteres Kapital, um Macht usw. konkurrieren. Die spezifischen Strategien werden durch den jeweiligen Habitus bestimmt – auch wenn sich kaum jemand über das Ausmaß bewusst ist, in dem seine/ihre Handlungen von den jeweils erlernten Neigungen bestimmt wird.
»Wer von Chancengleichheit spricht, vergisst, dass gesellschaftliche Spiele … keine ›fairen Spiele‹ sind.«
Pierre Bourdieu
Die Möglichkeit der Veränderung
Da Bourdieus Konzept des kulturellen Kapitals so schwer auf dem permanent reproduzierten Habitus ruht, scheint er wenig optimistisch hinsichtlich der Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung zu sein. Und doch ist der Habitus durch verschiedene Kräfte innerhalb eines Feldes offen für Veränderung.
Das Zusammenspiel von Institutionen und Individuen verstärkt üblicherweise bestimmte Ideen. So ist es für jemanden aus einer unteren Klasse möglich, kulturelles Kapital zu gewinnen, z. B. durch den Besuch einer »guten« Schule. Dadurch lässt sich das eigene ökonomische Kapital vergrößern: Die Kinder können auf eine Privatschule gehen und vom vergrößerten ökonomischen und kulturellen Kapital und einem veränderten Habitus profitieren. Für Bourdieu sind die Kapitalarten untereinander verbunden: Wir konvertieren unser ökonomisches Kapital in kulturelles oder soziales, um unsere Lebensbedingungen und Chancen zu verbessern.
Bourdieus Kategorie des Habitus hat in den letzten Jahrzehnten einen erheblichen Einfluss auf soziologische Debatten gezeigt – denn wie kaum eine andere reflektiert sie das Ausmaß, in dem gesellschaftliche Strukturen und Prozesse das beeinflussen, was wir zunächst für individuelle und persönliche Neigungen halten.
Pierre Bourdieu
Pierre Bourdieu wurde 1930 in einem Dorf im Südwesten Frankreichs geboren. Ein Lehrer entdeckte sein Talent und empfahl ihn zum Schulwechsel nach Paris. Anschließend studierte Bourdieu an der École Normale Supérieure Philosophie. Während des Algerienkriegs (1956–1962) lehrte er an der Universität in Algier und unternahm zahlreiche ethnografische Studien, die er 1958 veröffentlichte. Zurück in Frankreich, wurde er Direktor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris und begann seine glänzende Karriere als Sozialwissenschaftler. Da er den Grundsatz vertrat, die Forschung müsse sich in praktischem Handeln niederschlagen, nahm er an zahlreichen politischen Protestaktionen gegen soziale Ungerechtigkeit teil. Bourdieu starb 2002 in Paris.
Hauptwerke
1970 Zur Soziologie der symbolischen Formen
1972 Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft
1979 Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft