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01. It Ain´t Over Till It´s Over (Lenny Kravitz)

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Die bleierne Tür zum inneren Bezirk öffnet sich ohne ein Geräusch. Siegfried van Bowdendonk tritt mit selbstzufriedenem Gesichtsausdruck in die mit kaltem Neonlicht erfüllte Sicherheitsschleuse. Routiniert schlüpft er in den Vakuumanzug aus gelbem Gummi. stülpt die Arbeitshandschuhe über seine Hände und prüft, ob der luftdichte Verschluss auch wirklich eingerastet ist. Dann betätigt er den Türöffner auf der anderen Seite der Schleuse und betritt den Korridor des inneren Bezirks. Etwa vierhundert Fuß unter der amerikanischen Erde hat Siegfried seine Labors angelegt, in denen mit allem experimentiert wird, was das Kriegswaffenkontrollgesetz verbietet.

Sofort tritt Kuno, Siegfrieds buckliger Diener, herbei und grüßt seinen Meister mit einer tiefen Verbeugung. „Wie geht es unserem Gast?“ erkundigt sich Siegfried. „Den Umständen entsprechend. Wir haben Galaktoman seiner Superkräfte beraubt und ihn mit Pentothal betäubt. Er hängt gefesselt mit den Füßen nach oben über der Öffnung des Materiedesintegrators. Noch ein paar Minuten und das Narkotikum hört auf zu wirken. Chef, ich will nicht drängeln, aber wir sollten den Kerl so schnell wie möglich materiedesintegrieren.“ Siegfried ignoriert Kunos Worte. Mit triumphierendem Schritt geht er den Korridor entlang auf eine gelb-schwarz gestreifte Tür zu. Er tippt einen Code in das Zahlenschloss neben der Tür, worauf eine sinnliche Frauenstimme „Willkommen“ haucht und die Tür nach oben wegzischt.

Siegfried blickt in eine dreißig Meter hohe Höhle von der Größe eines Fußballfeldes. Der Boden ist mit weißer Keramik ausgelegt, an einigen Stellen zeigen sich schwarze Flecken von Fledermauskot. In der Mitte der Höhle gähnt ein Loch im Boden, aus dem das gelbe Licht des Materiedesintegrators dringt. Die Maschine ist eine von Siegfrieds zahllosen infernalischen Erfindungen. Alles was darin landet, wird in seine Elementarteilchen zerlegt und nach Protonen, Neutronen und Elektronen sortiert gelagert. Über dem Schlund des Materiedesintegrators hängt kopfüber ein Mann von etwa 45 Jahren. Nichts deutet mehr darauf hin, dass es sich um den Superhelden Galaktoman handelt.

Das gelblich grüne Licht, das aus dieser Öffnung dringt, lässt Galaktomans Gesicht ungesund fahl erscheinen. Galaktoman hat sein kobaltblaues Leuchten verloren, weil ihnSiegfried mit Glyptozin abgesprüht hat, der Substanz, die Galaktomans übernatürliche Kräfte zum Verschwinden bringt. Aus dem leuchtenden Schrecken der Unterwelt ist ein kraftloser Mann geworden, der mit einem Hozfällerhemd und Blue Jeans bekleidet ist. Weil Galaktoman kopfüber an der Kette hängt, sind die Beine der Jeans nach unten gerutscht und man erkennt einstmals weiße Puma-Socken, die ebenfalls mit der gelb leuchtenden Flüssigkeit getränkt sind, sodass sie wie vollgepisst aussehen.

Mit triumphierendem Schritt geht Siegfried um seinen gefesselten Erzfeind herum. Obwohl er erst vierzehn Jahre ist, hat er es geschafft, Galaktoman zu überwältigen. Nach einer Glyptozindusche war von Galaktomans Kräften nichts mehr übrig. Ihn mit einem Pentothalpfeil zu betäuben und dann in der geheimen Grotte aufzuhängen war ein Kinderspiel gewesen.

Lächelnd genießt Siegfried den Anblick des Superhelden, der über dem matt leuchtenden Schlund des Materiedesintegrators baumelt. Noch ist Galaktoman vom Pentothal betäubt. Alles was Siegfried in diesem Moment tun müsste, ist den Knopf zu drücken, der die Kette an der Grottendecke ausklinkt. Dann würde sein Erzfeind unweigerlich durch das Loch im Boden in den Schlund des Materiedesintegrators fallen. In wenigen Millisekunden hätte die Höllenmaschine den Superhelden in seine Elementarteilchen zerlegt.

