Читать книгу Kursverlust - Marlen Albertini - Страница 14
LAKIN UND DIE WAHRHEIT
Оглавление»Wissen Sie, Herr von Lakin, ich habe tagtäglich mit vielen Menschen zu tun. Die meisten haben außer einer gebrochenen Biografie nicht viel zu bieten. Meine Erwartungshaltung ist daher nicht sonderlich hoch.« Trompt dreht ungeduldig an seinem Kugelschreiber, fletscht etwas seltsam mit den Zähnen und atmet tief . »Aber ...«, raunzt er und macht eine kurze Pause, »... ich erwarte zumindest Antworten auf meine Fragen. Ansonsten kommen wir hier nicht weiter. Sie müssen doch wissen, was Sie in den vergangenen drei Jahren gemacht haben? Sie müssen es mir sagen!«
Georg von Lakins leerer Blick gleitet in Richtung der beiden großen Fenster. Gerade so, als erhoffe er sich von ihnen den so dringend notwendigen Beistand. Langsam dreht er den Kopf und lässt den Blick über Trompts Schreibtisch gleiten. Dort hat alles seine Ordnung. Wenigstens dort. Trompts akribisch angeordnetes, beamtentypisches Sammelsurium trägt tatsächlich dazu bei, seinen Gedanken wieder mehr Klarheit zu verschaffen.
Abrupt hebt er den Kopf und schaut dem Fallmanager erstmals geradewegs und offen ins Gesicht. Die Blicke der beiden so unterschiedlichen Männer treffen sich: Augenblicke zweier Menschen, deren Lebensläufe unterschiedlicher nicht sein könnten. Doch bilden sie an diesem Punkt eine Art Schicksalsgemeinschaft mit beiderseitiger Hoffnung und Erwartung. Er, Lakin, wünscht sich, möglichst menschenwürdig aus der Sache herauszukommen und natürlich ein wenig Glück in Hinblick auf den Katalog der Anforderungen, die nun an ihn gerichtet werden. Trompts Erwartungen hingegen liegen in der möglichst erfolgreichen Vermittlung einer verkrachten Existenz. Das sichert seinen Arbeitsplatz. Vielleicht bringt es ihm sogar eine Beförderung.
»Wenn Sie nicht mitarbeiten, sieht es nicht gut aus.« Mit rüden und lauten Worten reißt Trompt ihn aus seinen Überlegungen. »Sie erhalten dann keine Leistungen zum Lebensunterhalt und ...« Trompts Stimme stockt für einen Moment, bevor er fortfährt. »Ich kann Ihnen dann nur die Adresse von einem Wohnheim für Obdachlose sowie ein paar Lebensmittelgutscheine offerieren.«
Etwas verlegen spielt Trompt wieder am Kugelschreiber herum und vermittelt den Eindruck, als bedaure er die vorgetragenen Sanktionen zutiefst. Jene Verordnungen, die er als Beamter mit Leib und Seele, der er zweifelsfrei ist, stets penibel und genauestens einzuhalten hat. Er tut mir leid, dieser Trompt, denkt Lakin. Was hat er doch für ein lausiges Leben. Er kann über Schicksale entscheiden, ja, das kann er wohl. Doch er trägt auch die Last, wenn seine Bemühungen nicht fruchten. Er nagt an einer Macht, die ihm die Drecksarbeit überlässt, während andere die Früchte ernten. Dennoch – Lakin fahren die Worte des Fallmanagers durch Mark und Bein.
Der Typ hat recht, gesteht er sich ein. Ich bin nichts weiter als ein Landstreicher in Nadelstreifen. Ein Blender, ein Betrüger, ein jämmerliches Nichts. Dazu völlig pleite, ohne Wohnsitz, ohne Freunde und im Bewusstsein, alle Beziehungen verspielt zu haben. Er hat den Kurs verloren. Das wird ihm in diesem Moment vollends bewusst. Nicht etwa nur den Kurs irgendwelcher Aktien oder sonstiger vermögensrelevanter Anlagen, sondern den Kurs seines Lebens. Lakins Gesichtszüge nehmen plötzlich eine Entschlossenheit an, welche er in den vergangenen Jahren für verloren hielt. Sein Blick in Trompts Augen verfestigt sich weiter. Dann endlich spricht er sie aus, jene Worte, von denen er annahm, dass er sie niemals, wirklich niemals über die Lippen bekommen würde.
»In den letzten drei Jahren war ich ...«. Lakin pausiert, schluckt und atmet nochmals tief durch. »Ich komme aus dem Knast. Die letzten drei Jahre war ich in der JVA Niederplaunstein inhaftiert.« Die eben geäußerten Worte hallen in ihm nach wie das Echo eines Kanonenrohrs. Seine schweißnassen Hände krallen sich nun so tief in den kratzigen Stoff seiner Hose, dass es ihm geradezu Schmerz bereitet.