Aber irgendetwas hält Siegfried zurück den Schalter zu drücken. Er hört eine Art Sirenengesang in seinem Kopf, der ihn dazu verführt zu warten, bis Galaktoman aufwacht, um dem Superhelden vor seinem Ableben ein für alle Mal die Meinung zu sagen. Als Siegfried van Bowdendonk den hilflosen Galaktoman kopfüber an der Kette hängen sieht, ist er sicher, alle Trümpfe in der Hand zu haben. Diesmal würde es für Galaktoman keine Rettung geben. Diesmal ist endlich Zeit für ein kleines Gespräch. Die Wahrscheinlichkeit, dass Galaktoman Siegfrieds selbstgefälligen Monolog nutzen könnte, um sich zu befreien und den Jungen ins Verderben stürzen, beträgt nicht einmal eins zu einer Million. Hinzu kommt, dass dies hier die Realität ist und kein vor Unlogik strotzender Superheldenfilm, in dem der Superschurke durch sein Gequatsche am Ende alles vermasselt.

Siegfried schaut auf den hilflosen Superhelden. Es erklingt ein tausendstimmiges „Freude, schöner Götterfunken“ in seinem Kopf. Die Musik wird immer lauter und triumphaler, je länger er Galaktoman betrachtet. Irgendwann findet Siegfried, das Vergnügen, dem arroganten Helden seinen Plan zur Übernahme der Weltherrschaft zu erläutern, sei ein kleines Risiko wert. Und mit jeder Sekunde wird sein Triumphgefühl übermächtiger.

In wenigen Augenblicken würde er dem Superhelden in den Arsch treten, der seinen Vater auf dem Gewissen hatte. Das heißt, es würde gar kein Arsch zum Treten da sein, es würde überhaupt nichts mehr von Galaktoman da sein. Die kosmische Kraft, die in Galaktomans Körper gebündelt war, würde die Startenergie liefern, um den Materiedesintegrator in eine Waffe von unerreichter Vernichtungskraft zu verwandeln.

In diesem Augenblick beginnt Galaktoman zu blinzeln und seine Gesichtsmuskeln zucken wie bei einem Teenager, der sein erstes Drogenexperiment hinter sich hat. Galaktoman hustet und würgt, dann kotzt er seinen Mageninhalt in die Öffnung des Materiedesintegrators. Einen Augenblick später dringt ein Lichtblitz aus der Öffnung im Boden und ein heißer Luftstrom aus der Tiefe stellt Galaktomans Haare auf. „Ich hoffe, du hängst bequem, Galaktoman,“ ruft Siegfried dem Superhelden zu, während er mit großen schnellen Schritten um seinen Gefangenen herumschreitet.

Eine Zeitlang herrscht Schweigen. Dann hört Siegfried Galaktoman sagen: „Hey, das ist doch der Junge mit den Pickeln im Gesicht und den fetten schwarzen Haaren, die so aussehen, als wären sie mit Talg auf den Kopf gepappt. Du hast mir doch immer die Zeitung gebracht.“ Siegfrieds böses Lachen hallt von den Wänden der Grotte wider. „Nachdem ich deine geheime Identität aufgespürt hatte, war alles ein Kinderspiel. In eurer geheimen Identität seid ihr Superhelden so arglos wie Rentner auf einer Kaffeefahrt. Ich frage mich heute, warum ich dir nicht auch noch eine Rheumadecke angedreht habe.“ Mit beträchtlicher Mühe dreht sich Galaktoman um seine Achse, sodass er Siegfried im Auge behält. „Wie hast du mich gefunden?“ will er wissen. „Du ziehst kosmische Energie an. Das erzeugt kleine Anomalien in der Frequenz von Neutrinoeinschlägen in deiner Umgebung. Mit einem Glas Wasser und einem geringfügig manipulierten iphone kann man das messen. Damit findet man dich wie man eine Kerze findet, die auf einem Baumstumpf in einem dunklen Wald brennt. Der Rest war einfach. Einer meiner Männer legte ein Feuer im Nachbarhaus. Die anderen kamen als Feuerwehrleute verkleidet angebraust. In dem Moment, als du vor die Tür tratest, um zu sehen, was los ist, sprühten wir dich mit der Glyptozinlösung ein, die im Tank des Spritzenwagens untergebracht war. Dich mit Pentothal zu betäuben und hierher zu bringen, war danach kinderleicht.“ Siegfried wendet sich von Galaktoman ab und geht auf ein Kontrollbord zu, dass sich wenige Schritte von der Bodenöffnung entfernt befindet. „Entschuldige, aber jetzt muss ich mich sputen, denn wie du sicher weißt, ist Glyptozin photochemisch instabil.“ „Photochemisch instabil?“ fragt Galaktoman mit einer weiteren zuckenden Bewegung. „Oh mein Gott, ihr Superhelden habt ja nicht die blasseste Ahnung von den Naturwissenschaften. Aber warum sollte euch auch eine Natur interessieren, deren Gesetze ihr ständig außer Kraft setzt? Photochemisch instabil bedeutet, dass sich Glyptozin am Licht zersetzt und dabei Schwefelsäure frei wird.“ „Ach, tut es das?“ fragt Galaktoman hämisch und mit einer weiteren Wendung seines Körpers.

Obwohl es ziemlich anstrengend sein muss, sich kopfüber an einer Kette hängend im Kreis zu drehen, lässt der Superheld Siegfried nicht aus den Augen.

„Äh, Siegfried, eine Frage noch, die du mir, so wie ich euch Superschurken kenne, gerne beantworten wirst: Wozu das alles?“ fragt Galaktoman matt. „Der Nebengrund ist, dass du Schweinehund meinen Vater ermordet hast. Errinnerst du dich nicht an Arnold van Bowdendonk?“ „Arnie van Bowdendonk war dein Vater? Junge das tut mir Leid. Aber er war im Begriff die Welt zu zerstören und hatte eine Strahlenwaffe auf mich gerichtet. Wenn ich nicht gewonnen hätte, könnten wir beide jetzt nicht dieses Gespräch führen.“ Ich soll mich bedanken, dass er meinen Vater umgebracht hat, denkt Siegfried. Perverses Schwein. „Auf jeden Fall hast du die Waffe umgepolt, als mein Vater seinen Monolog hielt und dir seinen Plan erklärt hat“, schreit Siegfried. „Du sagst es doch selbst“, erwidert Galaktoman, „ich habe nur in einem unbeobachteten Moment die Waffe umgepolt. Er hat sich selber damit erschossen.“ „Wie dem auch sei, heute wirst du dafür büßen, Galaktoman“. schreit Siegfried außer sich vor Zorn. „Und der Hauptgrund?“ fragt Galaktoman nach einer Pause. Und wieder dreht er seinen Körper unter größter Anstrengung. „Ach ja, der Hauptgrund“, erwidert Siegfried. „Ich brauche die Elementarteilchen, die dein Körper im Laufe der Jahre eingefangen hat, um meine Spezialwaffe zu aktivieren. Du bist eine Art lebendige Batterie. Sobald du dich im Materiedesintegrator in deine Elementarteilchen zersetzt hast, werde ich über die Energie des Kosmos verfügen. Die Russkis werden mir alle Diamanten Sibiriens geben, damit ich ein paar amerikanische Großstädte einäschere. Die Amis werden das Gold in Fort Knox für die umgekehrte Dienstleistung lockermachen. Aber ich scheiße auf das Geld. Ich will die Weltherrschaft und Rache für meinen Papa.“ Siegfried schreit die beiden letzten Sätze so laut, dass die Fledermäuse an der Grottendecke verängstigt aufflattern. Erschrocken schaut er nach oben. Als er gleich darauf wieder zum hängenden Galaktoman schaut, rutscht sein Herz ein Stückchen Richtung Hosenboden. Galaktoman hat die Hände frei, aus der Stahlkette, die seine Hände fesselte, ist ein bräunliches Stück Rost geworden, das im Schlund des Materiedesintegrators verschwindet.

Siegfried könnte sich ohrfeigen, dass er so dumm war zu warten, bis die aus dem Glyptozin entstehende Säure Galaktomans Fesseln verätzt. Mit Entsetzen sieht er, dass auch die Fußfesseln leicht zu rauchen beginnen. Von Galaktomans weißen Pumasocken sind nur noch ein paar löchrige Fetzen übrig, und das Metall seiner Fußfesseln sieht mächtig korrodiert aus. „Kein Grund zur Sorge“, denkt sich Siegfried, Sobald die Säure die Fußfesseln durchgefressen hat, stürzt er in den Materiedesintegrator.“ Noch immer sind die Chancen des Helden schlecht. Er baumelt kopfüber oberhalb des Materiedesintegrators. Doch im selben Moment ertönt ein lauter Knall. Felsbrocken lösen sich krachend von der Grottendecke und fallen nach unten. Dreihundert Meter über der Grotte fallen die Tropfen eines Gewitterregens auf die Erde. Und nochmals tausend Meter weiter oben hat sich ein Blitz in einer Wolke entladen und ist über der Grotte in den Boden eingeschlagen. Siegfrieds Magen rutscht nochmals ein Stück nach unten. Die Triumphmusik in seinem Kopf ist mit einem Mal verstummt.

Beim nächsten Blitzeinschlag befällt ihn die Panik. Er hat sich verquasselt, so wie alle Superschurken. Das Wetter ist umgeschlagen, Galaktomans Fesseln rosten vor sich hin, und plötzlich hat Siegfrieds Gegner eine winzige Chance. Es ist, wie gesagt, nur eine winzige Chance, eine „ich weiß, es klingt verrückt, aber ...“-Chance. Dummerweise ist eine solche Chance alles, was Leute wie Galaktoman brauchen. Siegfried hastet zur Bedienkonsole, um endlich das zu tun, was er schon seit geraumer Zeit hätte tun sollen: Die Verankerung der Kette an der Grottendecke auslösen, um Galaktoman in den Materiedesintegrator zu stürzen. Weil seine Hände feucht sind und zittern, verfehlt Siegfried den roten Auslöseknopf.

Wieder schlägt über der Grotte der Blitz ein. Warum eigentlich muss immer während des Schurkenmonologs das Wetter umschlagen? Siegfried verkriecht sich unter der Bedienkonsole des Krans, um vor den Steinen geschützt zu sein, die von der Decke krachen.

Als er wieder nach Galaktoman schaut, verweigert sein Blasenschließmuskel vor Angst den Dienst. Siegfried van Bowdencomb, der hyperintelligente Superschurke, fühlt, wie eine warme Flüssigkeit seine Hosenbeine tränkt.

Siegfried sieht, wie die Kette blau aufleuchtet. Ein Blitz, der oben in den Boden eingeschlagen ist, jagt seine Energie von einem Metallglied zum nächsten. Das geschieht natürlich annähernd mit Lichtgeschwindigkeit, aber Siegfried kommt es so vor, als würde ein Kettenglied nach dem anderen bläulich aufleuchten, bis der Strom Galaktoman erreicht. Im gleichen Augenblick verwandelt sich der unscheinbare Mann im Holzfällerhemd zurück in den blau leuchtenden Superhelden Galaktoman. Der Starkstrom des Blitzes verleiht ihm Superkräfte, die auch der Wirkung des Glyptozins widerstehen. Einen normalen Menschen hätte der Blitzschlag gegrillt. Aber Galaktoman kommt dank der zwei Millionen Volt aus dem Blitz wieder zu Kräften, zu Superkräften, um genau zu sein.

Halb irre vor Panik rennt Siegfried los zum Ausgang der Grotte. Dabei nimmt er einen Geruch wahr, den er zuletzt vor zehn Jahren gerochen hatte. Damals hatte er sich geweigert, aufs Klo zu gehen, und seine Mutter hatte ihn eine Stunde in seiner Scheiße stehen lassen, weil sie es nicht einsah, einen Vierjährigen zu wickeln. Derselbe Geruch steigt in seine Nase, als er um sein Leben rennt. In seinem hermetisch dichten Gummianzug ist er mit seinen Körperausscheidungen eingesperrt.

Plötzlich fühlt er, wie zwei Hände ihn von hinten packen und langsam in die Luft heben.

Galaktoman hat Siegfried erwischt. Schmerzhaft fühlt Siegfried, wie sich Zeige- und Mittelfinger des Superhelden in seinen Achselhöhlen verkrallen. So hebt ihn Galaktoman in die Höhe und trägt ihn ganz gemächlich durch die Luft zur Öffnung des Materiedesintegrators. Einen Moment lang hält Galaktoman den Jungen über dem leuchtenden Schlund, dann lässt er los.

Siegfried fühlt, wie er fällt, erst langsam, dann immer schneller. Galaktoman sieht er durch die Öffnung im Grottenboden grinsen und winken. Dann umfängt ihn das grünliche Licht des Materiedesintegrators und Siegfried zerfällt in seine Elementarteilchen. Es ist ein Geräusch, als würde Luft durch ein Abflussrohr entweichen.

Siegfried Der Roman

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